Der Mann ohne Eigenschaften – eine Utopie?

Die Dichtung hat nicht die Aufgabe, das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll; oder das, was sein könnte, als Teillösung dessen, was sein soll.

Robert Musil

 

Der Romanbeginn mit der leicht ironisch an Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit angelehnten meteorologischen Beschreibung eines schönen Augusttages 1913, dem Spiel mit der Fiktionalität der hier auftretenden Romanfiguren und dem Autounfall, der die Ortsbeschreibung ins Dramatische ausweitet, lässt sich verstehen als vorausweisende Anspielung auf die fragwürdige Identität des Helden und der anderen Gestalten in der Figurenkonstellation des Romans, der offenbar ein sinnlich philosophierender Essay über die Frage ist: Was ist die Person? Was ist deren Schicksal, und was ist das, was wir Geschichte und Geschichtsschreibung nennen, und zwar im doppelten Sinn des Begriffs Geschichte. Ist jeder seines Glückes oder Unglückes Schmied? Welche Rolle spielt das, was wir Zufall nennen?

Der Autounfall am Ende des 1. Kapitels wird erzählt ohne Untersuchung seiner Ursachen. Er spielt möglicherweise auch an auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, auf eine gesellschaftliche Katastrophe im größten Maßstab, vielleicht ist hier schon das Scheitern der Romanvollendung angelegt, der trotz größter Bemühung seines Autors ein Fragment blieb und weder eine kausale Geschlossenheit noch einen Sinn unserer Existenz aufzeigt. Statt Scheitern kann man auch sagen: das Ende des Romans ist offen.

Ulrich, die Hauptfigur des Romans, fasst sich als einen Essayisten seines Lebens auf, als einen ‚Versucher‘, als Sucher einer besseren Welt. „Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt?“ (62. Kapitel Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus)

„Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, die Forderungen, daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daß man sich dessen, was sich nie ganz verwirklichen läßt, zu bemächtigen und am Ende vielleicht so zu leben hätte, als wäre man kein Mensch, sondern bloß eine Gestalt in einem Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das übrige magisch zusammenschließe, – alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.“ (116. Kapitel Die beiden Bäume des Lebens … und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele) In diesem Versuch bilden Robert Musil und seine ‚essayistische‘ Romanfigur Ulrich eine Einheit. So erzählt der Roman in der ironisch-kritischen Darstellung der Zeit am Beispiel „Kakaniens“ (gemeint ist der Vielvölkerstaat der Donaumonarchie) die Utopie eines besseren Lebens. Ulrich ist entschieden der Ansicht, „daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“ (62. Kapitel)

Der 32-jährige Protagonist des Romans, dessen Nachname mit (fiktiv-ironischer) Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung seines Vaters nicht genannt wird, geht unentschieden durch sein Leben, halb suchend nach einer existenziellen Bestimmung, die seinem Wesen gerecht wird, und so ist er in seinem dritten Berufsversuch – dem Autor sehr ähnlich – Mathematiker geworden, nachdem er Karrieren beim Militär und in der Technik verworfen hatte; halb nimmt er hin, was die Zufälle des materialistisch aufgefassten Seins ihm bieten. Er sieht sich daher als einen Mann ohne Eigenschaften. Sein Vater, ein bedeutender Jurist, vermittelt ihm eine Tätigkeit bei Graf Leinsdorf, einem hochgestellten Regierungsbeamten, und arbeitet mit an der Organisation der „Parallelaktion“: Im Jahr 1918 soll Franz Joseph als „Friedenskaiser“ des „wahren Österreichs“ mit seinem 70-jährigen Regierungsjubiläum das 30-jährige Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. überbieten. Alle Schichten und Eliten der Bevölkerung sollen für diesen Zweck aufgeboten und begeistert werden, um die Größe eines „Weltösterreichs“ zu präsentieren. Genauere Sinnfindungen werden im ‚Konzil‘ diskutiert, eine Versammlung eingeladener, bedeutender Köpfe. Sie tagt im Haus von Diotima Tuzzi, Ehefrau eines wichtigen, für Außenpolitik zuständigen Sektionschefs in der Regierung und Cousine Ulrichs. Brisant ist die Teilnahme des universal gebildeten Unternehmers Paul Arnheim, eines Preußen, den Diotima verehrt und der eine starke Wirkung auf alle anderen ausübt; Arnheim ist eine hintergründig kritische Parodie des neuen Menschen im regierenden Zeitgeist, Musil lehnt ihn an den deutschen Unternehmer und Politiker Walter Rathenau an. Der Preuße Arnheim glaubt, „daß das schaffende und recht beschaffene Leben beiweitem ein größeres Gedicht sei als alle, die Dichter in ihren Schreibstuben ersannen“. Er wünscht, dass die Hoffnung, Kultur im ganzen könne ‚poetisiert‘ werden, den Platz der aufklärerischen Hoffnung einnimmt, Kultur könne ‚vernünftig‘ gemacht oder ‚verwissenschaftlicht‘

werden … Auch ein einzelner Mensch kann ein Gedicht sein, und so kann er seinem Leben Sinn geben – selbst den konservativen, regierungsklugen Hofrat Graf Leinsdorf hält er für ein Gedicht, seine Arbeit habe poetischen Charakter. Überhaupt zieht den Preußen Arnheim Österreich an, hier gebe es noch Vergangenheit, die Menschen hätten sich noch etwas von der ursprünglichen Intuition bewahrt, nur von diesem seelenvollen Land könnte „die Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen“, doch „wir leben sozusagen im Zustand eines mit Ideen bewaffneten Moralfriedens.“ Die großen Ideen könnten sich nicht gegen die Widerstände in einer immer rationaler werdenden Welt durchsetzen. (114. Kapitel Die Verhältnisse spitzen sich zu …) Arnheim ist der aktive, handelnde Universaldenker und Unternehmer, der Rationale und offene, poetische Gestalter, für den die Liebe das übergreifende Movens und Ziel bedeutet – Ulrich scheint da gar nicht so weit von Arnheims Ziel entfernt zu sein, beide wollen die Welt verbessern. Doch wenn Arnheim sagt: „Wir werden geboren, um uns unser Königreich selbst zu schaffen“ (112. Kapitel Arnheim versetzt seinen Vater unter die Götter und faßt den Beschluß, sich Ulrichs zu bemächtigen …), so meint er damit den Wirtschaftsliberalismus, also die Idee, mit der Zeit und mit den Moden zu gehen und „diesen bewährten Fabrikationsgrundsatz auch auf die Herstellung des Lebens anzuwenden“ (90. Kapitel), und das ist keine Gesellschaftsutopie, wie sie Ulrich vorschwebt.

