Monat: Dezember 2020

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Dum spiro spero Cicero   Manche Sätze bereiten mir seltsame Schwierigkeiten. Ein für mich geradezu prototypisches Exemplar dieser Spezies ist der vermeintlich so harmlose Stoßseufzer, den, zum Beispiel, schon mancher Fußballfan angesichts der schier aussichtslosen Situation seines Herzensclubs im Abstiegskampf…

ich werde deinen brief warten

    wenn du mit mir abgeschrieben werden willst:   30 jahre           *** SPAM-POETRY Destillate aus Junk/Spam-Mails von Joanna Lisiak, 2018, ISBN 978-3-74609-986-6 Softcover Die Lyrikerin Joanna Lisiak hat aus Spam-Emails Gedichte destilliert. Diese Methode…

Lebensweg

    gehen gehen gehen   mit einem Ziel ohne ein ziel   ankommen   an einem ziel an keinem ziel   irgendwo ankommen   gehen gehen einfach gehen     *** AUSKLANG Gedichte 2010-2020 von Peter Paul Wiplinger, Löcker…

KAISERPANORAMA

Reise durch die Deutsche Inflation   XII. Wie alle Dinge in einem unaufhaltsamen Prozeß der Vermischung und Verunreinigung um ihren Wesensausdruck kommen und sich Zweideutiges an die Stelle des Eigentlichen setzt, so auch die Stadt. Große Städte, deren unvergleichlich beruhigende…

ringen

  sich sammeln sich in Gedanken verliern Äußeres beschwichtigen Inhalte dahinplätschern hörn sie aufgreifen verwerfen sinnvoll sinnlos setzen solange sie zugänglich sind       *** Im kommenden Jahr erscheint: Fragen im Schlepptau, Gedichte von Ines Hagemeyer. Ludwigsburg: Pop Verlag…

Reisen in ferne Länder

  Franz Hohlers Ich-Erzähler ist dort, wo Begegnungen mit virtuellen Zeitzeugen sich plötzlich in reale Situationen verwandeln, in denen er sich als hilfsbereiter Bürger erweist, der Flüchtlinge an das rettende Ufer in Europa zieht. Doch eine solche Vermutung könnte den…

Woher, wohin

  Kalt, kalt. Konnte es je kälter sein? Er stand vor dem Sandsteingebäude, hinter dessen Mauern sich Menschen liebten, stritten, auf alten Matratzen schnarchten. Er sah durch die braunschwarzen Mauern Katzen sich die Pfoten lecken, Hunde letztes Nass aus Blechkübeln…

Weihnachten fällt aus

Weiterführend → Lesen Sie auch den Essay Laik Wörtschel – ein Künstler der Stille. → Ein Artikel von Laik Wörtschel über Asphaltics – die geheime Streetart. → Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

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  du zerknüllst nach Hinten gewandt alles Leben mit deinem Blick   Käfer Erinnerungen wohnen im Haar           *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2020 Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten…

Das Älteste der „Neuen Medien“

Vor 100 Jahren wurde auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen bei Berlin Rundfunkgeschichte geschrieben. Am 22.12.1920 gingen von hier aus zum ersten Mal Worte und Töne in den Äther – die Geburtsstunde des Radios.   Das Radio begann vor rund…

Sternchenhagelvoll

Eselei ist zuerst eine Schwäche des Denkens und des Redens. Der begrenzte Wortschatz verbindet sich mit logischen Fehlern und kategorialen Irrtümern. Man beurteilt ästhetische Objekte allein nach moralischen Maßstäben, identifiziert die Roman- oder Bühnenfigur mit der Autorin und beurteilt die…

Lerne sterben!

oder Der ewige Gesang des toten Jünglings An die Parzen.   Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,Daß williger mein Herz, vom süßenSpiele gesättiget, dann mir sterbe. Die Seele, der im Leben ihr göttlich RechtNicht…

Der Wintersturm

    Der Himmel wirft die Jugend weg, ergraut In schweren Wolkenmassen, durchgeknetet Von Winterstürmen. Einer kniet und betet, Er spricht die Formeln, hat nicht aufgeschaut.   Die Böe greift die Fichte, und sie bricht. Mit lautem Knall schnellt sie…

Kunst ist das Herz der Demokratie

  Wer die Freiheit der Kunst nicht bewahrt und nutzt, versagt. Versagen wir, versagt unsere Gesellschaft. Versagt sie, hat sie – haben wir – keine Zukunft mehr. Darum ist die Freiheit von Kunst und Kultur eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit…

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen…

Ein Buch für schräge Vögel

  Es gilt ein Zeugnis des schrägen englischen Humors zu bewundern. Der Londoner Verlag J.&E. Bumpus druckte es 1913 in einer Auflage von 100 Exemplaren- Erst 107 Jahre danach erscheint es auf deutsch auf dem Markt der kuriosen Bilderbücher. Ihr…

