Bonn, 25.9. La Fontana

 

Pirandello erwartete mich schon. „Signor Damonte“, rief er, „Sie haben La Traviata in Leipzig gesehen, stimmt’s?“ – „Woher wissen Sie …?“ – „Pschsch …“, machte er, „… egal! Sagen Sie, kennen Sie die Callas?“ – „Und ob!“, sagte ich, „aber nur von Schallplattenaufnahmen …“ – „Egal“, sagte er, „kurz bevor sie stirbt, singt sie, nein, sie schmettert ein ‚Ah!‘ zwölf Sekunden lang, Signor Damonte, zwölf Sekunden! Und unmittelbar danach, ohne Luft zu holen, beginnt sie, kraftvoll, das letzte Duett mit Alfredo, ich sage Ihnen, das ist wie ein Auferstehungswunder.“ – „Ja“, sagte ich, „das ist höchste Artistik und große Kunst … So geht es mir, wenn ich im Schwimmbad bin und durch das ganze Becken tauche, fünfzig Meter, Signor Pirandello, fünfzig Meter!“ – „Damonte, ich bitte Sie, das ist keine Kunst, sondern Willenskraft.“ – „Sonst nichts?“- „Na ja“, sagte er, „ich käme vielleicht zu einem anderen Urteil, wenn Sie nach dem Auftauchen lauthals die Ode An die Freude sängen – ohne Luft zu holen.“ – „Signore, jetzt widersprechen Sie sich aber“, sagte ich. „Nur scheinbar“, sagte er, „nur scheinbar, für die Kunst gilt wie für die Religion: Credo, quia absurdum.“

 

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Bonn, 25.9. Am Schreibtisch

Signore, der Sommer war sehr groß. Nun fallen schon die ersten Kastanien. Die Schatten werden länger. Bald wird es zu kühl sein, um auf dem Kaiserplatz zu sitzen. Dann sehe ich Sie nicht mehr auf Ihrem Balkon. Aber zum Glück können wir gegenseitig unsere Gedanken lesen. Aber drängen wir uns so zu unserer Vollendung hin, wenn wir uns nicht sehen, und werden wie der Wein, von dem Rilke in seinen Versen spricht, wenn uns im Winter der Kaiserplatz fehlt, die Bühne unserer Gespräche? Ach, Signor Pirandello, wir werden lesen und uns Briefe schreiben, wenn in den Alleen die Blätter treiben, bis im Frühjahr der Kaiserplatz wieder erwacht. Aber noch sehen wir uns ja, und vor uns liegt vielleicht ein goldener Oktober.

(Meine Postkarte an Sie ist nur eine Vorübung. Wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse geben, sparen wir Mühe, Zeit und Geld.)

 

 

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Pirandello-Geschichten, von Ulrich Bergmann + Selbstporträts, Damonte, Bonn 2021

Weimar ist nicht Bonn

Weiterführend →

Auch in seinem Projekt Pirandellos nutzt Ulrich Bergmann das Postkartenformat. Mit seinen „Correspondenzkarten“ verschafft er den Lesern das Vergnügen von spezieller Twitteratur. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.