Ulrich fühlt sich zwar seinem „aktiven Passivismus“ zugehörig, aber ihm dämmert, „daß sich die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird, zum Teil überlebt hat und durch eine planmäßige Lösung, „an der alle beteiligt sind, die es angeht, ersetzt werden muß.“ (Schluss des 83. Kapitels Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?) In einer heftigen Diskussion mit Walter behauptet er (84. Kapitel Behauptung, daß auch das gewöhnliche Leben von utopischer Natur ist), ähnlich wie Arnheim, „daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte.“ Als ihm Walter vorhält: „… dein Leben nach Art der Kunst … bedeutet nichts anderes als das Ende der Kunst“, antwortet Ulrich lachend: „Weißt du denn nicht, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre?“

Arnheim meint: „… letzten Endes kommen alle Gedanken aus den Gelenken, Muskeln, Drüsen, Augen, Ohren und den schattenhaften Gesamteindrücken, die der Hautsack, zu dem sie gehören, von sich im ganzen hat. Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht einen schweren Irrtum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Überzeugung, Begriff und Charakter zu viel Wert legten … Also sann Arnheim als Kaufmann und zugleich bis in die zwanzig Spitzen seiner Finger und Zehen erregt über den freien geistig-körperlichen Verkehr einer bevorstehenden Zeit, und es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß etwas Kollektives, Panlogisches im Entstehen sei und daß man sich, den veralteten Individualismus verlassend, mit der ganzen Überlegenheit und Erfindungsgabe der weißen Rasse auf dem Rückweg zu einer Reform des Paradieses befinde …“ (90. Kapitel Die Entthronung der Ideokratie)

Da wird deutlich, dass Arnheims Begriff einer Poesie des Lebens im Gegensatz zu Ulrich darin besteht, den Kapitalismus als freies Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte mitschöpferisch sich entfalten zu lassen und als angemessene Lebensform zu gestalten: „Der Kapitalismus, als Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung …“, denkt er. „Ein moralisches Leben kam ihm als etwas Totes vor, und eine verborgene Abneigung gegen Moral und Ordnung machte ihn erröten. Es erging Arnheim nicht anders wie seinem ganzen Zeitalter. Dieses betet das Geld, die Ordnung, das Wissen, Rechnen, Messen und Wägen, alles in allem also den Geist des Geldes und seiner Verwandten an und beklagt das zugleich.“ Im Hinblick auf seine Liebe zu Diotima begründet er seine Unentschlossenheit mit den Worten: „Ein seiner Verantwortung bewußter Mann darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!“ (106. Kapitel Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit) Man müsse mit der Zeit gehen, meint Arnheim, der trotz und wegen der persönlichen Unterschiede – Arnheim verwirft vor allem Ulrichs Auffassung, „das Leben müsse sich dem Geist anpassen“, weil so das Leben zu kurz komme – Ulrich für sich gewinnen will, auch seine Freundschaft: „Dieser Mann besaß noch unverbrauchte Seele: da es sich um eine intuitive Eingebung handelte, hätte Arnheim nicht genau angeben können, was er damit meinte; aber irgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, so daß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen.“ (112. Kapitel)

Je länger die Vorbereitungen der Parallelaktion andauern, umso komplexer wird alles, die große Sache gewinnt skurrile und satirische Züge, wird unrealistischer und schließlich absurd – wie im 85. Kapitel General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen) – man sucht ihre Bestimmung, ihre Seele, und es bleibt im Grunde alles eine Aktion ohne Eigenschaften; ihrer Entwicklung fehlt es an Zusammenhang, sie ist ziellos, ungesteuert und zufällig. General Stumm, der zunächst nicht gerade als ein Repräsentant der geistigen Elite erscheint, macht mit seinem einfachen, aber unverstellten Verstand klar, dass die Suche nach der großen Idee für die Parallelaktion, also die Suche nach dem Wesen und der Ordnung „Weltösterreichs“

nicht gelingen kann. In einem kabarettistisch anmutenden Vergleich der zivilistischen Ordnung mit der Hofbibliothek erklärt der General im Gespräch mit Ulrich: „… jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommen zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie!“ Der Bibliotheksdiener, so Stumm, habe ihm vorgeschlagen, er solle „Kant lesen oder so etwas dergleichen, über die Grenzen der Begriffe und des Erkenntnisvermögens.“

Stumm erkennt am Militär, wo die größte realisierte Ordnung herrscht: „Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über.“ Schließlich fragt der General sich sogar: „‚Und was ist denn überhaupt Geist?! … Er geht doch nicht um Mitternacht in einem weißen Hemd um; was sollte er also anders sein als eine gewisse Ordnung, die wir unseren Eindrücken und Erlebnissen geben?! Aber dann,‘ schloß er entschieden, mit einem beglückenden Einfall ‚wenn Geist nichts ist als geordnetes Erleben, dann braucht man ihn in einer ordentlichen Welt überhaupt nicht!‘ “ Hier spricht im ‚Narrengewand‘ des Generals wohl auch der Autor selbst. Vielleicht wird der Humor dieses Kapitels noch übertroffen im 13. Kapitel des Zweiten Buchs (Ulrich kehrt zurück und wird durch den General von allem unterrichtet, was er versäumt hat), als klar wird, dass sich Stumm und Ulrich gegenseitig vollkommen durchschauen: „ ‚Weißt du, daß du ein Schuft geworden bist?! Auf dein Wohl!‘ “, prostet Ulrich. – Es sind gerade diese Kapitel besonders treffende Karikaturen Kakaniens, die ein nüchternes Bild der Existenz des Einzelnen und der Gesellschaft zeichnen.

