Schlagwort: Ulrich Bergmann

In statu narrandi

  In statu narrandi. Ich gehe träumerisch durch mein Leben, das steht schon in meinem ersten Schulzeugnis. Ich sehe mich in den Dingen gespiegelt. Kein Gott ist so stark wie ich, nicht einmal der Allmächtige. Ich bin der größte anzunehmende…

Entnichtung

  Entnichtung. Mir starb der beste Freund, er schaute blind ins Leere zuletzt. Ich spürte, er hörte jedes Wort. Drei Tage vor seinem Tod bewegte er die Lippen tonlos zwei Sätze lang. Der Sterbende ist immer weniger der, der er…

Und wie ich mich so entferne

  Und wie ich mich so entferne, weiß ich schon gar nicht mehr, wo ich bin, sehe ich zu mir hinauf, oder sehe ich von oben auf mich herab, wie ich da unten stehe, so hell ins Schwarze hineingehalten, aber…

Zwischen Nichts und Nichts

  Die Hineingehaltenheit meines Seins in das Nichts sehe ich vor mir, ich sehe mich in der Schwärze der Nacht, ich bin weiß und leuchte in die Nacht beim Öffnen der Raumtür, ich weiß nicht, tu ich das selber oder…

Du schon da!

  Du schon da! Ich stehe auf dem Balkon. Hinter mir die Zinkwanne, ich habe sie bis oben hin mit Wasser gefüllt. Mit roten, weißen und blauen Ankerbausteinen baute ich ein Unterwasserschloss, mit Säulen, Toren und Fensterbögen. Die Bleisoldaten stehen…

Ichung

  Die Kugel durchdringt den Kern und wirft die Geißel ab, nun Kugel in der Kugel. Fischblase mit der türigen Wand vor dem Ich zwischen Arktis und Antarktis. Da schwimmt das Universum im Universum. Nord und Süd gehen ineinander, vertunneln…

Das Leben braucht uns nicht

  Das Leben braucht uns nicht, sagst du, der Satz ist tückisch, denn er suggeriert ein Subjekt über mir. Ich sage, ich bin das Leben, solange meine Sanduhr tickt, und ich werde nicht wahnsinnig wie Hölderlin an dem Gedanken, dass…

Begründe dein eigenes Glück

  „Begründe dein eigenes Glück!“, sprach eine Stimme über mir, ich drehte mich um und schaute hinauf. Das Fenster war halb geöffnet, das Holz der Fensterläden reflektierte die Stimme aus dem Innern. „Lebe deine Natur aus gegen den Irrsinn der…

Erster Schritt

  Jean Gionos Lächeln zu erwidern, fiel mir schwer. Er schaute, als er das Fenster öffnete, hinab in die Tiefe des Mittagsschattens, seine Augen fanden mich, und als er in die Schwärze seines Zimmers schräg über dem Eingang des kleinen…

Ein novellistisches Jahr

Die Novelle ist die Schwester des Dramas. Theodor Storm Im Jahr 2022 widmet sich KUNO ausführlich der literarischen Kunstform Novelle. Der Begriff kommt von dem italienischen Wort novella, was „kleine Neuigkeit“ bedeutet. Die Gattung lebt von der Schilderung der Realität…

Der Karthograph des Rheinlands

Heimat ist Vertrautheit. Ist ein mitgegebener oder aufgesuchter Bezugsraum. Etwas, das man sich vormacht oder etwas Vorgemachtes. Ein wie auch immer energetisches Zentrum für Exkursionen und Wiederkünfte, Fluchten und Bewahrungsbestrebungen. Heimat schafft Mentalität, sei es mittels Adaption oder mittels Abwehr.…

Dialektik

  Ich betrat den Minkowski-Raum. Ich suchte die Formel. Der Raum war leer. Kein Fenster, kein Licht. Aber ich sah sie – und Einstein sah mich. „Gott würfelt nicht“, sagte er, „die Quantentheorie ist nicht das Ei des Columbus, für…

Sprache ist Heimat

Mit dem Geburtsort wird auch die Muttersprache als Ursprung und Wiege des Ich gesucht, aber nur als eine ihm fremde gefunden. Letztendlich wird die gemeinsame Fremdheit von Fremd- und Muttersprache zu einer ausgewogenen – indes labilen – Vertrautheit. So wie…

Minestrone o Minestra?

