Ein Leben ohne Poesie wäre möglich, jedoch sinnlos

  Der literarische Kanon ist ein Mysterium. So richtig kann niemand erklären, warum der eine Autor als Klassiker gilt, während der andere in den Untiefen der Bibliothekskeller verschwunden ist. Und wer dort erstmal liegt, fernab von Feuilletons und Konferenzen, hat kaum eine Chance auf Wiederkehr. Denn der Kanon ist Mainstream, und der Mainstream ist unerbittlich. So flackern die Namen der Verschwundenen höchstens noch an runden Geburts- und Todestagen durch den Blätterwald.

Konstantin Ulmer

Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, in einem postumen Fantasiebildnis des 16. Jahrhunderts.

Spätestens seit Johannes Gensfleischs (aka Gutenberg) genialer Erfindung und der Verbreitung von Martin Luthers 95 Thesen ist Autorschaft eine Grundvoraussetzung für jedwede Selbstbeschreibung der aufgeklärten Gesellschaft. Die Untergruppe Lyrik ist kein Journalismus, kein Kintopp käme auch nur in die Nähe jener Zone, in der sich Poesie bewegt; das Flüssige der Sprache, das Schöpfen aus dem Nichts, das Verknüpfen des Unverknüpften, der Mut und die Demut, sich treiben zu lassen. Die von der Technologie überwachten Menschen sind bis auf wenige Ausnahmen zum bloßen Konsumenten degradiert. Poesie zählt zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung in 2015. Es geht auf den Kulturnotizen (KUNO) um die Frage der poetischen Produktion. Es entstehen neue Textformen, mit denen die Gesellschaft sich von sich selbst erzählt: Soziale Poetik, Sound-Poetik und Social Reading. Content ist nichts, Kontext kann alles bedeuten. Schweigen wird auf KUNO Sprache. Sprache soll zu einer Handlung führen. Geht das Verständnis für die Kulturleistung Poesie verloren, zerfällt Gemeinschaft buchstäblich aufgrund von mangelndem Verständnis.

Nicht die weißen Autoren der Literaturgeschichte sind das Problem, sondern der Kanongedanke an sich. Und dieses Problem wird sich nicht lösen, indem wir den Kanon um ein paar diverse Quotenautor_innen erweitern. Denn der Kanon ist in sich eine elitäre Erzählung, die identitätsstiftend für bestimmte Schichten, ja gar für eine Nation ist, seine Bedeutung thront immer auch auf dem Stolz auf eine Zugehörigkeit zu diesen, und somit gehört er gänzlich abgeschafft.

Fatma Aydemir

Die Literaturwissenschaft hat sich auf dem weihrauchumzirkelten Altar der Hochkunst darauf beschränkt, Autorschaft und ihre Inszenierungen anhand von literarischen Texten zu untersuchen. Wir erinnern uns, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki kündigte in 2001 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel den Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke an. Diese Geisteshaltung war damals bereits in einem konservatorisch bedenklichem Zustand. Die Redaktion des Online-Magazins Kulturnotizen (KUNO, siehe auch In eigener Sache) hält diesen “Kanon” für kaum hinreichend und schafft Abhilfe, indem sie die Spielwiese des Denkens auf das tonale und visuelle des Hypertextes erweitern. Es gibt den Mythos, die Gruppe 47 repräsentiere die Literatur der Nachkriegszeit. Bei näherer Betrachtung ist festzustellen, dass Individualisten wie Arno Schmidt oder Wolfgang Koeppen nie richtig dazu gehörten, Nonkonformisten wie Albert Vigoleis Thelen und Hans Henny Jahnn geflissentlich übersehen wurden, von Rolf Dieter Brinkmann ganz zu schweigen. Auch Schriftstellerinnen – wie etwas das Spiegel-Cover-Girl Ingeborg Bachmann – hatten in dieser Herrenrunde einen eher dekorativen Charakter. Man war nicht nur misogyn, der Organisator Hans Werner Richter erinnert die Vortragweise von Paul Celan an die Diktion des Propaganda-Ministers: „Der liest ja wie Goebbels!“. Es sollte bis 1967 dauern, als der junge Peter Handke diesen Landser-Knechten mit einer Diagnose den Todesstoß gab: „Beschreibungsimpotenz“. KUNO hat sich seit jeher für die Schriftsteller interessiert, die gegen die Normpoetik verstoßen.

Klangfarben der Poesie. Mediale Schnittstellen verweisen auf intermediale Kontakte.

