Monat: Februar 2022

In statu narrandi

  In statu narrandi. Ich gehe träumerisch durch mein Leben, das steht schon in meinem ersten Schulzeugnis. Ich sehe mich in den Dingen gespiegelt. Kein Gott ist so stark wie ich, nicht einmal der Allmächtige. Ich bin der größte anzunehmende…

AM BAUM

  ich hänge, festgebunden am großen ast einer kiefer, in lichter höhe. mein gesicht, leicht nach oben gewandt, wirkt gelassen und gefaßt und verrät keinerlei schmerz, angst oder bedauern. am himmel ziehen langsam weiße wolken über mich hinweg. unter mir…

Mozart auf der Reise nach Prag

Diese Novelle gilt als die wohl „berühmteste Künstlernovelle des 19. Jahrhunderts“. Der Komponist ist mit seiner Gattin Konstanze auf dem Weg von Wien nach Prag, wo die Uraufführung seiner neuen Oper Don Juan stattfinden soll. Als man auf dem Land,…

Appell an den Geist

  Wir Menschen sind geschaffen, in Gesellschaft miteinander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, lelben voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrauchen miteinander ihren Ertrag. Man mag diese Einrichtung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung gegenüber fast allen anderen…

Manchmal

  Manchmal schreibt Herr Nipp, ohne Literat zu sein, manchmal malt er und kann es nicht, er ist bekennender Raucher und raucht nicht, strikter Abstinenzler und liebt Wein, exzessiver Leser, ohne belesen zu sein, er liebt Musik und ist unmusikalisch,…

:

  ein Kind mit zerbombtem Kiefer rennt in die Kamera dein Fernseher aber beginnt nicht zu brennen sag nennt man uns alle Menschen?   *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2022 Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In…

Erkaltete Heizkörper

  Man lehnte zu viert an dem erkalteten Heizkörper mit dem Rücken zum Tageslichtfenster. Kaum lesbar das Namensschild an der Tür, der kleiner darunter gedruckte Titel, -die auch dort angehefteten Stundenblätter wurden durch die Atemzüge der Nächststehenden bewegt. Man horchte…

Entnichtung

  Entnichtung. Mir starb der beste Freund, er schaute blind ins Leere zuletzt. Ich spürte, er hörte jedes Wort. Drei Tage vor seinem Tod bewegte er die Lippen tonlos zwei Sätze lang. Der Sterbende ist immer weniger der, der er…

ENDEVOMANFANGANFANGVOMENDE

  ich bin nicht das was sie sagen nicht der den man sich denkt nicht die die ich für dich bin nicht das was ich war für den einen nicht das was ich nie war für keinen wie sollte auch…

Vorrede

  Diese Vorrede zu dem nachfolgenden Buche, um welche ich ersucht worden, kleid’ ich vielleicht mit Vortheil in eine Rezension ein, besonders, da die eigenen Vorreden der Verfasser ordentlicher Weise nichts sind, als offene Selberrezensionen. Auch dem Hrn. Verfasser dieses…

2

  Pegelschläge. Am Strand öffnet sich ihr Sehnsuchtshorizont. Aus tiefblauem Meer ragen Felsen hervor, die versteinerten Tieren ähneln. Perlmuttfarbene Tintenfische trocknen unter der Sonne, ihre Haut ist so dünn, dass man hindurchsehen kann. Verlorene Federn. Wühlende Würmer. Laufende Limikolen beleben…

Die Götter im Exil

  Schon in meinen frühesten Schriften besprach ich die Idee, welcher die nachfolgenden Mittheilungen entsprossen. Ich rede nämlich hier wieder von der Umwandlung in Dämonen, welche die griechisch-römischen Gottheiten erlitten haben, als das Christenthum zur Oberherrschaft in der Welt gelangte.…

Der Irre

  Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die große eiserne Tür auf Er war im Vorgarten, er klinkte die Gartenpforte auf, und er war draußen. So, und nun…

Ende und Anfang sind derselbe Punkt

Ich lasse mich von den Ideen finden. Deshalb gehe ich niemals ohne Notizbuch aus dem Haus. Mein Notizbuch sieht für die meisten Menschen sehr kryptisch aus. Die umtriebige Erfurter Autorin Julia Kulewatz hat das tiefe Bedürfnis, auf eine neue Art…