  Sir Peter und Ich, diesmal in leichteren Gesprächsebenen … Well, sagt Er, ich könnte jetzt eine Kleinigkeit essen. – Wo du das sagst, sage Ich, bekomme ich auch Appetit. – Es gibt Minestrone, sagt Er. – Aha, Gemüsesuppe, nicht…

Über den Wert des Analogen

KUNO interessiert sich dafür, was sich nach Karl Kraus‘ Fackel entzündete Wir stellen auf KUNO von Zeit zu Zeit sehr gern Literaturzeitschriften vor, wie unlängst durch Maximilian Zander geschehen. Wir schätzen auch eine eine Lit.-ZS wie die Matrix, die sich…

Eine Postkarte, diesmal aus Leipzig

  Den 26. Oktober Dear Peter, Richard, mit dem ich soeben im Café Central eine Limonade trank, lässt Sie herzlich grüßen! „Sagen Sie Sir Peter, er soll sich nicht zu sehr mit Bach herumquälen. Die Inventionen, so hübsch ihre Ideen…

Kein Ankerplatz, nirgendwo

  Nomen est omen – der Titel ihres neuen Gedichtbands sagt schon viel: Fragen im Schlepptau. Ines Hagemeyer legt der Öffentlichkeit nach fünf Jahren neue Gedichte vor, die um alte Themen kreisen. Es sind die Fragen, die sie – und…

Bonn, ohne Datum. Am Schreibtisch

  Caro Signor Pirandello, in der Tat: ich begann vor 14 Jahren damit, meine Sündenfotos zu sammeln. Nicht wegen der Schönheit der Bildnisse, sondern … ich weiß nicht recht … ich ahnte, dass es eine Serie mit vielen sehr unterschiedlichen…

Bonn, 27.9. Am Neutor

  Lieber Damonte, haben Sie herzlichen Dank für Ihre Karte! Ihr ‚Selbstporträt‘ auf der Rückseite erinnert mich an die frühen ‚Grisailles‘ Gerhard Richters, die verschwommenen Porträts, die er in Schwarzweißtönen malte, etwa den RAF-Zyklus ‚18. Oktober 1977‘ – dagegen ist…

Bonn, 25.9. La Fontana

  Pirandello erwartete mich schon. „Signor Damonte“, rief er, „Sie haben La Traviata in Leipzig gesehen, stimmt’s?“ – „Woher wissen Sie …?“ – „Pschsch …“, machte er, „… egal! Sagen Sie, kennen Sie die Callas?“ – „Und ob!“, sagte ich,…

Dedicated to Sir Peter

  In der berühmten Weimarer Gelateria di Giancarlo gegenüber Schillers Haus bestelle ich gerade den ersten Espresso des Tages, da treffe ich – du wirst es kaum glauben, lieber Leser – Arthurs Mutter. „Bonjour, Madame Adèle!“ – „Parbleu, Signore Rico,…

Bonn, 14.9. La Fontana

  Caro Signor Pirandello, nun sind Sie wieder verreist, und schon fehlen Sie mir. Kaum waren Sie nach Sizilien aufgebrochen, stellte Ihr Vermieter einen Container vors Haus. Er baut seine Boutique um – in den nächsten Wochen entsteht dort eine…

Bonn, 11.9. La Fontana

  Lieber Felix, Pirandello ist wieder da! Er war verreist. Sizilien. Er hat dort eine Verlobte, davon weiß seine Verlobte in Bonn aber nichts. C’est la vie … honi soit qui mal y pense. Nun ist er also wieder in…

Bonn, 10.9. La Fontana

  Lieber Wolfgang, die Sonne scheint, die Wetterprognose jedoch verheißt volatile Himmelserscheinungen, und so hat die Bouquinistin des Bücherkarrens am Kaiserplatz geschlossen. Schlimmer noch: Pirandello schweigt. Er schläft noch, oder er hat sich in der Bibliothek des Romanischen Seminars verirrt,…

Bonn, 9.9. La Fontana

  Lieber Stefan, stell dir vor, Pirandello weiß alles! Ich war noch nicht vom Rad abgestiegen, ich bog gerade um die Ecke am Brunnen, da rief er über den ganzen Platz: „Sie wissen, wer heute Geburtstag hat?“ – Ich war…

