Ein novellistisches Jahr

Die Novelle ist die Schwester des Dramas.

Theodor Storm

Photo: Ph. Oelwein

Im Jahr 2022 widmet sich KUNO ausführlich der literarischen Kunstform Novelle. Der Begriff kommt von dem italienischen Wort novella, was „kleine Neuigkeit“ bedeutet. Die Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück, zwar länger als eine Kurzgeschichte, jedoch deutlich kürzer als ein Roman. Dieser Ausschnitt verzichtete ganz bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie an an einem verregneten Nachmittag in einem Zug zu lesen ist. Und schon kommen wir bei der Betrachtung ins Schwimmen. Als Gattung läßt sich die Novelle nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor, um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.

Regelmäßig wird im Zusammenhang mit der Novelle die von Paul Heyse formulierte „Falkentheorie“ angeführt, die die Kategorien der Silhouette (Konzentration auf das Grundmotiv im Handlungsverlauf) und des Falken (Dingsymbol für das jeweilige Problem der Novelle) als novellentypisch benennt.

Originaldruck direkt auf das Cover von Haimo Hieronymus.

Wenn die Novelle aus dem Italienischen übertragen als Kleine Neuigkeit übersetzt werden kann, dann lag Herr Nipp vor zehn Jahren wohl richtig, denn kurz sind seine Texte. Zwischen zwei bis vier Sätzen spielt sich alles ab. Da können Welten, Landschaftsgemälde und weltgeschichtliche Ereignisse entstehen und uns in die Vergangenheit oder Zukunft mitnehmen.  Er macht weder halt vor Märchen und Bibel, noch vor aktuellen Ereignissen oder Legenden des Films. Die Naturbeobachtungen treffen immer nur den Kern, nachdem das Fruchtfleisch entfernt und von andern gegessen wurde. Ohne auf die Erfordernisse der Twitteratur zu achten wird ein eigener Weg verfolgt, der trotzdem oder gerade deshalb in diese Zeit passt. Entweder es entstehen heute unendliche Geschichten mit tausend Seiten oder kürzeste Textfragmente mit zehntausend Reflexionen. Da Herr Nipp als virtuelle Figur das Schreiben nicht studiert hat, sondern der von Hieronymus geschaffen Legende nach über seine Zufallsnotizen und Tagebücher zum Verfassen kam, mag man ihm einige Ungereimtheiten verzeihen. Es natürlich kann auch sein, dass alles geplant ist. Hier geht es nicht um intellektuelle Komposite, sondern das Hintergründige wird nach vorne geschoben und auf der Straße breitgewalzt. Zur Not auch eine Eidechse. So wird das Buch zu einem großen Krabbeln, einer kitzligen Verameisung.

Der Kurzroman als nicht zu unterschätzende Zwischenform

Eine nicht genauer abgrenzbare Zwischenform von Roman und Novelle bildet der Kurzroman, also ein Prosatext, der einen romanhaften Stoff knapp ausführt, bzw. eine Novelle mit Merkmalen des Romans. (Wir wiederholen dieses Experiment, auch den Fortsetzungsroman Massaker können Sie im KUNO-Archiv nachlesen.) Wir können dies in diesem Jahr in einem Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann wöchentlich nachvollziehen. Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Hier wird ein Konflikt zwischen Chaos und Ordnung beschrieben, was zu einem Normenbruch und Einmaligkeit führt. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine der Gattung. Erzählt wird in der Regel ein einziges Ereignis, daher kommt auch der Ausdruck, der Kurzroman ist der Singularität verpflichtet. Und dieser Kurzroman ist ein einmaliges Experiment im Werk von Bergmann.

Man mag vielleicht anfügen, es ist einmalig gut!

Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten.

Thomas Mann

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera

In diesem Jahr erinnert KUNO an die umtriebige Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach. Sie wuchs in der Seegemeinde Horgen auf dem stattlichen Landgut Bocken auf. In Paris und Zürich studierte sie Geschichte. 1931 promovierte sie mit einer Arbeit zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Erste journalistische Veröffentlichungen sowie literarische Texte entstanden noch während ihrer Studienzeit. Kurz nach Abschluss ihres Studiums debütierte sie mit dem Roman Freunde um Bernhard. Im Jahr 1931 hielt sie sich öfter in Berlin auf und stand in engem Kontakt mit Klaus und Erika Mann in München.