Daß moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Die Gattungsgrenzen werden produktiv und durchlässig. Ein Ansatz, der bei den germanistischen Fliegenschißdeutern keine große Beachtung findet, weil die Rezeption von Literatur im Gegensatz zu der von bildender Kunst größtenteils im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Beim Gedichteschreiben werden Bilder, Klänge, Rhythmen und Gefühlstönungen in Wörter überführt. Uns interessieren die Auswirkungen auf die Rezeptionsgewohnheiten, die Horizonterweiterung, der interdisziplinäre Ansatz. Namen, Zeitläufe, Kunstwerke, Alltagsdinge, die respektvolle Ordnung unseres Archivs bringt nachträglich Struktur in die unübersichtliche Welt. Unser Erkunden geht weiter, die Fortführung der digitalen Aufbereitung der Bestände ist unsere Aufgabe, was nicht im Netz ist, ist für jüngere Generationen nicht existent. Die Lücke zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert gilt es zu schließen.

Das Nichtarchivieren von fast hundert Prozent der auf Deutsch veröffentlichten Literatur im Netz ist so, als würde alle paar Tage eine Anna-Amalia-Bibliothek abbrennen.

Kathrin Passig

KUNO betrachtet den Wimpernschlag von 35 Jahren, ein kondensiertes Leben. Politische und ästhetische Opposition sind nicht voneinander zu trennen. Die Bereitschaft, die überfordernde Erfahrung der Mehrdeutigkeit auszuhalten ist dabei die Grundherausvorderung. Eine Einengung der Möglichkeiten löst ein Mehr an Kreativität aus. Wir betrachten die Muster des Vorhandenem, Einrückungen und Verrückungen, grammatische, semantische und assoziative Perspektivenwechsel. Seit 1989 bemüht sich KUNO um die „Überprüfung des Wahrnehmungsinventars“ (Benjamin). Der digital nahezu grenzenlos zur Verfügung stehende Publikationsraum will verantwortlich genutzt werden, eine Vielzahl von bislang nur werkstattintern oder gar nur in der lexikographischen Phantasie vorhandenen Möglichkeiten kann hier realisiert werden. Für unserer Online-Archiv gilt: “Aufbewahren. Für immer!” Wir sichten das Material, bevor wir es dann hier in Ruhe bewerten und bewahren vor dem Vergessen, was durch das Raster der Gedenktagskultur fällt.

In Ermangelung eines marktgängigen Schlagworts nennt KUNO es weiterhin konsequent: Nonkonformistische Literatur

Labor-Logo von Peter Meilchen

KUNO ist ein Medium für die Entgrenzung der Poesie, wir verstehen uns als Knotenpunkt eines lexikographischen Netzwerks und legen den Schwerpunkt bei der Überlieferungswürdigkeit auf sogenannte Außenseiter, die sich unter diesem Dach zu einer Solidarität der Solitäre zusammengefunden haben. Ein großer Name bedeutet nicht unbedingt eine aussagekräftige Retro. Wohingegen jemand wie der Flözgänger Ulrich Bergmann, der wunderbare Skizzen oder Korrespondenzen geführt hat, die die Zeit illustrieren und Querverbindungen hier zu anderen archivierten Künstlern schafft. KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken, weitere Auskünfte zu seinem Ansatz gibt Peter Paul Wiplinger im Epilog zu seinen Schriftstellerbegegnungen. Modernität und Alterität der Moderne, Vergangenheit und Gegenwart, das Zusammentreffen von Betrachter und Betrachtetem mittels fachlicher Reflexion zu bestimmen, das ist die große Aufgabe der Kulturnotizen.

Seit 1989 bewegen wir uns fort vom klassischen Kunstbetrieb, hin zu Vernetzungen mit anderen Sparten und mit dem Zeitgeschehen.

Literatur ist zu rückwärtsgewandt, zu beliebig, zu selbstverliebt, zu oft bedient sie sich aus dem Steinbruch der Tradition. Die Marktnischen für klassische Disziplinen der Literaturkritik verschwindet. KUNO will sich einmischen und Verantwortung zeigen. Kunst darf nicht wegsehen. Der Markenkern der Kulturnotizen sind abweichende Persönlichkeiten, die den Vulgärrationalismus attackieren, Aktuelles auf historische Wurzeln zurückzuführen, die sich furchtlos, aber vermittelnd den Debatten stellen. Unser Blick richtet sich in diesem Jahr auf das Gedicht. Poesie hat ihre eigenen Mittel, sich ins Gedächtnis einzunisten und wiedererinnert zu werden – Wiederholungen, Alliterationen, Assonanzen, Binnenreime. Auf diese Weise sind sie lebendiger Teil des kollektiven Gedächtnisses. Poesie zeichnet sich durch den kreativen Kompromiss zwischen Denken und Musik, zwischen Bild und Begriff, zwischen höchster Ernsthaftigkeit und heiterer Ironie aus. Poesie entspringt aus verdichteter Erfahrung und bringt den Gedanken hervor, wie der Traum das Konzept, das Gefühl die Vorstellung und das Wissen Verständnis hervorbringen. Dichtung transportiert mehr als das mot-à-mot, vor uns steht ein Jahr voller Anspielungen und Wortspielen, Metaphern und Rhythmen Wir bevorzugen Poeten, die sich beim Schreiben von der Sprache selbst inspirieren lassen. Klang und Rhythmus – Anaphern, Assonanzen, Alliterationen und Binnenreimen – treiben mit dem Leser ein Spiel. Wir stellen in diesem Jahr unsere Favoriten dieses Genres vor.