Bonn, 8.9. La Fontana

  Lieber Herr Jo, je länger ich Voltaire lese, umso lieber wird er mir. Sein J’accuse im „Candide“ ist ja eher ein Je demande. Wenn er über die Unvollkommenheit der Welt klagt, über schlechte und böse Menschen, ihre Schwächen und…

Bonn, 7.9. La Fontana

  Lieber Herr Jo, ich las „Candide“ in einer alten Übersetzung, die ich mit meinem Handy ergoogelte, als ich im Café Fürst bei meiner Alma Mater das croissant de lune verzehrt hatte. Es ging mir gut. Ich befand mich in…

Bonn, La Fontana 6.9.

  Lieber Arthur, heute war ich sehr früh am Kaiserplatz, die Gelateria hatte gerade die Tische und Stühle unter den Kastanien aufgestellt, der Bücherkarren baute die Bücherkästen auf … aber Pirandello stand schon auf seinem Balkon und erwartete mich. „Signor…

Bonn, La Fontana 4.9.

  Lieber Stefan, die Banane ist krumm, und gelb – so gelb und krumm wie die Banane, die wir am Eingang zu den Museen sehen. Ich frage mich nicht, warum die Banane krumm ist, ich frage mich, warum sie zum…

Poeterey

Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen. Thomas Kling Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern.…

Bonn, Kaiserplatz 2.9.

  Lieber Herr Jo, heute scheint die Sonne nicht, sie steckt in den Wolken eines trüben Himmels – als wäre sie nicht da. Und Pirandello erscheint auch nicht. Wahrscheinlich ist er im Romanischen Seminar, versteckt in der Bücherwelt, wo er…

Bonn, 30.8.

  Caro Stefano, Er stand schon auf seinem Balkon, mein Pirandello, als ich vom Fahrrad stieg. Ich band mein Peugeot-Rad ans Geländer der Kaiserplatzwiese und setzte mich an den Tisch der Gelateria in der Sonne, die gerade über der Spitze…

Bonn, La Fontana 25.8.

  Cher Monsieur, heute bestellte ich zum Cafè eine Kugel Pistazien-Eis, schlug das Reclamheftchen auf, das ich im Offenen Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee fand – und schon stand Er wieder auf dem Balkon, ich sah’s aus dem Augenwinkel. „Was…

Bonn, La Fontana 24.8.

  Lieber Stefan, der albanische Kellner stellt den Espresso auf den Tisch, ich sage: „Faleminderit“ – das heißt Dankeschön, er lächelt und geht, ich setze das Tässchen an die Lippen und will den ersten Schluck nehmen, da tritt Pirandello auf…

Bonn, Café Fürst 23.8. p. m.

  Lieber Herr Jo, eben noch blendete mich die Sonne, mir wurde heiß, und ich setzte mich an einen anderen Tisch unter die Kastanien, da fing es an zu nieseln, ich saß noch eine Weile im Trocknen, die Blätter über…

Bonn, La Fontana 23.8. a. m.

  Lieber Wolfgang, ich unterhalte mich täglich mit Pirandello, er unterhält sich täglich mit mir. Er weiß noch nicht, dass er die Sechs Personen suchen einen Autor schreiben wird. Ich weiß es schon jetzt. Wenn ich mich auf dem Kaiserplatz…

Bonn, Kaiserplatz 21.8.

  Lieber Stefan, ich nahm gerade den ersten Nippschluck aus dem Espressotässchen – da rief Pirandello über den Platz mit weit ausgebreiteten Armen: „Signor Damonte … ich nenne Sie einfach so … wo waren Sie nur in den letzten Tagen,…

Köln, Große Hafenrundfahrt

  „Guten Tag, kann ich hier Karten für die Große Hafenrundfahrt bekommen?“ – Köln-Düsseldorfer-Rheinschifffahrt, junger Mann: „Bestimmt nicht.“ „ Können Sie mir sagen, wo?“ „Da müssen Se weiter jehen.“ Kiosk mit großem Schild: Köln-Tourist-Schiffsfahrten, ältere Dame, aus einer Ecke: „Dat…

Bonn, Kaiserplatz 9.8.