Und wie ich mich so entferne

  Und wie ich mich so entferne, weiß ich schon gar nicht mehr, wo ich bin, sehe ich zu mir hinauf, oder sehe ich von oben auf mich herab, wie ich da unten stehe, so hell ins Schwarze hineingehalten, aber…

Impostor

Die fragmentarischen Reisenotizen von Boris Kerenski, der es wagt und damit etwas genuin Literarisches leistet, Bekanntes in neuem Licht erscheinen zu lassen: Sein Hollywood ist bar allen Glamours, ist ein heruntergekommener, stilloser Ort voller abgewirtschafteter Ramschläden, in dem die Menschen…

Aber der mensch unserer zeit

  Aber der mensch unserer zeit, der aus innerem drange die wände mit erotischen symbolen beschmiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. Es ist selbstverständlich, daß dieser drang menschen mit solchen degenerationserscheinungen in den anstandsorten am heftigsten überfällt. Man kann…

Tschandragupta

Meinem Sohn Paul Tschandragupta ist siebenzig Jahre alt. Am frühen Morgen wird ihn sein Sohn erschlagen. So ist es Sitte im Stamm. Und vor ihren Zelten schreien die Weiber und ihre Söhne klatschen mit ihren Händen einen wilden Freudentaumel. Der…

Haschisch in Marseille

  Vorbemerkung: Eines der ersten Zeichen, daß der Haschisch zu wirken beginnt, »ist ein dumpfes Ahnungs- und Beklommenheitsgefühl; etwas Fremdes, Unentrinnbares naht … Bilder und Bilderreihen, längst versunkene Erinnerungen treten auf, ganze Szenen und Situationen werden gegenwärtig, sie erregen zuerst…

Fragment

  Der Fallensteller wird sich ändern Ein gerettetes Stück unbestimmter Sprache Nur für geschlossne Augen ist der Raum geschaffen. und für Singvögel. Draußen stand jemand mit Stimme, es rief ihn/er schrieb (später) Lesestoff. Ihn aber nannte niemand, den er flüsternd…

Das abstrakte Theater

I Jede Zeit hat [die Kunst, die es verdient] ihr Theater, jede das Ihre, jede ein anderes. Dem künstlerischen Tiefstand unserer Zeit entspricht der Tiefstand ihres Theaters. Aber nachdem heute einige junge Quellen wirklicher Kunst aufgebrochen sind, geht endlich auch…

BILD 1. Karibische Landschaft.

  Das Meer im Hintergrund: von Türkis bis Indigo. Der Himmel oben: von Ultramarin bis Kobalt. Der Sonnenkreis in der Mitte: von Orange bis Purpurrot. Dunkelblaue Umrisse im Vordergrund: eine Frau und ein Mann. Sie sitzen in einem Café am…

Zwischen Nichts und Nichts

  Die Hineingehaltenheit meines Seins in das Nichts sehe ich vor mir, ich sehe mich in der Schwärze der Nacht, ich bin weiß und leuchte in die Nacht beim Öffnen der Raumtür, ich weiß nicht, tu ich das selber oder…

Eine Ausschweifung

  Hier in meinem lichten Atelier ist es endlich zur Aussprache zwischen uns gekommen, und nirgends anders durfte es auch sein, – denn von sämtlichen Männern, die ich gekannt, gehörst du am engsten und intimsten in alles das hinein, was…

mikroprosa der toleranz

  »Herr Nipp – Guppy in Gin« enthält neue nipp-geschichten von haimo hieronymus, entstanden 2020, die mich, wie schon die früheren aus »Die Angst perfekter Schwiegersöhne – ernste Geschichte von Herrn Nipp«, 2011, »Unerhörte Möglichkeiten / Kurznovellen aus dem Nippiversum«,…

Novelle

Indeß gereicht es mir zur angenehmsten Empfindung, daß die ‚Novelle‛ freundlich aufgenommen wird; man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde meines Wesens losgelöst hat. Die Conception ist über dreyßig Jahre alt. – Brief Goethes aus dem…

Eine Welt der ausgeschalteten Logik

  Der als Copyright der Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft erschienene Band stellt eine Auswahl der Erzählungen des russischen Schriftstellers Daniil Charms dar. Sie beruht auf der bislang vollständigsten deutschsprachigen Ausgabe Daniil Charms Alle Fälle. Das unvollständige Gesamtwerk in zeitlicher…

Reitergeschichte

  Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Streifkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit einhundertsieben Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand. Über der freien, glänzenden Landschaft lag eine unbeschreibliche Stille;…