Destabilisierung der Textautorität

Angelika Janz praktiziert angewandte Poesie

Das Werk von Angelika Janz erschließt sich nur dann richtig, wenn man die Verflechtung ihrer Bildgedanken mit der Dichtung versteht. Der Fragmentexterin geht es um die Zusammenführung von Bild und Abbild. Ihre Arbeiten sind ein Prozeß, der von Weiterungen, Abweichungen bestimmt ist, das Angepeilte erfüllt sich nicht so, wie es sich der Betrachter sich normalerweise vorgestellt. Janz’ Wirken zielt auf die Wiederherstellung der zerstückelten Einheit von Musik, Sprache und Bewegung, von Kunst und Leben. Die Textgestalt traditioneller Lyrik hat die Autorin weit hinter sich gelassen. Die herkömmlichen lyrischen Ordnungsprinzipien wie Verse, Strophen und Reime werden von ihr außer Kraft gesetzt durch verschiedene Formen der Überschreibung und Rekombination des Urtextes. Die Aura poetischer Texte wird überschrieben, mit groben Streichungen und handschriftlichen Eingriffen in die Verse. So entsteht eine Poethologie des Flüchtigen, die den Fragmentarismus dieser Zeit spiegelt. Mit der Offenheit der Form polemisiert Janz in ihren Fragmenttexten gegen die Affirmationsmaschine des Literaturbetriebs. Das Sakrale wird konsequent ausgehebelt, ihre Fragmentexte sind ein ästhetischer Genuss für die Liebhaber der schönen Künste.

Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, trägt die Königsdisziplin Lyrik in sich.

Porträt Walther Stonet von Thomas Kiel.

Die Literaturszene braucht uneitle Menschen, die sich fürsorglich sowohl für die Literatur und ihre Kollegen einsetzen. Menschen wie Walther Stonet. Er war Lyrikredakteur und Rezensent der Literaturzeitschrift Asphaltspuren von 2003 bis 2015 (23 Ausgaben). Jede Textsammlung bedeutet Auswahl – jede Anthologie, jedes Lehrbuch, letztlich jede Literaturzeitschrift. Stets kann nur ausschnitthaft präsentiert werden, was dem Leser Aufschluss geben soll, nur exemplarisch lässt sich das zu Zeigende tatsächlich transportieren. Seit 2008 ist Stonet Herausgeber der Reihe „Walthers Anthologie der Internet-Lyrik“. Er ist den Worten auf der Spur und unternimmt Streifzüge durch die Deutsche Sprache. Inzwischen sind über 50 Gedichte worden worden. z.B. dies hier. Seit August 2015 fungiert er als Herausgeber von zugetextet – einem Feuilleton für Poesie-Sprache-Streit-Kultur. Es geht in diesem „Magazin-Blog neueren Stils“ um die Potenziale, die Sprache hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Interpretation, der Mehrfachbedeutungen und der sich aus diesen Aspekten ergebenden Irritationen, Verirrungen und Verwicklungen zu untersuchen. Der folgende Kommentar wurde von Walther Stonet im Jahr 2007 zum ersten Mal veröffentlicht, er hat kaum etwas von seiner Bedeutung verloren.

Von der Sporaden-Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum des 7. vorchristlichen Jahrhunderts bishin in die pannonische Landschaft des 21. Jahrhunderts hat die Lyrik diverse Überformungen erhalten.

Wie präzise Wittgensteins Nichte Sophie Reyer mit der Sprache zu arbeiten vermag, blitzte erstmals in „binnen“ auf. Seitdem gewittert es.

Nicht nur Gott, auch die Lyrik ist schon oft für tot erklärt worden. Der Weg von Sappho zu Sophie findet sich hier. Jede Dichtung spricht über die Situation ihrer Herkunft. Natürlich vernetzt sich Sophie Reyer mit Ingeborg Bachmann (Die gestundete Zeit) und beispielsweise Paul Celan (Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun) oder Rainer Maria Rilke (Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt in euch?). Und selbstverständlich ist die Gutenberg-Galaxis ein Referenzuniversum, das Schreiben wird durch das schreibende Analysieren gebrochen. Ihre Lyrik ist intelligent und spielerisch. Die Bezeichnung miniaturen erscheint mehr als zutreffend, diese Eingeneinschätzung trifft sich sehr gut mit dem, was auch wir in diesem Online-Magazin ausloten. KUNO hat ein ausgesprochenes Faible für diese Art des Textens. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder.