Im Grunde kann man für Sibylle nur sterben. Für sie zu leben, sagten meine Freunde, sei entwürdigend.

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung:

Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

Eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.

Johann Wolfgang Goethe

Schreibstab auf dem Cover von: Peter Meilchen

Es ist kein Zufall, das die Edition Das Labor in 2009 mit dieser Gattung startete. Reduktion, Konzentration und Klarheit: Diese Vignetten sind schmal, verdichtet, streng durchkomponiert und durchrhythmisiert. A.J. Weigoni definierte eine Literaturgattung neu, er praktizierte damit mehr als das Schreiben, diese Novelle ist ein Sich–Einschreiben in die Welt. Mit seinen Prosavignetten verstieß Weigoni gegen das Gebot:

Du sollst Dir kein Bildnis machen.

2. Mose 20:4

Die 24 Bildnisse von A.J. Weigoni bestehen aus vielerlei Facetten, die auch durch die Schreibstäbe von Peter Meilchen gespiegelt werden. Und außerdem wird in den Vignetten wird alles Spätere präfiguriert, es blitzt die Kunst der Verknappung und die Wucht der schmerzhaft präzisen Sätze auf; und schließlich setzt sich aus zuvörderst disperat wirkenden Einzelteilen eine Geschichte zusammen. Das Handlungskonzentrat dieser Novelle bewegt sich auf der Zeitleiste zwischen Rhein und Nil, sie erhält sich das prekäre Gleichgewicht aus Schönheit, Spannung und Melancholie bis zum Schluß. Man sollte in die literarische Weite dieser Novelle gleichsam einzutauchen und sich lesend, schauend und staunend treiben zu lassen.

Nur unter größten Bedenken war Georg Heyms Verleger Rowohlt bereit, das Werk zu drucken, für dessen Schreckensvisionen er sich keinen Leserkreis vorstellen konnte.

Georg Heym, zeitgenössische Photographie

Bei Georg Heyms „Der Dieb, ein Novellenbuch“ handelt es sich um einen Buch mit expressionistischen Kurznovellen: „Der fünfte Oktober“, „Der Irre“, „Die Sektion“, „Jonathan“, „Das Schiff“, „Ein Nachmittag“ und „Der Dieb“. Wir lesen Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis „Mona Lisa“, die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Dem Leser bleibt die Erkenntnis: „Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren.“ Uns bleibt die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.

KUNO findet das Novellenbuch großartig, es lohnt sich daran zu erinnern!

… als sei ihre Unsichtbarkeit nichts weiter

KUNO setzte in 2022 auch den Kurzroman „Delta … als sei ihre Unsichtbarkeit nichts weiter“, von Angelika Janz fort. Sie erzählt im Delta ganz aus der Innenperspektive und schafft eine leicht verfremdete Atmosphäre. Mit sezierendem Blick und literarisch sehr eigenwillig zeigt sie eine soziale Gemeinschaft und eine Gesellschaft, die sich selbst zersetzen. Über eine zusammenhängende Folge hinweg wird die Geschichte durch die vielen kleinen redundanten Bewußtseinsströme in Offene geführt.

Die Redaktion freut sich, daß diese vielseitige Autorin und auch weiterhin mit ihen vielgestaltigen Arbeiten begleitet. Vertiefend ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd. – Ihre Schwester im Geiste ist die ebenso mannigfaltig agierende Lou Andreas-Salomé. Bekanntheit erlangte sie durch ihr literarisches Schaffen im Bereich der Religion, Philosophie und Kulturwissenschaft.

Sie war ein ungewöhnlicher Mensch, das merkte man sofort. Sie hatte die Gabe, sich unmittelbar in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen … In meinem langen Leben habe ich nie wieder jemanden getroffen, der mich so schnell, so gut und so vollkommen verstand wie Lou. Sie hatte einen ungewöhnlich starken Willen und Freude daran, über Männer zu triumphieren. Zwar konnte sie entflammen, aber nur für Augenblicke und in einer seltsam kalten Leidenschaft. Sie hat mir weh getan, aber sie hat mir auch viel gegeben.

