Ich beobachte meinen Schatten

 

Ich beobachte meinen Schatten und stelle mir vor, wie ich zu ihm sage: Du störst mich. – Er antwortet: Du störst mich noch viel mehr. Ich bin dein Gefangener. Gib mich frei. – Wie soll das geschehen, frage ich ihn. – Er sagt, friss mich auf. – Davon werde ich nicht satt, sage ich, da kann ich dich auch leben lassen.

Stella erzählte mir die Geschichte vom Ringversuch mit dem Skorpion. Lange habe man geglaubt, es sei  unwahrscheinlich, dass ein Tier mit voller Absicht Selbstmord begehen könne, da man ihm kaum ein Verständnis für den Tod überhaupt und die Beendigung der Qualen durch ihn zuschreiben könne. Item, das schon aus dem Altertum berichtete Experiment, dass ein durch einen Feuerring eingeschlossener Skorpion darin wie wütend mit emporgehobenem Schwanzstachel umherlaufe und sich angesichts der Unmöglichkeit des Entrinnens endlich selbst den tödlichen Stich versetze, sei von vielen Beobachtern, besonders von Ärzten, wiederholt worden. Mehrere Beobachter, darunter Allen Thomson, hätten behauptet, dass der durch Feuer gereizte Skorpion nach seinem Kopf steche. Das geschehe derart kunstvoll, dass man dem Spinnentier einen eigenen Willen zuschreiben müsse. Der Stachel richte sich auf, ein schwingender Degen, und drehe sich zum Nacken des Skorpions, als sei er sein eigener Feind, der ihn angreife.

„Jan, wir verstehen den Skorpion und uns am besten, wenn wir uns in ihn verwandeln“, sagte Stella.

„Wenn die Welt zu Ende geht, ist unser Wille verbrannt. Wenn wir die Welt vernichten, müssen wir konsequent sein.“

„Du willst mir sagen, der Tod liegt in der Natur der Natur“, sagte ich.

„Ja“, sagte Stella, „er ist sogar unser Wille. Der Skorpion weiß vielleicht nicht, was er tut, er vollzieht nur eine Möglichkeit, die in ihm angelegt ist, doch seine Reaktion auf die unbezwingbare Gefahr entwickelt sich zur natürlichen Notwendigkeit …“  

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.