 

Die mit dem lime_lab ausgezeichnete Sprechpartitur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni bietet die Möglichkeit, sich Kodierungen der Nachrichten- und Informationskanäle, der Bild-, Ton- und Filmarchive in intensiver Textausdeutung zu erschliessen. Hervorzuheben ist die Studioarbeit mit der Schauspielerin Marion Haberstroh und dem Sprechsteller A.J. Weigoni. Die umgesetzte Sprachkomposition ist auf der beiliegenden CD von Tempo- und Harmoniewechseln durchzogen, daß beim Lesen und beim Hören keine Langeweile aufkommt. Es ist eine vitale Form der Literatur, die der Sprache auf die Finger schaut, sie zugleich ihrem eigenen Gefälle überläßt und somit entfesselt. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.

 

Mit seiner micropoetry gelingt es Denis Ullrich eine übernutzte Sprache zu entkernen.

Denis Ullrich hinterliess eine lyrische Twitteratur bei der weder ästhetische Überhöhung noch schnöder Realismus infrage kommen

„Der Ullrich spinnt doch sowieso“, sagte mal einer, „der macht sich sein Leben unnötig schwer“. Wenig später sagte jemand Ähnliches; und ferner sagten viele andere Entsprechendes. Die Formel lautete: Mach doch was mit Sprache, schreib doch was, oder werde Komiker – besser: Kabarettist – geh zum Theater, zum Fernsehen. Du bist Dein Problem, mein Freund. Gemeint war die Verstrickung bereits in schulische Unbequemlichkeiten durch Widerstände, Feindschaften, Unverständnis sozialer Strukturen, allzu viele Fragen: In-Frage-Stellen – und schließlich die totale Ablehnung und Verhinderung einer Sinnfindung: Aufstand! Gegen alles und gegen alle – unter Missachtung der oben angedeuteten Begabung, die sogar von den ärgsten Feinden bestätigt wurde. Sie bot keine Erleichterung, keinen Trost, keine Hoffnung; zunächst. Für seine Biographie bedeutungsschwerer als kindische Opposition und Eigenbrötelei – was diesen Ullrich so richtig fertig machte: Orientierungslosigkeit im undurchsichtigen Überangebot der Möglichkeiten des Lebens, was heißen soll, dass er aus keiner der beinahe unendlichen Perspektiven, die Elternhaus/Familie unterstützten – und eben auch nicht aus dem Sprachtalent – Nutzen zu ziehen in der Lage war und nach Irrungen und Wirrungen ausgerechnet in der Informatik seine professionelle Heimat fand. Zunächst. Nach ein bisschen Textildesign, Modesoziologie, Grafik, Philosophie, Kybernetik also ein durchaus spannendes Dasein als Webentwickler und Programmierer von Anwendungssoftware, im täglichen Umgang mit Mathematik. Und mit Sprache, wenn man so will, denn Programmiersprachen sind, wie das Wort schon sagt, nichts anderes als eben Sprachen. Geschrieben hat der Ullrich trotzdem schon immer, wie man so sagt, bloß mit der sogenannten Öffentlichkeit – na ja, das war so eine Sache; da war nicht wirklich der Wunsch vorhanden, sich der anonymen Masse preiszugeben; also schrieb er für die Schublade, von sporadischen Veröffentlichungen kurzer Essays und Kolumnen in örtlichen Blättern abgesehen, mit einem Kürzel darunter; dabei konnte man den eigenen Bekanntheitsgrad einigermaßen eingrenzen und somit die Identität schützen. Und dann – nach 15 Jahren als Dev in Deutschland, Frankreich und den USA, mit Projekten u. a. für UGO/IGN Entertainment – durchschritt dieser komplizierte Ullrich, nach einem existenziell einschneidenden Ereignis, über das niemand sonst Genaues wissen muss, eine Art Stargate auf seiner irren Ego-Zeitreise und beendete radikal seine Existenz als Avatar der virtuellen Welt. Plötzlich der Wunsch nach fleischlicher Realität, nach Öffentlichkeit und nach Sinn. Seine vielgestaltigen Texte auf KUNO bewegen sich zwischen Transzendenz und Körperlichkeit. Zuweilen hat man den Eindruck, als wollte dieser Autor das berühmte Diktum Wittgensteins widerlegen: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man – nicht schweigen – sondern dichten! Dieser Autor hinterliess eine lyrische Twitteratur bei der weder ästhetische Überhöhung noch schnöder Realismus infrage kommen.