Alles stagniert, das ‚Konzil‘ im Hause Tuzzi scheitert von Anfang an, das wird allen bewusst, als es zum Eklat kommt (116. Kapitel): Der inner circle – Graf Leinsdorf, Ulrich, Arnheim, Diotima, General von Stumm und Tuzzi, der Hausherr – ist uneins, die Ideen und Kräfte stehen sich gegenseitig im Wege. Untergründig laufen längst Intrigen zwischen den beteiligten Interessengruppen – diese finden in den wachsenden außenpolitischen Spannungen ihre Entsprechung. Ulrich schlägt schließlich überraschend eine „geistige Generalinventur“ vor: „Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie“, sagt er zu Leinsdorf, „im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!“ Diese Äußerung ist zugleich gegen Arnheim, den Mittelpunkt des Konzils, gerichtet, was Leinsdorf gefällt, weil ihn der Preuße in seinem „Weltösterreich“ stört, und so verteidigt er Ulrich, auch wenn er sich nicht wirklich hinter ihn stellt und wohl auch gar nicht vollkommen begreift, während Arnheim Ulrich scharf angeht: „Glauben Sie denn selbst an alles, was Sie gesagt haben?!“ Ulrich fühlt sich isoliert in der Runde. Er erinnert sich in dieser Situation daran, dass er Tuzzi einmal verriet, „er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche“. In diesem Motiv verbindet sich das individuelle Lebensmoment mit dem gesellschaftlichen Ganzen. Ulrich will kein Leben als Mann ohne Eigenschaften, der sich weder für eine Frau entscheiden kann noch in einer Welt leben will, der er sich unterwerfen soll. Er befürchtet, dass seine Versuche, auf die Wirklichkeit einzuwirken, scheitern.

Liebe und Ehe gehören zum enzyklopädischen Plan des Romans. Im 38. Kapitel (Clarisse und ihre Dämonen) schildert der allwissende Erzähler das leidenschaftlich-innige vierhändige Klavierspiel des mit Ulrich befreundeten Ehepaars, Clarisse und Walter, so anschaulich, dass der Leser meint, der Erzähler beschreibe in vierhändiger Virtuosität die manischen Gefühlserregungen des Paars, dessen Gemeinsamkeit und Gleichklang sich jedoch nur in der Musik ausdrückt, als wären eheliche Defizite zu kompensieren. Doch da „sprang Clarisse mitten im Spiel auf und schlug das Klavier zu, so daß Walter kaum die Finger retten konnte. Oh, tat es weh! Noch ganz erschrocken, begriff er alles. Das war Ulrichs Kommen … Ganz und gar liebe sie Ulrich nicht, versicherte sie … Aber sie fühle sich angesteckt durch ihn wie ein Licht. Sie fühle sich wieder etwas mehr leuchten und gelten, wenn er in der Nähe sei … Und was sie fühle, ginge keinen an, Ulrich nicht und Walter nicht!“ Die Szene wirkt im Kontext der essayistischen Abhandlungen über Geist und Seele wie ein Scherzo; überhaupt ist so manches, das in der Erzählung sehr ernst daherkommt, voller Ironie.

Clarisse erzählt (im 70. Kapitel Clarisse besucht Ulrich, um ihm eine Geschichte zu erzählen) Ulrich von einem Erlebnis, das die Macht des Körperlichen noch eindrucksvoller zeigt: Ihr Vater, van Helmond, verliebt sich, als Clarisse 15 Jahre alt ist, in ihre ebenso junge Freundin Lucy, und Lucy lässt es sich gefallen. Als Lucy unerwartet zu einer Reise abgeholt wird, fällt van Helmond in eine tiefe Depression, er malt auch nicht mehr. Eines Nachts bemerkt Clarisse, wie jemand zu ihrem Zimmer die Treppen hochsteigt, und sie ahnt sofort, dass es ihr Vater ist, der die Tür öffnet und sich zu ihr ins Bett legt. Mit einer Hand streichelt er ihr Gesicht, die andere berührt ihre Brust und will tiefer gleiten – Clarisse kann sich ihm entwinden.

Im 73. Kapitel (Leo Fischels Tochter Gerda) werden Anfänge des Faschismus angedeutet: Gerda, Tochter des jüdischen Bankiers Leo Fischel, liebt einen jungen Mann, der dem „christgermanischen Kreis junger Leute“ angehört, er ist „Gegner der jüdischen Gesinnung“. Der Vater ist fast machtlos, zumal seine Frau nicht zu ihm hält. Er bittet Ulrich, seine Tochter zum Abbruch ihrer Beziehung mit ihrem christgermanischen Freund Hans Sepp zu bewegen.

In den letzten Kapiteln (117-123) des Ersten Buchs spitzt sich die Unfähigkeit zu lieben und die Einsamkeit der Romanfiguren zu.

Soliman, der junge, fast noch knabenhafte Diener Arnheims, und Rachel, das junge Hausmädchen Diotimas, finden nur mühsam zueinander, nicht nur weil sie beide jung und unerfahren sind, sondern Tag und Nacht abhängig sind von ihrer Herrschaft, bei der sie wohnen, so dass sie kein freies Privatleben haben. Sie treffen sich heimlich in Rachels Kammer und befriedigen ihren Trieb in Angst und Gefahr, entdeckt zu werden, in unbequemen Verhältnissen und unter Zeitdruck, Rachel zudem in der Gefahr, schwanger zu werden. (117. Kapitel Rachels schwarzer Tag)

Das folgende Kapitel deckt erneut auf, wie brüchig die Ehe von Walter und Clarisse ist. Sie will kein Kind von ihm: „Statt selbst etwas zu leisten, möchtest du dich in einem Kind fortsetzen!“ Clarisse verweigert sich ihrem Mann und erklärt ihm, wie widerwärtig er ihr sei. Zur Eifersucht Walters auf Ulrich, die sie schon lange schürt, sagt sie: „Wenn du Ulrich töten willst, so töte ihn doch! … Wenn er dich an deinem Werk hindert, so darfst du ihn aus dem Weg räumen!“ Walter ahnt, dass Clarisse allmählich dem Wahnsinn verfallen wird.

