Die Bilder spiegelten meine Lebenslage

 

Die Bilder spiegelten meine Lebenslage. Die Leere des Palastes war meine eigene Leere, die Haltlosigkeit meines Seins. Wer war ich wirklich? Bedeutete ich nur in meiner Innenwelt etwas? Ich war faul, ich lernte nur, was mich interessierte. Ich konnte mich in der wildesten Verzettelung immer wieder finden, selbst wenn die Analyse der Welt in tausend mal tausend Stücke zerfiel. Ich konnte verloren geglaubte Fäden wieder aufnehmen und entwirren. Wer bin ich? Sah ich mich im Traum als Ziel eines Läuterungsprozesses? Ich wusste es nicht, und ich weiß es heute noch nicht.

Mein Schatten lässt mich nicht los. Er starrt mich an, ich fühle es. Du bist mir ein zu dunkler Spiegel, sage ich, du störst mich schon wieder. – Ich weiß, sagt er, wenn du stirbst, bist du mich los. – Den Gefallen tu ich dir nicht, sage ich. – Trennen wir uns, sagt mein Schatten, du wirst mir schon nicht fehlen. – Es ist grotesk, sage ich, aber wenn ich stürbe, würdest du mir fehlen.

„Vor zwei Jahren bin ich sitzengeblieben“, sagte ich, „es war das Jahr vor dem Abitur. Ich hatte Talent, alle sagten es. Nun stehe ich vor dem Ergebnis meiner Faulheit, meiner genießerisch ausgelebten Lethargie. Mein Vater meldete mich von der Schule ab. Such dir eine Lehrstelle oder geh zum Militär, sagte er. Ich hatte mich dann für zwei Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet – vor vier Wochen wurde ich entlassen …“

„Du warst in deinem Traum immerhin ein Palast“, sagte Stella.

„Aber nun habe ich kein Dach über dem Kopf“, sagte ich. „Ich war einfach zu sehr verliebt in meine Deutschaufsätze, Gedichtinterpretationen und Referate.“ „In deine Säulen, deinen Marmor“, sagte Stella.

„Weißt du“, sagte ich, „in der Poesie fühlte ich mich allen überlegen.“ Stella fasste meine Hand. Obwohl ich nichts von ihr wusste, war ich in ihrer Nähe geborgen. Sie schien sich wohlzufühlen, wenn ich ihr von meiner Welt erzählte.

„Die Auserwählten der Jahrgangsstufe waren verknallt in Benns Sprache, in diesen eleganten Schnodderton, der überzeugte, weil er so direkt, so dialogisch zupackte, und zugleich arrogant monologisch blieb. Wie modern schlenzen die Worte, biegen die Argumente um die Kurve, auch jetzt im Zeitalter der Pflegestufen und Börsenblasen. Wir überredeten Nöllendorf, bei dem wir Deutsch, Geschichte und Latein hatten, ein Benn-Gedicht im Unterricht zu behandeln. Er wählte Aprèslude. Nö verurteilte Benns Ich-Gehabe. Er warnte auch vor der gefährlichen Vergeistigung des Lebens in manchen Romanen, vor allem im Zauberberg. Mein Vater meinte apodiktisch: Der kleine Herr Friedemann ist eine niederträchtige Geschichte, da wird das Leben in den Dreck gezogen. Solche Bemerkungen trieben mich in die weit geöffneten Arme dieser Literatur. Ich spürte, dass es um ästhetische Kategorien ging, nicht um die Moral meines Vaters, sondern um die Wirklichkeit des Lebens, ja vielmehr noch um die Wahrheit des Seins.“

„Du übertreibst“, sagte Stella.

„Kann sein“, sagte ich, „aber die Eltern trieben mich in ihr schiefes Leben hinein, in ein Pflichtleben, das nicht mein Leben war. Sie verschleierten die Wirklichkeit mit ihren verlogenen Ansprüchen an die Welt, und sie verschwiegen viel von dem, was sie selbst getan hatten. Sie laufen mit ideologischen Balken vor der Stirn durch ihr Leben … Ich schrieb meine Facharbeit über Doktor Faustus und fand darin so viel Leben, dass mir die Stirn platzte. Am Ende des Schuljahrs war ich gescheitert. Der Französischlehrer ließ mich fallen und gab mir eine Fünf. Ich hatte es einfach zu weit getrieben, das gebe ich zu. Wir lasen L’Avare, ich hatte mir die Lektüre nicht gekauft, ich vergaß es jeden Tag. Molière war mir so egal. Stunde für Stunde forderte mich Schönthaler auf, endlich mit der Lektüre im Unterricht zu erscheinen. Ich kapierte erst später, dass ich ihn beleidigte. Auch die Mathelehrerin gab mir eine Fünf, sie ließ sich nicht umstimmen durch meine Facharbeit über Thomas Mann, die Nö ihr vorlegte, um mich zu retten. Nach dem Halbjahreszeugnis, das die Katastrophe schon andeutete, zwang mich mein Vater zum Rücktritt als Redakteur der Schülerzeitung und zur Unterschrift unter ein Versprechen. Es war meine Kapitulation. ‚Ich, Janus Rippe, verpflichte mich, meine ganze Tatkraft, meinen Fleiß und meine Fähigkeiten so einzusetzen, dass ich die Versetzung erreiche. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich bei Nichterreichung dieses Zieles von der Schule abgehen muss.’ Und so kam es.“

„Hast du nicht gemerkt, wie du ins Unglück hineingeschlittert bist?“, sagte Stella.

„Ich sah mir dabei zu, bis zuletzt tat ich nichts dagegen, ich ließ es geschehen. Ich hatte weder Angst noch Hoffnung. Aber ich hatte heftige Träume. Einmal erlebte ich eine schreckliche Nacht. Ich kam nicht zum Schlaf, und der Schlaf kam nicht zu mir, ich wälzte mich bis zum Morgen von einer Seite auf die andere, dann schlief ich endlich ein.

 

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.

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