Lyrik ist die Sprache, die uns denkt.

Wolfgang Berends 

Manchmal erscheinen Bücher mit einem Titel, bei denen man sich wundert, daß es sie noch nicht gibt. Mit ihren Sexophismen meldet sich eine kühne Stimme in der deutschsprachigen Lyrik zu Wort. Lichtensteins Verse sind ausdrucksstark; sie zeichnet mit Metaphern Sprachbilder in die Vorstellungen der Leser. Diese erotische Dichtung hält gleichsam die Mittelstellung und fundiert eine Grenze zur „platten Ansicht“, indem sie nicht nur das Erleben möglichst deutlich vorstellen, sondern auch die Zusammenhängen der Erlebenskultur und -tradition erschließbar machen und mit Sexophismen kommentieren kann. Das Verhältnis dieser beiden Seiten zueinander ist wesentlich für die Stimmung einer gedichteten Erotik. Lesenswert ist dieser Zyklus nicht nur wegen der souverän eingesetzten sprachlichen Mittel, die vom volksliedhaften bis zu einem manchmal recht pathetischen Ton reichen und über ein großes Formenspektrum verfügen, sondern auch wegen der Anregung zu Mit- und weiterdenken.

“Entlang der lebendigen Linie“ tastet sich diese Lyrikerin sophistisch zu ihren Sexophismen, welche mit sogenannten „Portalen“ den Lesern Zugang zum Schreiben der Dichterin und Wissenschaftlerin verschaffen. Lichtenstein läßt die deutsche Sprache in der Schwebe, geht ihrem Klang nach, ihrem Rhythmus, bis sich Assoziationsräume öffnen. Der Verkapselung, Verdichtung und Verknappung ist es wohl auch zuzuschreiben, daß Lichtensteins Gedichte dunkel, oder hermetisch genannt werden. Man muss sich erst mal in diese Sprache hineinlesen. Dieses Buch ist sperrig, kaum daß man glaubt, den Zyklus im Griff zu haben, verrutschen die Zeilen, man blättert zurück und will es genauer wissen. Die Mühe wird durch das Dechiffriersyndikat belohnt. Jede Zeile erzeugt einen neuen Text aus einer alten Leserin, dergestalt bewegt sich Lichtenstein augenzwinkernd zwischen Archaik und Moderne.

Die Welt der Sprachmagie

Holger Benkel hat einen Blick für Grauwerte

Gedichte bedeuten für Holger Benkel etwas, das Seamus Heaney so beschreiben hat: “die Authentizität archäologischer Funde, wobei die vergrabene Tonscherbe nicht weniger zählt als die Ansiedlung; Dichtung als Ausgrabung also, als das Ans-Licht-Holen von Fundstücken, die am Ende als Pflanzen dastehen.” Es um eine Phantasie, die zugleich frei und verbindlich ist. Klarheit und Magie waren für Benkel keine Widersprüche.

Der Hungertuchpreisträger denkt in Zusammenhängen, die immer auch das Ganze und das Kommende betreffen. Bereits in der Renaissance beriefen sich Lyriker, die auf die strenge Bindung der Verse durch Rhythmus und Reim verzichteten, auf das Vorbild der Antike. Sie konnten in den Gesängen Pindars, aber auch in den Psalmen der Bibel kein Metrum und keinen Gleichklang der Endsilben entdecken. In ältester Vorzeit waren die Vorläufer unserer heutigen Gedichte sprachmagische Werkzeuge. Ihrer bediente man sich einzelweise oder im Chor, um sich Götter und Gegenstände gefügig zu machen. Gedichte waren Gesang, und zu diesen beiden gesellte sich der Tanz. Erst durch das Nachstellen ritueller Schrittfolgen wurde die Entstehung der Versfüsse, der Hebungen und Senkungen im Versfluss, plausibel und deutlich. Benkel beleuchtet die oft vergessen magischen Quellen der Dichtung, als da sind: der Schamanismus, die animistische Anrufung, der Beschwörungszauber. An ihrer archaischen Quelle ist die Dichtung Gesang und das Geheul des Priesters und Heilers. In dieser frühen kultischen Praxis sind die Seele und die Dinge noch nicht voneinander getrennt, die Materie, die Tiere, Pflanzen und Menschen sind ineinander verwandelbar. Mitunter scheint es, als ginge Benkel auf Runensuche und zeichnet auf, was im Gedächtnis des Volkes an Liedern, von Sängern und Sängerinnen während Jahrhunderten mündlich überliefert worden waren.

Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz, Sibylle Ciarloni und Joanna Lisiak.

Die einzige Heimat, die wir wirklich haben, sind wir selbst, in unserer Sprache und mit dem Sprechen und Schreiben in unserer Sprache.