Inzwischen hat sich Gerda von Hans gelöst, der ihr mit seinem völkischen Geschwätz nur wichtig war, um Distanz zu ihren Eltern zu schaffen und erwachsen zu werden – ein schwieriger Akt in der bürgerlich verfassten Gesellschaft dieser Zeit. Sie schwärmt für Ulrich, aber es ist nur eine Gegenbewegung zum bisherigen Zustand. Sie sucht seine Nähe, sie will ihm eine wichtige Neuigkeit über Arnheim mitteilen und besucht ihn. Ulrich nutzt die Gelegenheit, er verführt sie und macht sich über sie her „wie ein großer Hund über einen heulenden kleinen“, wie er später selbst erkennt – viel zu schnell kommt das für Gerda, Ulrich zieht sie in sein Schlafzimmer, er zieht sich aus, sie schamhaft ebenso: „Es muss sein!“, denkt sie und schlüpft wie ein kleiner Junge unter die Bettdecke, wo sie kleine Angstschreie ausstößt, als Ulrich sich ihr nähert. (119. Kapitel Kontermine und Verführung – die Szene ist vorgebildet in Tonka, der dritten Erzählung des Erzählbandes Drei Frauen.) Der halb ersehnte, halb gefürchtete Akt endet, bevor er beginnt. Das sexuelle Fiasco spiegelt die triebunterdrückende Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft vor Ausbruch des Krieges. Das zeigt sich auch an der Ehe von Diotima und Tuzzi – Diotima liebt Arnheim, ihre Sehnsucht bleibt zu lang platonisch, ihr Bild von Arnheim wird immer idealisierter, und damit unwirklicher, bis ihre Liebe am Ende unmöglich wird.

Das Gleiche zeigt sich, als Clarisse Ulrich besucht, nachdem es in der Stadt zu einem verhaltenen Aufruhr vieler Gegner der Parallelaktion gekommen war, der sich nun wieder legt – er ist sozusagen der kollektive Hintergrund zu den exemplarischen Ereignissen im Vordergrund der Romanfiguren. Ein weiterer, allerdings individueller Hintergrund ist die Aussprache (121. Kapitel) zwischen Arnheim und Ulrich: Arnheim versucht Ulrich zu gewinnen, indem er ihm anbietet, sein Generalsekretär zu werden. Ulrich sagt nicht zu, er will sich die Antwort überlegen. In dieser Aussprache zeigen sich beide weltanschauliche Kontrahenten erstaunlich selbstkritisch; Arnheim will Ulrich nicht nur aus narzisstischen Motiven gewinnen, sondern als Ideengeber in der Wirtschaft verwenden, damit diese nicht betriebsblind wird. Da trifft Clarisse auf Ulrich, der gerade erfährt, dass sein Vater gestorben ist. Clarisse will ein Kind von Ulrich. Nun ist er es, der sich verweigert. Ihn erschreckt der deutlich schärfer sich abzeichnende Wahnsinn Clarissens. Er will kein ‚schattenhaftes‘ Leben in einer Beziehung, die begleitet ist von bürgerlichen Zwängen und dessen Krankheitssymptomen. Er erkennt, „dass seine Einsamkeit – ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband – … daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. ‚Welche Welt?‘ dachte er. ‚Es gibt ja gar keine!‘ “ (123. Kapitel Die Umkehrung)

So ernst die Romanfiguren zunächst gezeichnet scheinen, so steckt doch a priori ein satirisches Potenzial in ihnen, das nicht immer sofort, sondern sukzessive aufgedeckt wird, etwa durch den Zusammenhang einer Person mit der Parallelaktion, die als satirisches Großmotiv von Anfang an deutlich wird, oder es zeigt sich in den Szenen, wo das private Leben die Größe der Person dekonstruiert. Diotima zum Beispiel offenbart in ehelichen Schlafzimmersituationen nicht nur ihre unerfüllten Gefühle, sondern in Träumen und schwankenden Gefühlen ihre Unentschlossenheit und Fragwürdigkeit ihrer Leidenschaft für Arnheim, während sie im ‚Konzil‘ wie eine zweite Rahel von Varnhagen auftritt und allen groß erscheint. In den beiden Großschriftsteller-Kapiteln (95 und 96) leistet der Erzähler die satirische Charakterisierung Arnheims in essayistischen Gedankenspielen über den Begriff Großschriftsteller – mit vernichtendem Ergebnis für diese so schillernde Romanfigur und damit auch für ihr liberalistisches Weltbild.

Die ernste wie die satirische Ebene ergänzen sich gegenseitig, beide sind gültig. Nicht der Ernst eines einzelmenschlichen Schicksals und einer Gesellschaft wird der satirischen Kritik unterworfen, sondern Unfähigkeit, Scheitern und Sinn menschlichen Handelns.