  Lieber Herr Jo, soeben – ich hatte kaum den Espresso macchiato bestellt – trat Pirandello auf seinen Balkon und rief laut über den seit Wochen durch Baustellen verschandelten Platz: „O crudele Germania! Come tratti il to posto più bello!“…

La Fontana

Bonn, La Fontana, 27. Juli Lieber Peter, stell dir vor: Ich laufe vom Radschert in Todtnauberg auf den Weg oberhalb von Rütten, in der Ferne der Gipfel des Feldbergs, und sehe unter mir Heideggers Hütte – da kommt er mir…

Eine andere Postkarte aus Weimar

  Den 18. Juli 2019 Sir Peter, sei versichert, in Weimar kann ich nicht anders, ich muss an dich denken. Schon deswegen, weil mir am Frauenplan der Geheimrat begegnete und sich nach dir erkundigte: ob du dich endlich ans Wohltemperierte…

Ich traf Pirandello

  Er sprach kein einwandfreies Deutsch, aber gut genug, damals in Bonn, wo er seinen Doktor machte. „Kennen Sie meine Arthurgeschichten?“, fragte ich ihn. „Bedaure, Signore“, sagte er, „wer ist Arthur?“ – „Ein Urenkel Schopenhauers.“ – „Ah“, sagte er, „man…

Bonn, Kaiserplatz 29.7.

  Lieber Stefan, vom Balkon über mir winkt Pirandello. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. War er verreist? Hatte er Sehnsucht nach dem sizilianischen Dialekt? Und nach seiner Verlobten in Agrigent, obwohl er hier in Bonn eine Verlobte…

Bonn, 17.6. La Fontana

  Pirandello geht mir auf den Geist. Er faselt so schlau daher. Er denkt, er sei Kant & Nietzsche in einer Person … Warum sprach er mich überhaupt an? Er kennt mich doch gar nicht. Braucht er ein Objekt seiner…

Bonn, 16.6. La Fontana

  Lieber Herr Jo, heute Nacht erschien mir Pirandello im Traum. Das Sonnenlicht schimmerte durch die Kastanienblätter, ich nippte an meinem Espresso und hörte über mir die so vertraute Stimme: „Buon giorno, Signore, come stai?“ – „Ahimè, mir geht es…

Bonn, 15.6., Gelateria

  Lieber Herr Jo, der tägliche Dialog mit Pirandello erschöpft mich, seine philosophischen Gedanken, die er mir von seinem Balkon über der Gelateria zuruft, haben mich inzwischen vollkommen ins Gefängnis der Vernunft eingesperrt. Ich leide. Was soll ich tun? Befreien…

Bonn, 14.6., La Fontana

  Lieber Herr Jo, es fehle noch so einiges, schreiben Sie, Denken allein mache noch keine Auferstehung. Handeln soll ich, konsequent handeln. Mein Gott, so ein richtiges Leben macht aber verdammt viel Arbeit. Amortisiert sich das am Ende? Sie wollen…

Bonn, Kaiserplatz, 13.6.

  Lieber Herr Jo, heute kam keine Karte von Ihnen. Was ist passiert? Ich habe Sie doch nicht erschreckt mit meinen Überlegungen? – Halten Sie sich fest: Pirandello stand heute Morgen auf seinem Balkon und strahlte, als er mich sah!…

Bonn, 12.6.

  Lieber Herr Jo, Sie schreiben mir, Sie verurteilen mich zum Leben. Ja, heißt das denn, Sie leben, Pirandello lebt, alle leben – nur ich nicht? Bitte bedenken Sie jetzt auch mal mein Alter. Lohnt es sich für mich überhaupt…

Bonn, 11.6.

  Lieber Herr Jo, Sie ahnen gar nicht, wie es mich schmerzt, wenn sein Balkon leer bleibt. Seit Tagen sehe ich Pirandello nicht mehr. Er ist vielleicht verreist, vielleicht hat er aber auch den Dialog mit mir beendet. Ich weiß…

Bonn, 7.6., am Bücherkarren

  Lieber Herr Jo, ist das Ihr Ernst? Sie attestieren mir, mein Schweigen sei vielsagender als das tiefsinnigste Geschwätz? Das hieße ja, einer faden Tautologie inhaltliche Substanz zuzugestehen. Will ich das? – Wie dem auch sei … Als hätte Pirandello…

Bonn, Café Fürst, 6.6.