Ulrich Bergmann

Ines Hagemeyer, Autorin von kristallklarer Lyrik

Sprache ist Heimat, das ist wahrscheinlich der Grund, warum man sich in der Lyrik von Ines Hagemeyer sofort zu Hause fühlen kann. Nach Stationen in Montevideo, München, Bonn, Quito, Buenos Aires und Madrid hat sie sich auf die die Literatur der Gegenwart konzentriert. Ihr lyrisches Ich balanciert die Heimat im Fremdsein und das Fremdsein in der Heimat aus. Das allgemeine Diktum und das empfindungsreiche Nachsinnen wechseln sich ab. Aber Gedichte eignen sich nicht zur Lösung von Gleichungen. Hagemeyer arbeitet mit der Aleatorik und Kombinatorik ihrer Phantasietätigkeit, aber auch mit dem Gegenteil. Diese Lyrikerin schafft es, unsere Lebensrealität auf ihre ursprünglichen Möglichkeiten zurückzuführen und gleichzeitig weite, unvorhergesehene Verstehenshorizonte zu öffnen. Die Grammatik ist stimmig, wie so häufig bei jenen Schriftstellerinnen, die in nicht in einer Sprache schreiben. Es erweist sich als Vorteil, dass diese Lyrikerin, wie nur wenige Menschen, quasi zwei Muttersprachen hat! In beiden, Deutsch wie Spanisch, werden von ihr Gedichte verfasst, wobei  manchmal zuerst das deutsche das Original ist und manchmal das spanische. Und dann folgt die Übersetzung in die eine oder in  die andere Sprache. Der Inhalt ihrer Gedichte entsteht nicht durch den Reim oder durch die Form. Inhalt und Form gehen immer wieder neue Verbindungen ein, das System bleibt flexibel, dadurch absichtslos und formiert sich so an bestimmten Punkten neu. Diese Lyrik ist der geglückte Versuch dem Unmöglichen mit Sprache zu begegnen. Dichtung ist in ihrem Lebenswerk die Darstellung dieses Widerspruchs, der so alt ist wie sie selbst. Die Gedichte von Hagemeyer erzählen in nüchternen Worten von dem, was uns umgibt. Was fehlt. Was wir ergänzen sollten.

Wir brauchen die Lyrik, weil nichts so schnell die Dinge komprimieren und entfalten kann, die wir übersehen, nicht wahrnehmen oder begreifen, nicht wertschätzen oder überblicken können, oder die wir einfach nicht verstehen.

Timo Brandt

Lyriker schreiben im 21. Jahrhundert Gedichte aus dem einzigen Grund, weil sie es wollen; und der ‚Sinnzerstreuungsbeauftragter im Zeilenkrieg‘ Ralph Pordzik weiß, worüber er textet. Er zeigt sich darin als denkendes, mitfühlendes, künstlerisches Subjekt auf Augenhöhe mit seinem Gegenstand. Die meisten in diesem Band versammelten Gedichte bestechen durch die Intensität ihrer Bilder und den Rückgriff auf unterschiedliche Dichtungstraditionen, die fremde Stimmen und Idiome in einer Sprache konzentrierten Ausdrucks und lyrischer Intensität zu einer inneren Welt erträumter Zusammenhänge verdichten. Die Dichter auf die sich Pordzik bezieht sind mehr als nur Vorläufer der Heutigen. Insbesondere auch der Radikalität wegen, mit der sie den Wert eines Gedichts von der Gewichtigkeit seines Sujets schieden und einzig an die Prägnanz der sprachlichen Umsetzung banden. Der Lyriker, wie involviert auch immer, ist der Abstandhalter par excellence. Die unpathetische Rede ohne metrischen Leierkasten gehört inzwischen zum Standard. Die durch Einfügung von Dingen aus entlegenen Kontexten und überraschende Metaphern erzielte Verfremdung zählt heute als surrealistischer Effekt ebenso zum Grundbestand dichterischer Verfahren wie der Umgang mit hyperbolischen und metonymischen Figuren, Bewusstseinsstrom, pointierte Raffung und profanisierter Symbolismus. In ihrem lakonischen Grundton verstehen sich Pordziks Gedichte zugleich als Provokation der klanglich wie stilistisch überholten Sprache der Poesie und erweisen sich als eine moderne Praxis des Schreibens, die durch ihre strenge, karge Grazie und ihren kunstvollen Gestus psychologischer Selbstüberwindung fasziniert. Dieser Lyriker ist ein filigraner Wortmetz, der sich jahrelang als Leser in den Höhen und Niederungen der Literatur getummelt hat und daran sein eigenes Handwerkszeug schärfen konnte. Seine Gedichte sind Explorationen in die Gelassenheit der Passivitätskompetenz. In diesem Band wimmelt es von Philosophien, dazu kommen Wortwitze und Wortspielereien. Genau genommen, ist es ein Wimmelbuch für Sprachverliebte. Es ist großartig, wenn sich Literatur so etwas traut, und es ist großartig, wenn sich ein Verlag traut, solche Literatur zu verlegen. Verabredung mit meinem Publikum ist ein von jener intellektuellen und poetischen Eigensinnigkeit, die vom großteilig in Fadheit genormten Gedudel des Gegenwartsliteraturbetriebes mit fataler Zwangsläufigkeit auf einen Außenseiterposten verbannt wird. Gelegentlich sollte man Verabredungen ernst nehmen.