Sie fragt erst gar nicht

  Sie fragt erst gar nicht, warum sie nicht verzweifelt. Da sie der Ansicht war, dass das, was gegenwärtig geschah, für sie wohl kaum Erinnerungswert haben dürfte, begann sie, Geschichten aufzuschreiben, deren Ende sie vorsätzlich nicht absehen wollte. In diesen…

Kleine Geschichte der Photographie

  Der Nebel, der über den Anfängen der Photographie liegt, ist nicht ganz so dicht wie jener, der über den Beginn des Buchdrucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als für diesen ist, daß die Stunde für die Erfindung gekommen war und…

Eine Rückschau auf das Hölderlinjahr

Monotheismus der Vernunft, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst. Über das Verhältnis von Poesie und Geld vor dem Hintergrund der Lebensumstände, denen Friedrich Hölderlin zwischen 1795 und 1798 in Frankfurt am Main ausgesetzt war, ist bislang nur wenig publiziert worden.…

Das unentdeckte Land

Wir sind die Borg. Ihre biologischen und technologischen Besonderheiten werden den unsrigen hinzugefügt. Widerstand ist zwecklos. Star Treck Gestern meldeten wir, daß fixpoetry mangels Finanzierung zum Ende diesen Jahres eingestellt, bleibt aber als Archiv vorerst erhalten. KUNO blickt zurück auf…

Jenseits des Wahrnehmungsmainstreams

Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die eintreffenden Rezensionsexemplare auszupacken – Aberhunderte von Büchern, von denen man wusste, dass nur ein kleiner Teil wahrgenommen werden kann. Da wird man zu einer Art Bartleby der Bücher. Angela Schader In Zeiten der…

Exilfoto

  vom ersten Umzug als wir da hockten auf abgetretenen Stufen den Rücken zur Kindheit auf den Lastwagen wartend Vaters murmelndes Unken unwiederbringlich: Jahre Fusel Freunde – eigen gar nichts außer uns     *** Dichtungsring, eine Sondernummer für Ines…

Der innere Meridian 12

  Der wahre Schriftsteller ist nicht verpflichtet zu schreiben. Ihm genügt es, sich vorzustellen, dass seine Berufung ein überwältigendes Muss ist, der stumme Aufschrei eines unvermeidlichen und unbekannten inneren Anlasses. Dass er sich von den Ideen, für die er keine…

Heldenplatz

Spontan-Morgengedicht zum österr. Nationalfeiertag für den Dichterfreund Stephan Eibel Erzberg   da stehen sie nun aufgereiht in ihrer feschen militärmontur und sind bereit zum schwur aufs kleine hehre vaterland und in der menge steht und sucht der schatz den liebsten…

Vorsprung durch Technik

Sprengt die Digitalisierung womöglich den Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen? Das Verb digitize taucht im englischen Sprachraum 1953 erstmals auf, weitereintwickelt in digitization im Jahr 1954. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre wird der daraus abgeleitete Begriff…

WENN GODOT KOMMT

  Wladimir und Estragon an einem kalten Wintermorgen in der Eingangshalle des Stadttheaters. Godot kommt unauffällig, zeigt ihnen seinen Dienstausweis und bringt sie zur Heilsarmee. An manchen Tagen ist alles ganz einfach.     *** Weiterführend → Lesen Sie auch…

Jeder Tag eine Folge

  Normalerweise wacht der Mensch auf, geht seinen Routinen nach und irgendwann wird er vor Müdigkeit nicht drumherum kommen, auch wieder ins Bett zu gehen. Anders verhält es sich mit Figuren. Meist bekommt man es nicht mit, dass diese auch…

Heißzeit

  Wie viele andere ist Voss als Ehrengast gekommen, nicht zur Besichtigung oder Empörung. Strahlend winkt er der Menge mit seinen Aufzeichnungen. Weil er schon den gan­zen Vormit­tag auf die Dämmerung und den Flixbus gewartet hat, der die Demon­stranten in…

Nachtragsliste zur Einbahnstraße

Die Technik der ‚Einbahnstraße‘ ist der des Spielers verwandt. Nicht zuletzt darin liegt das Schockierende des Buches. Theodor W. Adorno   In diesem Jahr erinnern wir an die philosophisch-literarischen Schriften des Walter Benjamin. Besonders beeindruckt hat die Redaktion nach der…

Bettler und Huren

  In meiner Kindheit war ich ein Gefangener des alten und neuen Westens. Mein Clan bewohnte diese beiden Viertel damals in einer Haltung, die gemischt war aus Verbissenheit und Selbstgefühl und die aus ihnen ein Ghetto machte, das er als…

„Ich glaube an einen poet(h)ischen Zustand der Sprache“

Philippe Tancelin im Dialog mit Francisca Ricinski Francisca Ricinski: Sie sind ein „zoon poetikon“, authentisch und komplex: Dichter-Philosoph, Essayist, Schauspieler, Doktor der Ästhetik, Professor, Koordinator verschiedener transdisziplinärer Poetik-Workshops, Spiritus Rector des Collectif Effraction (Kollektiv „Einbruch“), Präsident der „Internationale der Dichter“,…