  Lieber Herr Jo, ich darf Sie doch so nennen? – Je suis désolé – heute ließ mich Pirandello im Stich, er zeigte sich nicht, und so ging ich in mein geliebtes Café Fürst beim Hauptportal meiner Alma Mater. Nun…

Bonn, Gelateria La Fontana, 5.6. p. m.

  Lieber Herr Jo, Sie werden es kaum glauben, aber es ist so passiert, wie ich es mir dachte: Das Nichts verschluckte sich, und ich war wieder da! „Parbleu!“, rief Pirandello, „da sind Sie ja wieder. Wo waren Sie denn?“…

Bonn, Kaiserplatz, 5.6. a. m.

  Verehrter Herr Jo, ich hob das Espressotässchen, um den letzten Schluck zu nehmen, da sah ich über der Tasse oben auf dem Balkon des Eckhauses über dem Bücherkarren den leibhaftigen Luigi Pirandello, und unsere Augen begegneten sich. Er lächelte.…

Das Kölner Richter-Fenster

  Ein Meister der Grisaille, der formalen Strenge, der Unerbittlichkeit der Grau- und Unschärfe-Relationen. Dagegen das große Südfenster im Querschiff des Kölner Doms – hier sind alle Farben – ohne Weiß und Schwarz und Grau. Der Schöpfungsbegriff verschwindet in der…

Café Thalia

  Sir Peter und Ich im Café Thalia. Ich frage mich, sagt Er, was nach dem Tod kommt – wie denkst du darüber? – Die unnützen Fragen sind oft die schwersten, sage Ich. – Du scherzt, sagt Er, ich mein’s…

Zwischen Rhein und Ruhr und Niederrhein

An Jesus kommt keiner vorbei … außer Stan Libuda! Joh 14,6 Der Rheinländer ist immer verliebt: In sich selbst und in die Welt, das ist fast dasselbe. Was oft so sehr nach Selbstliebe aussieht, ist in Wahrheit Liebe zum Leben.…

Freude schöner Götterfunken!

  Lieber Sir Peter, auf dem Weg nach Halle muss ich mich immer bei Wolfgang melden, und diesmal war, als ich den Theaterplatz betrat, auch Friedrich zugegen! Sie fragten mich, wie es Ludwig in Bonn geht. „Er wird restauriert“, sagte…

Trendy & Neo

Vorrede der KUNO-Redaktion: Zur Ausstellung im im Literaturhaus Stuttgart dekonstruiert Boris Kerenski im begleitenden Katalog den Social Beat. Wir ergänzen dies mit einer analytischen Betrachtung von Ulrich Bergmann:   Social Beat im engeren Sinn ist ein längst überholter Begriff, aber…

Gipfeltreffen zu dritt mit mir selbst

Vorbemerkung der Redaktion: Ulrich Bergmann war angetan vom Cover der Lokalhelden. A.J. Weigoni hatte ihn daraufhin zu einem Kollegengespräch in ein Brauhaus eingeladen. Bergmann bevorzugte jedoch ein untergäriges Bier. Eine Erinnerung des Bonners an den ungarischen Rheinländer.   „Es gibt…

Eine dritte Postkarte aus Weimar

  Sir Peter, stell dir vor: wir sitzen hier bei Giancarlo, und da kommt die Vulpius herein: Welch eine Freude, Sie zu sehen! … Was gibt es Neues? – Madame, sage ich, ob Sie’s glauben oder nicht: Sir Peter und…

Weimar, 27. Februar

  Dear Peter, soeben erzählte ich dem Geheimrat von Thomas Manns Joseph-Roman. „So so“, sagte er, „und wie finden Sie’s?“ – „Recht frei in mancher Hinsicht, sehr männlich und gott-arm, alles in allem ein erzählerisch nicht enden wollender Rausch –…

Der Mann ohne Eigenschaften – eine Utopie?