Zu dichten eine Möglichkeit ist, das Namenlose zu benennen, so dass es gedacht werden kann.

Audre Lorde

Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte dehnen sich aus, wenn man sie liest. Und wiederliest. Die Orkaniden versammeln insgesamt 30 Gedichte von Kulewatz. Die zweisprachige Ausgabe wird komplettiert durch die englische Übersetzung von Bianca Katharina Mohr. Die Gedichte werden zudem von zehn farbenfrohen Illustrationen der Künstlerin Jantien Sturm begleitet. Das Wort „Orkaniden“ ist eine von der Autorin geschaffene Bezeichnung. Titelgebend ist dabei das älteste Gedicht im Buch, „Orkanide“, das bereits 2012 entstand. Bei den Orkaniden handelt es sich um weibliche Sturmwesen. Kulewatz betrachtet damit das vordergründig männliche Element der Luft von neuer poetischer Seite. In dieser Gedichten finden sich Themen wie Transformation von Schmerz, weibliche Kraft, das Erheben der eigenen Stimme, aber auch das Dichten und Schreiben als Selbstvergewisserung des Lebens sowie das Atmen und Eintauchen in das Lebendige der Welt. Das lyrische Ich schaut zurück, in sich hinein und hinaus ins Weite. Die in den Gedichten auftretenden Motive Wind und Wasser öffnen jenseitige Gedankenräume, ein verheißungsvolles Land. Diese Gedichte zeigen Echo- und Resonanzräume, die das poetologische Verfahren der Autorin sichtbar machen. Kulewatz betätigt sich in ihrer Lyrik als Seismographin der emotionalen Erschütterung. Die Verse singen von Liebe und Schönheit, malen Sehnsucht und Erwartung, sprechen von Abschied und Verlust. Ihre Vorstellung der Luftmassen lässt eine Unregelmäßigkeit als Grundprinzip zu, einen Zufall, von dem sie wortwörtlich berichtet. Poesie ist eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden, sie dringt in Bereiche vor, die anderen Literaturformen verborgen bleiben.

Randständigkeit ist das Lebensprinzip der Poesie.

Vom Rand aus arbeiten wir seit 1989 auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den  Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Edition Das Labor ist inzwischen mehr als ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphatasie daherkam. Über die allmähliche Verfertigung einer projektbezogenen Arbeit erfahren Sie im Konzept der Edition Das Labor. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition.

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott KUNO dieses  post-dadaistische Manifest. Ob man His Bobness als Lyriker bezeichnen kann, hat KUNO an anderer Stelle thematisiert. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet eindrucksvoll. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Auch sein Eckermann Theo Breuer findet als Literaturvermittler von KUNO eine  dankende Beachtung. Nicht zu vergessen der Nachruf auf Peter Meilchen.

Die Klassiker des Andersseins

VauO Stomps, der Klassiker des Andersseins © Minipressen-Archiv

Die essayistischen Betrachtungen versammeln sich daher in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker Josef „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen. Im Jahr 2022 widmete sich KUNO ausführlich der literarischen Kunstform Novelle. Der Begriff kommt von dem italienischen Wort novella, was „kleine Neuigkeit“ bedeutet. In 2023 widmete die Redaktion dem Essay nach 2003 und 2013 einem weiteren Schwerpunkt. Kritik bedeutet für die KUNO-Redaktion: Verstehen, geht über das Verstehen hinaus. Es gehört zur Publikationsstrategie von KUNO, Sprache und Begriffe aus verschiedenen Richtungen zu untersuchen. Wir schätzen die Variationsbreite an lyrischen Formen: Sonette wechseln mit Liedformen, Oden und Gedichte in freien Versen. Bei der Lebendigkeit des Sprachmaterials geht diese Untersuchung bei aller Liebe nie ohne Enttäuschung, Zweifel und auch Widerstand ab. Es geht der Redaktion um Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewältigungs- und Erinnerungsmuster. Es ist eine heiter-intellektuelle Schnitzeljagd. Die Lyrik hat einen künstlerischen Ursprung, sie ist dem künstlerischen Werk mit der Lyra, der Musik, sehr nahe; der Musik in ihren vielfältigen Nuancen der Rezeption oder des eigenen Erlernens oder Meisterns eines Instruments und sei es des Rachenraums. Die Vergangenheit in die Zukunft zu überführen, das ist seit 1989 das Projekt von KUNO, und dies macht die Gegenwärtigkeit dieses Online-Magazins aus. Die Aufgabe von KUNO besteht darin, das Unbenennbare zu benennen und Stellung zu beziehen.