Ulrich demonstriert, dass er im Zufallsspiel der Handlungen und in seinem Schicksal nur wenig, vielleicht auch gar nichts willentlich oder durch eigene Taten bewirken kann – er ist ein „Mann ohne Eigenschaften“, und das, was man für ‚seine‘ Eigenschaften, seine ureigene, erarbeitete Identität oder Seele halten könnte, beruht auf Glauben, Suggestion, Fiktion oder Konsens. Ulrich analysiert nicht nur die Scheinwerte seiner Zeit, insbesondere die eines sich selbst täuschenden Bürgertums, sondern auch konsequent sich selbst. Das lähmt zwar nicht seine Neugier und kritische Aktivität, macht ihn aber oft handlungsunfähig, lässt ihn unentschieden sein, und so besitzt er auch keine Bindungsfähigkeit: weder in seinem beruflichen Werdegang noch in der Liebe. Ulrich selbst spiegelt die „Schlußneurose einer an sich selbst zweifelnden und verzweifelnden Zeit“ (Adolf Frisé) und zwar innerhalb eines einzigen Jahres vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Die Fragwürdigkeit der Seele demonstriert der im 18. Kapitel beginnende und über den Roman verteilte Zyklus des Frauenmörders Moosbrugger, der zum Tode für seine ungewollt-unbewussten Taten verurteilt werden will – sein Schicksal ist nur eine extreme Variante der Seins-Willkür von Zufall und Fremdbestimmung, der alle Menschen ausgesetzt sind. Moosbrugger begreift sich und seine Lage nicht. „… Er ahnte sie dunkel … So saß er als die wilde, eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab.“ (110. Kapitel Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung) Geht es den komplex miteinander verwobenen und in unendliche Handlungs- und Beziehungsmöglichkeiten lebenden Figuren dieses Romans anders, wenn sich ihnen konkludente Antworten auf die Sinnfrage weder makrokosmisch erschließen noch im Mikrokosmos ihres Lebens? Die Funktion der Moosbrugger-Kapitel ist es offenbar, diese Erkenntnis zuzuspitzen. Auch hier geht es um die Frage, ob das Leben sich dem Geist anpassen solle oder umgekehrt; der Jurist „holt seine Begriffe nicht aus der Natur, sondern durchdringt die Natur mit der Flamme des Denkens und dem Schwert des Sittengesetzes“ (111. Kapitel Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen).

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Wenn im Zweiten Buch der dritte Teil mit dem Titel Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher) Ulrichs Schwester Agathe ins Geschehen eintritt, bekommt der Roman, der mit dem stagnierenden ‚Konzil‘ auf der Stelle zu tritt, neue Fahrt. Ulrichs Vater ist gestorben, die Geschwister treffen sich nach langer Zeit wieder und entdecken sich gegenseitig. Am Vorabend der Beerdigung bemerkt Ulrich an Agathe „die Ähnlichkeit des Gesichts. Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal erfaßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei; …“ (II. Buch, 4. Kapitel Ich hatt‘ einen Kameraden) Die beiden kommen sich näher, sie verstehen sich und spüren ihre Zusammengehörigkeit, sie diskutieren Tag für Tag über die Begriffe des Lebens. „Was man heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrängt von kollektiven und schließlich statistisch erfaßbaren Vorgängen“, doziert Ulrich (II. Buch, 8. Kapitel Familie zu zweien), während Agathe intuitiver, konkreter und emotionaler zu den Dingen des Lebens sich verhält. Sie offenbart Ulrich, dass sie sich von ihrem Mann, den sie nie wirklich liebte, trennen will. Ulrich versteht nicht, warum sie ihn dann überhaupt heiratete. Und von den Motiven des Handelns, und die Frage von Gut und Böse kommen sie ins Philosophieren: „Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. […] Die moralische Argumentation ist daneben nur ein Mittel zum Zweck mehr, ein Kampfmittel, von dem man ungefähr ebenso Gebrauch macht wie von der Lüge.“, sagt Ulrich. In diesen Gesprächen wächst allmählich seine Nähe zu Agathe: „Agathes Verhältnis zu ihm, das zwischen Schwester und Frau, Fremder und Freundin schwebte, und mit keiner von allen gleichzusetzen war, bestand auch nicht, worüber er schon oft nachgedacht hatte, in einer Übereinstimmung der Gedanken oder Gefühle, die besonders weit gegangen wäre; aber es war […] Tatsache geworden, daß Agathes Mund ohne jeden anderen Anspruch auf seinem Haar ruhte und daß das Haar warm und feucht von ihrem Atem wurde. Das war so geistig wie körperlich; …“ (II. Buch, 11. Kapitel Heilige Gespräche. Beginn) Agathe dringt in ihn, sie will wissen, was er glaubt. Und zwar als ganzer Mensch mit seinem Wollen, seiner Sehnsucht und seinen Gefühlen, nicht nur als Geistmensch. Schließlich öffnet er sich und formuliert sein großes Glaubensbekenntnis, das sich zwar unter dem Satz ‚Ich glaube, dass ich nichts glaube‘ zusammenfassen ließe, also wieder zurücknimmt, und doch scheint zwischen den einzelnen Sätzen hindurch, dass er eine bessere Welt will: „Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind. […] Aber ich glaube vielleicht, daß die Menschen in einiger Zeit einesteils sehr intelligent, andernteils Mystiker sein werden. Vielleicht geschieht es, daß sich unsere Moral schon heute in diese zwei Bestandteile zerlegt. Ich könnte auch sagen: in Mathematik und Mystik. In praktische Melioration und unbekanntes Abenteuer!“ (II. Buch, 12. Kapitel Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang)