Die Dichtung hat nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll; oder das, was sein könnte, als Teillösung dessen, was sein soll. Robert Musil   Der Romanbeginn mit der leicht ironisch an Goethes Autobiographie Dichtung…

Die erste Postkarte aus Weimar

  Sir Peter, I don’t know, whether you believe it or not: Ich traf IHN endlich, I must tell you in German, ihn himself – Emil! Es trieb also auch ihn zurück zum Ort seiner Tat! Die Ruhe im Grab…

Lerne sterben!

oder Der ewige Gesang des toten Jünglings An die Parzen.   Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,Daß williger mein Herz, vom süßenSpiele gesättiget, dann mir sterbe. Die Seele, der im Leben ihr göttlich RechtNicht…

Jenseits des Wahrnehmungsmainstreams

Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die eintreffenden Rezensionsexemplare auszupacken – Aberhunderte von Büchern, von denen man wusste, dass nur ein kleiner Teil wahrgenommen werden kann. Da wird man zu einer Art Bartleby der Bücher. Angela Schader In Zeiten der…

Lieber Hölder

Der Brief des elfjährigen Henry Gontard an seinen Lehrer Hölderlin: Lieber Hölder! Ich halte es fast nicht aus, daß Du fort bist. Ich war heute bei Herrn Hegel, dieser sagte, Du hättest es schon lange im Sinn gehabt, als ich…

Der Fuchs und die Spatzen

  „Wörter sind Spatzen“, sagte der Fuchs zum Wolf, sagte Kautsky immer wieder, wenn er seine Geschichten erzählte, „wenn sie einmal ausgesprochen sind, kann sie keiner wieder einfangen.“ Einer seiner Zuhörer aber verstand den Fuchs und die Spatzen nicht, drehte…

Nabelwärts

fast als Parodie zu singen   Ich fand mich nabelwärts in Räuschen, du trankst mich aus, verlegtest mein Gehirn, ich war entbrillt und hatte nur die Stirn, mit stummen Worten Liebe vorzutäuschen.   Potenten Wahns uns taumelnd zu entkeuschen zerfloss…

GRAND CANYON LETTER

Bright Angel Creek, 16.September 1970   Der Entschluß, drei Tage länger im Grand Canyon zu bleiben, fiel mir nicht schwer. Ich bin weiß Gott kein Naturanbeter, vermag al­so nicht allzulange andächtig vor einem der vielen Altäre des Erdschöpfers – wer…

Höchste Lust

  Rudnikow, der Seelenwanderer, nahm den weiten Weg nach Moskau auf sich, um endlich die Oper zu hören, die den Westen als Abendland definiert: Tristan. Auf einer Bühne unaufführbar, dachte Rudnikow, als der Zug Moskau erreichte und im Kasaner Bahnhof…

Lesen ist Schreiben

Ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Gedicht, das sich schreibt. Ich schreibe, ich lese,…

Treibhaus unterm Himmel

Zum 160. Geburtstag betrachtet Ulrich Bergmann die  noch immer weithin als schlichte Heimatdichterin verkannte Schriftstellerin Clara Viebig.   Die Erzählung „Maria und Josef“, 1899 entstanden, ist ein eindringliches Stück Literatur, eine dramatische Kurznovelle mit einer unerhörten Begebenheit: Josef erschlägt seine…

Die schöne Polin – Die Tolle

Die drei Wochen bis zu meinem nächsten Besuch im Salon der schönen Polin wurden eine lange Eiszeit, deren Ende ich entgegenfieberte. Es war, als wollte mich die Zeit auf die Folter spannen. Täglich prüfte ich im Spiegel das Wachstum meiner…

Die schöne Polin – Kopfwäsche

Ich lag fast flach im Waschstuhl mit wachsender Erwartung. Die Polin griff in mein Haar und kraulte es durch. „Sie waren doch erst vor drei Wochen bei mir“, sagte sie. „Da sehen Sie“, hauchte ich durch die Corona-Maske, „was Sie…

Die schöne Polin – Weichselflieder

  Endlich öffnete der Friseursalon wieder, der wegen der Corona-Seuche sieben lange Wochen geschlossen war. Endlich sah ich sie wieder: die Frau Meisterin, die schöne Polin. „Kommen Sie“, sagte sie, „setzen Sie sich auf den Waschstuhl!“ Ich setzte mich. Sie…

