Bonn, ohne Datum. Am Schreibtisch

 

Caro Signor Pirandello, in der Tat: ich begann vor 14 Jahren damit, meine Sündenfotos zu sammeln. Nicht wegen der Schönheit der Bildnisse, sondern … ich weiß nicht recht … ich ahnte, dass es eine Serie mit vielen sehr unterschiedlichen Bildern wird, vielleicht auch, weil mich eine gewisse Ästhetik des Hässlichen reizte, was die technische Bildqualität betrifft, hinzu kommt noch ein narzisstischer Aspekt, klar, selbstironisch natürlich, eine autobiografische Selbstbespiegelung also, daher der Titel „Selbstporträts“, und das Ganze mit Gerhard-Richter-Flair. Vielleicht wäre auch „Selbstfahndungen“ ein guter Titel, aber andererseits dann doch wohl etwas zu abgedreht, introvertiert oder sogar egozentrisch.

 

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Was ich dachte, bevor (oder als) die Kamera mich erwischte, habe ich so gut wie vergessen, verdrängt, oder in der Erinnerung überformt. Einmal kam ich von Köln zurück nach einer grandiosen Aufführung, Parsifal, ich fuhr wie im Rausch auf der Autobahn, die Nacht war schwarz, kein Auto vor mir, keins hinter mir, ich allein in meinem Raumschiff … Da übersah ich die Warnschilder bei Wesseling und bretterte mit 150 Sachen (statt 80) Richtung Bonn. Das kostete mich rund 170 € und einen Monat Führerscheinentzug. Am Ende eine teuer bezahlte Oper. Aber das war ich mir wert.

 

Am Neutor, ohne Datum

Mein lieber Damonte, Ihre Geschwindigkeitssucht irritiert mich. 49 Knöllchen in 14 Jahren … das ist zuviel. Sie leben zu schnell, zu kurzatmig … Sie hyperventilieren sich in einen Lebensrausch, der am Ende nichts anderes ist als – das Nichts. Gehen Sie in sich und fahren Sie langsamer durch Ihr Leben, dann erleben Sie viel mehr – nur so entgeht Ihnen dieses Nichts, vor dem Sie sich so sehr fürchten, dass Sie sich in es hineinstürzen. Schauen Sie, es ist wie mit der Liebe, sie braucht Zeit, sie will verweilen, nur stillstehen darf sie nicht, das wäre ihr Tod. Lieben Sie Ihr Leben, dann lieben Sie auch sich selbst.

 

Am Schreibtisch, ohne Datum

Lieber Pirandello, ah … die Geschwindigkeit, mit der ich durch mein Leben schwimme, schwebe, tanze, die ist mal so und mal so, mal langsamer, mal schneller. Selten langweile ich mich, das stimmt, aber ich eile mit Weile durch meinen Tag, und es ist nicht selten ein Verweilen daran schuld, dass ich mich, um pünktlich zu sein, beeilen muss, und so kommt es zu den vielen Knöllchen: Allzu lange versunken in Besinnlichkeit, passierte es mir erst neulich wieder: Ich blickte auf die Uhr, die Zeiger rannten, die Zeit war knapp geworden, ich stürzte los, um nicht zu spät zu kommen, raste mit dem Auto, um Zeit aufzuholen, über die Rheinbrücke und ging in die Falle: Polizeikontrolle! Die Zeitnot ist mein Schicksal.

 

Am Neutor, o. D.

Damonte, ich bitte Sie, kommen Sie wieder runter, auf den Boden der Tatsachen! Machen Sie sich nichts vor, Sie können die Naturgesetze nicht austricksen, und Sie können auch sich selber nicht überlisten. Sie müssen Ihre Hast aushebeln. Sie werden schon herausfinden, wie das geht. Mit der Veröffentlichung Ihrer mit polizeilicher Hilfe entstandenen ‚Selbstporträts‘

betreten Sie den Weg einer gelingenden Selbsttherapie, denke ich. Übrigens zeigen diese Porträts die Vielfalt Ihres Leidens an der Zeit, das den pathologischen Zustand der Zeit, in der wir leben, widerspiegelt.

 

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Ich mache mir Gedanken über die künstlerische Qualität Ihrer ‚Selbstporträts‘ und deren Autorschaft. Die Fotos wurden erzeugt durch automatisierte Kameras, deren Installationen und Softwareprogramme von verschiedenen Ordnungsämtern veranlasst wurden; dahinter verbergen sich also komplexe Autorengruppen, deren einzelnen Mitgliedern nicht oder kaum bewusst ist, Autoren zu sein. So gesehen sind sie als Autoren irrelevant. Der eigentliche Autor der ‚Selbstporträts‘ sind also tatsächlich Sie, Signor Damonte, da Sie die Beweisfotos zu Bildern machen, indem Sie sie in die Sphäre der Kunst rücken.