Allmählich entsteht zwischen den Zwillingsgeschwistern eine erotische Spannung – sie erwächst aus zunächst platonischen Vorstellungen: Früh formuliert Ulrich den Begriff des „Tausendjährigen Reichs“, den er noch nicht auf seine Schwester und sich bezieht, sondern allgemein auffasst: als eine Liebe, „die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet!“ Gemeint ist ein Leben aller, schon auf Erden, „geformt nach uns selbst und doch keins der Reiche, wie wir sie kennen! Und so werden wir leben! Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, daß wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!“ Diese Utopie menschlichen Zusammenlebens kommt hier noch als Scherz daher – und hat doch ernste Bedeutung und enthält den Keim der sexuellen Liebe zwischen Ulrich und Agathe. (II. Buch, 15. Kapitel Das Testament) Der Zusatz zum Titel des III. Teils (Die Verbrecher) bezieht

sich halb ernst, halb ironisch auf den Bruch von Gesetz und Moral: Agathes von Ulrich zwar getadelter aber geduldeter Fälschung des Testaments, mit der sie ihrem Ehemann schaden will, und auf die latente Inzestbereitschaft: Im 21. Kapitel des III. Buchs (Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen) fühlt Agathe: „Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht, in wen … Man hätte in diesem Augenblick ebensowenig sagen können, daß sie es ablehne, zu ihrem Bruder in unerlaubte Beziehungen zu treten, wie daß sie es wünsche. Das mochte von der Zukunft abhängen.“ Und Ulrich „wußte, daß er nicht nur im Scherz … den Ausdruck ‚Tausendjähriges Reich‘ gebraucht habe. Wenn man dieses Versprechen ernst nahm, kam es auf den Wunsch hinaus, mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen weltlichen Verfassung zu leben, daß man nur noch das fühlen und tun kann, was diesen Zustand erhöht und erhält.“ Zum ersten Mal bezieht er nun in seinen Gedanken das allgemeine Werk gegenseitiger Liebe auf Agathe und sich, bleibt aber unsicher und versucht sich einzureden, dass sein Gefühl für Agathe Einbildung sei (III. Buch, 22. Kapitel Von der Koniatowski’schen Kritik des Danielli’schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester), bis er seiner Schwester sagt, was er zu erkennen glaubt: „Ich weiß jetzt, was du bist: Du bist meine Eigenliebe! … Mir hat eine richtige Eigenliebe, wie sie andere Menschen so stark besitzen, in gewissem Sinn immer gefehlt.“ Ulrichs Fortschritt liegt darin, dass er langsam beginnt sich selbst anzunehmen, wenn auch nur vermittelt durch die ihn anregende Schwester, so dass er vielleicht doch noch fähig werden kann zu lieben.

(III. Buch, 24. Kapitel Agathe ist wirklich da)

Die Motiv- und Handlungsstränge der zu Lebzeiten Musils veröffentlichten Kapitel bleiben offen. Sie enden mit einem Besuch der Irrenanstalt, in der sich der Triebmörder Moosbrugger befindet, und mit dem Scheitern von Parallelaktion und Konzil. Am ehesten erscheint der Moosbrugger-Strang abgeschlossen, obwohl es bei der grotesken Führung durch die Irrenanstalt nicht zu der von Clarisse gewünschten Begegnung mit dem Mörder kommt. Wichtiger als er wird der Vergleich der Irren mit der kakanischen Völkergemeinschaft, die für den Zustand Europas in der Juli-Krise 1914 steht. Außerdem wird an Clarisse das weitere allmähliche Abgleiten ihrer Seele veranschaulicht. Während die Besucher – Clarisse und Walter, Clarissens Bruder Siegmund, General Stumm und Ulrich – von Dr. Friedenthal, dem Leiter der weitläufigen Anstalt, von Abteilung zu Abteilung geführt werden, diskutieren der General und Ulrich über die immer kritischer werdende Lage von Konzil und Parallelaktion. (III. Buch, 33. Kapitel Die Irren begrüßen Clarisse)

Die letzten fünf Kapitel des III. Buchs erzählen, wie die Idee der Parallelaktion scheitert. Sie wird ersetzt durch eine internationale Friedenskonferenz (das wird im Nachlasskapitel General von Stumm läßt eine Bombe fallen. Weltfriedenskongress dargelegt).   Der letzte Beschluss des Konzils lautet: „Die vaterländische Aktion hat … beschlossen: Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!“

Auch der Komplex der Geschwisterliebe wird nicht abgeschlossen. Erst unter Heranziehung des Nachlasses sind Vermutungen dazu möglich, ob die schwelende Liebe zwischen den Geschwistern weiterhin platonisch bewältigt bleibt oder zu einer Lösung kommt.

In den Nachlass-Texten Musils, vor allem in den gleichsam schon fertigen Kapiteln und in wichtigen Entwürfen (Atemzüge eines Sommertages, Reise ins Paradies) geht es um das Inzestproblem, um Eskalation und Erfüllung der Geschwisterliebe von Ulrich und Agathe. Das Tabu steht hier weniger im Mittelpunkt als das Wesen der Liebe. Agathe, die ihren Mann verließ und das Haus ihres Bruders mitbewohnt, spürt im Traum, dass es schon länger richtig wäre, „einfach der Liebe nachzugeben und auf der schwindlichten Himmelsleiter, die sie hinanstiegen, der überforderten Natur eine Ruhestufe einzuräumen.“ (Nachlass, Kapitel Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung, S. 1063). In langen Gesprächen über Moral, Liebe und Selbstliebe, in denen Ulrich sein Denken oft monologisierend exponiert, gelingt es den Geschwistern, das Überhandnehmen sexuellen Begehrens zu disziplinieren – bis „es geschah“: Angezogen von der Anmut und Schönheit ihres Körpers beugt sich Ulrich über Agathe, die „niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen“ liegt. Sie werden sich des Geschehenen bewusst, sagen die Abendunterhaltung, zu der sie gehen wollten, ab und – „sie vermochten nicht, noch einmal aneinander zu rühren … sie fühlten eine unbeschreibliche Warnung, die mit den Geboten der Sitte nichts zu tun hatte. Es schien aus der Welt der vollkommeneren, wenn auch noch schattenhaften Vereinigung, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis genossen hatten, ein höheres Gebot getroffen, eine höhere Ahnung, Neugierde oder Voraussicht angehaucht zu haben.“ (Nachlass, Kapitel Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse, S. 1082f.) An späterer Stelle ist die Rede von „Verheißung“ (S. 1096) – und dies führt zu ihrer Hoffnung und Liebes-Utopie des ‚Tausendjährigen Reichs‘, die sie nicht in voreiliger Begierde vergeben wollen; vielleicht ahnen sie, dass ihnen diese höchste Erfüllung erst möglich ist in einem privaten Paradies, das allerdings eingebettet sein müsste in eine die ganze Welt umspannende Gesellschaftsordnung und Moral. Im Grunde wird die Unmöglichkeit ihrer hier nur geahnten Wunscherfüllung dem Leser jetzt schon deutlich, weil die Ungeheuerlichkeit der bürgerlichen Moral und Gesellschaftsordnung immer wieder im Roman gezeigt wird. Ulrich erkennt: „Wir empfinden ein mögliches Leben gebrochen durch das wirkliche!“ (Nachlass, Kapitel Wandel unter Menschen, S. 1104).