Die schöne Polin – Erlösung

Jüngst traf ich beim Einkauf auf dem Markt meine Friseurin, eine Polin im besten Alter, sie inspizierte mein Haupt, das war ihr Kommentar ohne Worte. Ich: „Wenn Sie Ihren Salon wieder aufmachen, dann machen Sie mir eine Dauerwelle und färben…

Cum grano salis

  Schlange, sage ich, ich gefalle mir nicht mehr, ich bin zu dick. – Dann musst du was tun, sagt Schlange, treibe Sport! – Ich weiß nicht, sage ich, das strengt mich zu sehr an. – Dann iss weniger, sagt…

Liebesmeer

Du siehst in Duhnen weit übers Watt aufm Deich überm Strand aufm Deich und wirst vom Schauen, vom Schauen nicht satt aufm Deich überm Strand aufm Deich Nur Schlick sieht dein Auge im Watt von Duhnen vorm Strand unterm Deich…

Vom Überbau der Freiheit

„Seht ihr nicht, wie ihr einander zerfleischt in Unbedachtheit eures Sinnes?“, fragt der historisch verbürgte Empedokles in seiner Fragmentsammlung katharmoi, den sogenannten Sühneliedern, und Hölderlin greift diese fragende Figur auf und macht aus Empedokles den „Denker des anderen Anfangs“ (Martin…

Pyrrhus-Sieg

  Komm!, sagt Schlange, wir machen Liebe. – Lass mich, Schlange, sage ich, ich denke nach. – Was ist los, sagt Schlange, worüber denkst du nach? –  Über unsere polygame Neigung, sage ich. – Ich wusste es!, sagt Schlange. –…

Die Lyrikerin Ines Hagemeyer

  Ines Hagemeyers ist in der Hauptsache Lyrikerin. Sie veröffentlichte im Dichtungsring nur selten andere Texte, etwa eine Rezension oder ein persönliches Statement zur Zukunft unserer Zeitschrift. Der Dichtungsring ist für sie eine wichtige Sache, sowohl die Autorengruppe als auch…

EX ORIENTE LUX

Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“- Ein immer noch aktuelles Manifest für Mündigkeit, Vernunft und Freiheit Ein großer Roman! Schon der Umfang verrät es – vier Romane in einem: Die Geschichten Jaakobs / Der junge Joseph /…

Herzblut

M. filmte die Tötung mit einer auf einem Stativ montierten Videokamera. Die Aufzeichnung zeigt, wie er die Halsschlagader aufschlitzte. Das Blut spritzte im Strahl heraus. Der Puls stand in die Luft geschrieben. Als wollte der Körper Nein sagen, als die…

Randzone des Literaturbetriebs

In der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens entdecken. Walter Benjamin Das Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) hat sich nach 1989 von der Illusion der Kanongültigkeit verabschiedet. Das Interesse an Individuen, am Besonderen und Abweichenden, an Grenzgängern und ihren Umwegen ist…

Blindes Urteil

Die maltesische Eisläuferin Maria Cassata, die wegen ihrer hohen Sprünge und schnellen Drehungen auf dem Eis vom Publikum gefeiert, von der Jury aber stets gefürchtet war, weil keiner hinter das Geheimnis ihrer Kunst kam – während ihres Fluges über dem…

Eiszeit

Die Kölner Haie, die von ihren Fans manchmal auch liebevoll Eismörder genannt werden, weil sie in ihren Kampfspielen regelmäßig ein gutes Dutzend Pucks zerhauen – so hart schlagen die dick verpackten Raubtiere zu – trafen eines Tages in einem eiskalten…

Das Manifest

An einem 9. November in den letzten Jahren der deutschen Republik verschlang Kautsky, der die Welt besser verstehen wollte, als sie war, ein immer schon erträumtes Buch, das ihm, weil sich der Tag mit langen Gedanken hinzog, so schwer im…

Der letzte Weg

Der griechische Gewichtheber Kounellis, der vor der gesamten Weltelite der Kraftdisziplinen bei dem leichtfertigen Versuch, den Diskuswerfer, eine antike Bronzestatue im Museo Nazionale Napoli, vom Marmorsockel zu stoßen und zum Ruhme des Sports über sein Haupt zu reißen, starb, weil…