 

Am Schreibtisch

Lieber Pirandello, ich bin nicht sicher, ob mir der von Ihnen beschriebene Kunstakt bewusst war, und so frage ich mich, ob Kunst sein kann, was man unbewusst schafft. Anders gesagt: Ob ein Werk, ein Gegenstand, ein Gebilde auch vom Betrachter erzeugt werden kann, indem er den Kunstcharakter des Betrachteten behauptet. Ein anderer Betrachter könnte den Kunstcharakter einfach leugnen oder verwerfen.

Aber vielleicht ist das ja nur eine müßige Frage.

 

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Lieber Damonte, Sie haben wohl recht mit Ihren Bedenken. Wie leicht könnte nämlich jemand behaupten, er selbst sei ein Kunstwerk, und vielleicht gibt es Betrachter, die ihm zustimmen und sagen: Ja, du bist ein Kunstwerk! Und wenn es viele sagen, was dann? Und weiter: Kann dann nicht jeder Mensch ein Kunstwerk sein? Am Ende wird die ästhetische Frage eine ethische.

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Lieber Pirandello, ja, das würde uns in den Größenwahn führen. Kein Mensch kann für sich beanspruchen, in sich selbst ein vollendeter Kosmos zu sein, nur ein Artefakt als Kunstwerk kann so beschaffen sein oder wenigstens so gesehen werden. Auch ein Homunculus – mal angenommen, er ließe sich tatsächlich erschaffen – erfüllte nicht das Wesen der Kunst.

Aber ließe sich denn unser Leben als Kunstwerk auffassen und gestalten?

 

Oh, Damonte, da sagen Sie was! Lebenskunst! Das ist wohl das Höchste, das wir anstreben können. Das Leben als Kunstwerk auffassen, ja, das mag noch angehen. Aber angesichts unserer Mängel und Schwächen ist das Ziel utopisch. Ich halte immerhin den für einen Lebenskünstler, der sich diesem Ziel mit einiger Leichtigkeit zu nähern versucht und wenigstens einen Schatten des Ideals wirft.

 

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Lieber Pirandello, die Ideale und das Leben – ja … das ist so eine Sache mit den Idealen. Wenn man jung ist, sind die Ideale alles, denn man muss noch nicht nach ihnen leben, weil man nicht nach ihnen leben kann – es fehlt einfach das Geld, und es fehlt die gesellschaftliche Stellung, um Gutes zu bewirken, oder umgekehrt … Ich lese gerade Flauberts L’Éducation sentimentale, die Geschichte eines jungen Mannes, eines Tunichtguts, er lebt in den Tag hinein, kann nichts und lernt nichts Gescheites … dann erbt er und wirft das Geld mit beiden Händen aus dem Fenster, sucht den Rausch der Erlebnisse, Liebe und Luxus. Aber er weiß noch nicht wirklich, was Liebe ist … Und er weiß noch nicht einmal, dass er ein Rohdiamant ist …

 

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Signor Pirandello, so einer wie Flauberts Frédéric war ich auch einmal … Ach, diese Geschichte wiederholt sich in jeder Generation: per aspera ad astra … Ich schwanke hin und her – hier die lebenswichtigen Ideale, dort die raue Wirklichkeit. „Lass nicht zuviel uns an die Menschen glauben“, heißt es in Schillers Wallenstein. Damit will ich sagen: Was man theoretisch mit dem größten Recht fordert, etwa die Menschenrechte oder soziale Gerechtigkeit, lässt sich nur schwer und nur mit moralischen Verlusten praktisch umsetzen, denn die Menschen sind fast alle nicht so, wie man sie sich wünscht.

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Lieber Damonte, ja, es stimmt: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, sagt Schillers Wallenstein. Das ist ohne Zweifel so, ich verstehe Ihre Bedenken. Aber haben Sie in Ihrer Jugend nie sozialistisch gedacht …?

Wir müssen die Ideale hochhalten. Wenn wir es nicht tun, sind wir passive, vom Leben abgeschliffene Seelen.

 

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Lieber Pirandello, d’accord – und ich schwöre Ihnen Besserung: Meine Sammlung von ‚Selbstporträts‘ betrachte ich als abgeschlossen. Je suis condamné à être responsable.

 

 

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Pirandello-Geschichten, von Ulrich Bergmann + Selbstporträts, Damonte, Bonn 2021

Weimar ist nicht Bonn

Weiterführend →

Auch in seinem Projekt Pirandellos nutzt Ulrich Bergmann das Postkartenformat. Mit seinen „Correspondenzkarten“ verschafft er den Lesern das Vergnügen von spezieller Twitteratur. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.