Ulrich und Agathe diskutieren weiter über die Liebe, deren Segen und Unsegen. Während Ulrich meint, Liebe mache blind, und das mache die Hälfte aller Probleme der Nächstenliebe aus, hält ihm Agathe entgegen: Liebe mache auch sehen, und im Bewusstsein seiner und ihrer These könne man trotz allem glücklich sein in der Welt (S. 1108), und sie fügt später hinzu: Erst in der Liebe werde die wirkliche Person ganz wirklich, also vollständig (S. 1116). Sie bewegen sich beide in utopischen Sphären, vor allem Ulrich, und es ist ihnen bewusst, sie ahnen die Unmöglichkeit oder vielmehr die Unbeständigkeit einer so radikal aufgefassten Liebe. In seinem Tagebuch, das Agathe heimlich liest, reflektiert Ulrich ausführlich den Begriff des Gefühls und kommt zu dem Ergebnis: „Ist Liebe ein Gefühl? Ich glaube nein. Liebe ist eine Ekstase. Und Gott selbst müßte sich, um die Welt dauernd lieben zu können, und mit der Liebe des Gott-Künstlers auch das schon Geschehene zu umfassen, dauernd in Ekstase befinden. Nur als solcher wäre er zu denken-“ (Nachlass, Kapitel Agathe findet Ulrichs Tagebuch, S. 1130) – eine religiöse Formulierung der gesellschaftlichen Utopie (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst).

In Ulrichs Denkart, die weitgehend der Robert Musils entspricht, ist Liebe „ein moralisches Ereignis.“ Wichtig an dieser Formulierung ist erneut die Erkenntnis, dass die Voraussetzung gelingender Liebe zwischen zwei Menschen eine gesellschaftliche Ordnung ist, in der beide diese Liebe entfalten können, weil die Gesellschaft als ganze sie ermöglicht, weil die Erfüllung des Liebesgebots ihr soziales Fundament ist. Und umgekehrt ermöglicht die Liebe der Einzelnen das Funktionieren eines solchen gesamtgesellschaftlichen Fundaments. Es ist dies wie die Formulierung des kategorischen Imperativs für die Liebe, die im Einzelnen so gilt wie im Sozialen. Das schließt die Liebe jedes Einzelnen zu sich selbst ein. Diese Gedanken werden allerdings erst zugespitzt in dem 16-teiligen Fragment Die Reise ins Paradies.

Agathe und Ulrich wissen, „daß wirklich mit der höchsten Stufe des Liebesgefühls ein Zustand des geistigen Erlöschens und der körperlichen Ratlosigkeit verbunden sein kann.“ Das muss nichts zu tun haben mit der Verheißung eines paradiesischen Zustands, den sie erhoffen. Ihre anspielungsvollen Gedanken über die „unheimliche Kunst des Stillebens“, mit der sie ihre eigene Stagnation meinen, ihren relativ glücklichen Zustand einer platonischen Liebe mit dem Surplus möglicher Weiterungen, erinnern an das ‚Nature morte‘ der Walpurgisnacht, die Hans Castorp in Thomas Manns Roman Der Zauberberg erlebt, es ist wie eine Technik der Ausdehnung der Liebe ins Unendliche … Diese stellt der Erzähler in Frage: „Das Stilleben aber, ist sein seltsamer Reiz nicht auch Spiegelfechterei? Ja, fast eine ätherische Nekrophilie?“ (Nachlass, Kapitel Es ist nicht leicht, zu lieben).

In dem Nachlass-Kapitel Atemzüge eines Sommertages (Fassung S. 1232-1239) wird die sommerliche Atmosphäre im Juli 1914 zum Sinnbild des Stillstands: „Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. … Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen … Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein Öffnen und Schließen des Auges, sie war ans Tausendjährige Reich gelangt … Es wird auch das Reich der Liebe genannt …“ Agathe begreift: „… der Wirklichkeit, und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muß man sich entschlagen. Ansichhalten muß man, bis Kopf, Herz und Glieder lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat ..!“

So scheint der Höhepunkt ihrer Liebe gedanklich erreicht zu sein, hier „wird das Leben wie ein etwas unheimlicher Traum, worin das Gefühl bis an die Wipfel der Bäume, an die Turmspitzen, an den Scheitel des Himmels steigt ..!“ Agathe erkennt, dass sie dem weltlichen Gefühl ein mystisches gegenüberstellt, und der Erzähler spricht von der „geheimsinnigen Vorstellung eines ‚Geschehens, ohne daß etwas geschieht‘ – es ist wieder dieser Stillstand, von dem die Rede war, Stillleben, Nature morte – tote Natur.

Robert Musil hatte vor, seinen Roman mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu beschließen, so dass der Moosbrugger-Aspekt mit dem Tanz wahnsinnig gewordener Völker auf dem dünnen Eis der Zivilisation und dem Einbruch in die Katastrophe zum Tragen käme: Es bedeutete das Ende jeder Utopie: Der kakanische Vielvölkerstaat scheitert. Dem kollektiven Scheitern zur Seite stellen ließ sich das Scheitern der Einzelnen – insbesondere die Liebe der Geschwister Ulrich und Agathe. Das Fragment der Reise ins Paradies – ein Text aus der Zeit 1924/25, den Musil vielleicht hätte verwenden können, um dieses private Scheitern der Liebe in seinen Roman ergänzend einzufügen – führt die Liebe aus der mystischen Gefangenschaft in die weltliche Wirklichkeit. Die Liebenden reisen an eine anonyme Mittelmeerküste, um nun auch die vollkommene physische Vereinigung zu realisieren und ein weltliches Glück dauerhaft zu erreichen, denn der bisher erreichte mystische Zustand wäre nicht aufrechtzuerhalten, er klammert die Welt aus.