Poul Bjerre

Lou Andreas-Salomé, aufgenommen im Photoatelier Elvira, München

Lou Andreas-Salomés oft gerühmte „persönliche Ausstrahlung“, ihre Bildung und lichtschnelle intellektuelle Beweglichkeit, die Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen und ihre unkonventionelle Lebensführung sicherten ihr einen Platz in der deutschen Kulturgeschichte. Ihr Leben war und ist Gegenstand von Biographien, Romanliteratur, Musiktheater (der Oper Lou Salomé von Giuseppe Sinopoli (Libretto: Karl Dietrich Gräwe) zum Beispiel, die 1981 in München uraufgeführt wurde) und anderen Texten, in denen ihre Kontakte zu Berühmtheiten der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte erörtert werden.

Verglichen damit fand ihr eigenes schriftstellerisches Werk seither viel zu wenig Beachtung – es verschwand hinter der außergewöhnlichen Geschichte ihres Lebens, dem versucht KUNO mit kommentierten Leseproben abhelfen. Als renommierte Autorin hatte sie an der Entwicklung der Positionen der Moderne um 1900 lebhaft mitgewirkt. In Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterkritiken, zahlreichen Texten über Philosophie und Psychoanalyse, einem weitläufigen Briefwechsel beteiligte sie sich an den Diskussionen über grundlegende Fragen der Zeit.

Von Lou Andreas-Salomé hat KUNO zwei Novellen zur Wiedervorlage eingeplant.

Der Schwerpunkt bewegt sich seit dem 19. Jahrhundert weg vom unerwarteten, rätselhaften Faktum und hin zum psychologisch besonderen Charakter, seiner inneren seelischen Bewegung und seinem Geschick. Oftmals leiden die Protagonisten dann an Isolation, Ausgrenzung oder einem Mangel an Kommunikation.

Laik Wörtschel

Covermontage: Jesko Hagen

Mit den Novellen Cyberspasz, a real virtuality setzte A.J. Weigoni die im Band Zombies begonnenen Erforschungen der Trivialmythen fort. Definierte dieser Romancier mit den Vignetten die Literaturgattung Novelle neu und analysierte zugleich den Somnambulismus der Welt, so oszillieren seine Novellen zwischen dem mokanten Blick einer zuweilen herzlich boshaften Zeitgenossenschaft und der Ekstase einer ins Innere der Erscheinungen zielenden Sehnsucht, zwischen den Wonnen der Gewöhnlichkeit und ihrer argwöhnischen Begutachtung. Kennzeichen dieser Novelle sind eine straffe, überwiegend lineare Handlungsführung, der Wechsel zwischen einem stark raffenden Handlungsbericht und dem gezielten Einsatz szenisch und breiter ausgebildeter Partien an den Höhe- und Wendepunkte, während die Handlung am Schluss meist ausklingt und die Zukunft der Figuren nur angedeutet wird. Typisch sind Vorausdeutungs- und Integrationstechniken wie Leitmotive, Dingsymbole, die Dominanz des Ereignishaften sowie die Einbettung der Haupthandlung in eine Rahmenhandlung. Weigoni stellte existenzielle Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit. Cyberspasz spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht Weigoni in diesen Novellen die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.

 

 

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Unerhörte Möglichkeiten, Kurznovellen von Herrn Nipp. Edi­tion Das Labor, 2012

Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Delta … als sei ihre Unsichtbarkeit nichts weiter, von Angelika Janz, 2022

Vignetten, Novelle von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Der Dieb, ein Novellenbuch von Georg Heym, Rowohlt 1913

Fenitschka / Eine Ausschweifung, zwei Novellen von Lou Andreas-Salomé 1898

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

 

Weiterführend →

„… Jahr 2022 … die überleben wollen“ (Originaltitel: Soylent Green) ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1973 unter der Regie von Richard Fleischer (Nomen est omen). Der Regisseur zeigt das radikale Bild des sich selbst verzehrenden Wahnsinns kapitalistischer Produktionsweise. Die notwendigen Folgen der Verdinglichung von ‚Menschenmaterial‘ bis hin zur Selbst-Vernichtung werden dem Zuschauer eindrücklich vor Augen geführt. Mögliche Folgen exzessiver Nutzung endlicher Ressourcen, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung werden in einem Zukunftsszenario thematisiert. In diesem Film werden bereits Probleme wie die Überfischung der Weltmeere und die globale Erwärmung durch die Nutzung fossiler Brennstoffe thematisiert. Der Film erschien ein Jahr nach dem Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome und gehört somit zu den ersten Ökodystopien. Daher gehört dieses Meisterwek des Trash auf Wiedervorlage.