Die schöne Polin – Die Tolle

Die drei Wochen bis zu meinem nächsten Besuch im Salon der schönen Polin wurden eine lange Eiszeit, deren Ende ich entgegenfieberte. Es war, als wollte mich die Zeit auf die Folter spannen. Täglich prüfte ich im Spiegel das Wachstum meiner Haare – bis mir endlich die Tolle wieder über die Stirn fiel. „Ihre Haare wachsen ja immer schneller, immer stärker“, wunderte sich die Meisterin. „Das liegt an Ihrer Zauberkraft“, sagte ich, „you put a spell on me.“ – „Ich tu, was ich kann.“ – „Seit Sie mir das Haar schneiden, wächst es immer wilder, immer schneller und stärker.“ – „Dann kommen Sie ja bald schon in zwei Wochen wieder zu mir“, sagte sie. – „Ich hätte nichts dagegen“, sagte ich, „wenn sich die Zeitabstände noch weiter verkürzen.“ – „Nicht dass Sie noch wie Samson enden“, sagte sie und ging mit der elektrischen Schere über meine Augenbrauen … Ich streckte beide Arme hoch: „Seien Sie vorsichtig … geblendet haben sie mich ja schon längst.“ – Ich hatte Glück, ein biblisches Ende blieb mir erspart. Und ich gewann die Gewissheit, meinem eigentlichen Ziel nicht einen Schritt näher gekommen zu sein.

 

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Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.