Ihr Glück auf der mediterranen Insel dauert nicht lange, ihre Reise dorthin war eine vergebliche Flucht aus der Wirklichkeit in ein Scheinparadies: „Standen jetzt wie auf einem hohen Balkon, ineinander und in das Unsagbare verflochten gleich zwei Liebenden, die sich im nächsten Augenblick in die Leere stürzen werden. Stürzten. Und die Leere trug sie. Der Augenblick hielt an; sank nicht und stieg nicht.“ (S. 1656)

Sie erleben, was sie so lange hinausgezögerten: „Auf wenige Minuten konzentrierter Flug durch Seligkeit und Tod, endend, erneut, die Körper schwingen wie heulende Glocken. Aber am Schluß weiß man doch: es war nur tiefer Sündenfall in eine Welt, in der es auf hundert Stufen der Wiederholung schwebend abwärts geht.“ (S. 1672) Desillusioniert erkennen sie ihr Scheitern: Sie dürften nicht verkennen, meint Ulrich, wie sehr ihre Liebe „von der Umgebung abhängt, wie es seinen Inhalt davon erhält, daß man sich ein gemeinsames Leben vorstellt, d. h. eine Linie zwischen den andern Menschen durch.“ (S. 1674)

Dann packen sie ihre Sachen.

Robert Musils Roman ist die Geschichte eines Mannes ohne ‚Eigenschaften‘, und zwar im doppelten Sinn des Wortes Geschichte. Ohne Sinngebung keine Überwindung unserer absurden Existenz. Ulrich denkt nach der Aussprache mit Arnheim (im 122. Kapitel Heimweg), „… daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! […] Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhandengekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählbar geworden ist …“ Der Text erscheint als Linie, die sich in einem Punkt zusammenrollt, und als Punkt, der sich ausdehnt zu einer Linie. Eine Flucht wollen die Worte sein, die sich selber jagen: Erinnerung, die Zukunft voraussagt; Gegenwart, die ins Vergangene wegrutscht, Verkopftes und pure Emotion. Am Ende entzieht sich die Mitte, aus der die Stimme entsprang, die zu uns sprach, radikal trennen sich Wirklichkeit und Schreiben.

Es liegt nahe, dass Musil für seinen Roman kein Ende finden konnte, jedenfalls kein Ende mit ‚Eigenschaften‘; es gibt kein Ende mit rückwirkendem oder gar abschließendem Sinn, da weder der Erzähler und Verfasser einen solchen Sinn zu erkennen in der Lage ist noch der Leser. Es gäbe nur einen fiktiven Sinn, wie ihn fast alle Romane vor und die meisten nach Musil aufweisen, doch diese Scheinlösung für die Erkenntnisunmöglichkeit wäre die Selbstwiderlegung der Romanidee. Musil gelingt ein teils liebevoller, teils beißend-ironischer Abgesang auf Kakanien, auf die Sage der Donaumonarchie, in der die Fiktion von Staat und Gesellschaft und des eigenen Lebens noch seelenvoll erlebt werden konnte.

Der Mann ohne Eigenschaften bleibt aktuell – es geht darin um eine radikale Kritik an gesellschaftlichen und politischen Zuständen, die auch heute von einer utopischen Haltung aus reflektiert werden müssen; diese Gedanken sind eingebettet in große philosophische Fragestellungen, wie der Einzelne richtig lebt, wie es um seine Identität bestellt ist und um die Liebe in privaten und gesellschaftlichen Zusammenhängen und Abhängigkeiten.

„Musil artikuliert hier die utopische Forderung nach einer intellektuell-emotionalen Verfassung, die die Menschheit, die sich in Aggressionen, Interessengegensätzen und Egoismen selbst zu zerstören droht, neu organisieren könnte.“

(Ulrich Karthaus, Zur Aktualität Robert Musils. Vortrag gehalten am 23. Mai 1980 auf Einladung des Centre Universitaire in Luxemburg)

Der notwendig fragmentarische Charakter des Romans findet keinen Sinn im Absurden, und das ist der Suche nach Wahrheit angemessen – Anfang und Ende müssen offen bleiben in einem Roman ohne ‚Eigenschaften‘ – ohne konkrete Lösungen für die aufgeworfenen Fragen. Ob die Unmöglichkeit, ihn zu beenden, das Scheitern der utopischen Möglichkeit eines besseren Lebens in einer besseren Welt bedeutet, bleibt ebenso offen.

 

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Der Mann ohne Eigenschaften. Roman von Robert Musil. Aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Adolf Frisé. 2 Bde. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978, Reinbek bei Hamburg.

Die Kapitel aus dem Ersten Buch werden ohne weitere Kennzeichnung genannt – im Unterschied zu den Kapiteln aus dem Zweiten Buch und dem Nachlass.

Ich beschränke mich bei den Nachlass-Texten auf: Zwanzig 1937/38 in Druck gegebene, in den Korrekturfahnen indes weiterbearbeitete und wieder zurückgezogene Kapitel, die Band 2 von 1932/33 (II1) fortsetzen (II2), aber noch nicht abschließen sollten (S. 1043-1203) und Sechs Kapitel-Entwürfe in korrigierter Reinschrift (Varianten zu den ‚Druckfahnen-Kapiteln‘), an denen Musil in den beiden letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode am 15. April 1942 arbeitete (S. 1204-1239). Sowie Entwürfe zur Kapitelgruppe Die Reise ins Paradies (S. 1651-1675).

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Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.