Was passiert mit einer Gesellschaft, die keine kulturellen Selbstversicherung mehr benötigt?

Sprache mag im Internet dehnbar sein, grenzenlos ist sie jedoch nicht, bereits Friedrich von Hardenberg, aka Novalis suchte nach dem Unbedingten, und immer nur Dinge. Da wir weder die edle Einfalt noch die stille Größe nie für ein erstrebenswertes Ziel betrachtet haben, präsentiert KUNO seit 1989 eine fortschreitender Versprengung aus Eindrücken, Örtlichkeiten, Widersinnigkeiten und Absurditäten, die wir als Trash würdigen. Man kommt mit der Lyrik nicht an ein Ende. Fast alles ist damit gesagt, alles liegt offen da, vor Ihnen wartet mit jedem Klick ein weiterer Eintrag im Jahrbuch der Lyrik 2024. Die Deutungstiefe erzeugt in den kommenden Monaten eine Tragweite, die für den Leser bis zum Ende des Jahres gespannt ist. Die Redaktion präsentiert suggestive Wortspiele, einfallsreiche Assoziationskunst, eine Litanei, die Technik der Wiederholung und eine phonetisch intensive Suchbewegung tief in die Sprachkörper hinein. Gedichte sprechen von jener Verschiebung im Monologischen die zum Dialog mit dem Gegenüber finden kann. Poetische Sprache erfüllt als Gedicht eine andere Funktion, sie ist dazu da, Öffnung und Schließung im Sinne einer das Begriffliche übersteigenden Situation gegenüberzustellen.

Die Aufgaben der Lyrik haben sich erledigt, das Gedicht lebt weiter.

Heinz Schlaffer

Lyrik lotet das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen aus. Ein Wort steht nie für sich allein, durch eine vielperspektivische Sicht werden immer auch andere Begriffe einbezogen. Der Leser, der sich nur rasch über ein die Lyrik informieren will, wird so immer auch auf andere Gedichte verwiesen, und so greift ein Gedicht in das andere, erschließt sich gleichsam spielerisch das Online-Archiv von KUNO wie in einem ganzen Netzwerk aufzulösender Begriffe, Leitworte, der Verschlagwortung und den Hyperlinks. Auf die Bedeutungsvielfalt folgt die Unerklärtheit. Seit 1989 versuchte KUNO die Lyrik aus ihrem Achtsamkeitskäfig zu einem unendlichen Diskurs zu befreien. Die Adressatenebene wechselt seither permanent. Die Redaktion versteht Gedichte als exemplarische Gesten, die sich im Hören und Lesen jeweils anders und jeweils neu aktualisieren, daher finden Sie in unserer „Blütenlese“ exemplarische Gedichte der Zeit. Das Kristalline der Lyrik wird bei der Internetpublikation zum Prismatischen, die Lichtbrechung zum Bildgenerator, und von einer abschließenden Lektüre kann hinsichtlich der Gattung ohnehin keine Rede sein. Die Lyrik speichert Geschichte nicht nur in der Semantik, auch die Klänge der Konsonanten sind Speicher. Und zuweilen wecken sie ähnlich wie Gerüche Erinnerungen, die verschüttet liegen. Viele Gedichte sind am Rande des Schweigens angesiedelt. Das passt zu KUNO, die Redaktion lässt im letzten Jahr des Erscheinens noch einmal die Schriftsteller zu Wort kommen, die wir am meisten zu schätzen gelernt haben.

Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern.

Peter Maiwald

Seine Erscheinung signalisierte ein unbedingtes Kunstwollen: András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Langstreckenpoem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor. Es ist „ein freies Flieszen“ assoziierter Bildgefüge, eine Durchquerung entlegenster Wortfelder. Dieses Langstreckenpoem gleicht mitunter mäandernden Satz- und Gedankenschleifen. Einem Möbiusband gleich, jener scheinbar endlos gewundene Satz, der, ohne je irgendwo anzukommen, in zahllos sich variierenden Halbsätzen versichert, dass man notwendig scheitert, wenn und sobald man – ankommt. Weigoni versteht es, dieses Scheitern zu verhindern. Auf der Suche nach einer widerständigen Sprachlogik, dem letztlich unauslotbaren Geheimnis der Sprache. Ein entschlossenes Nomadisieren zwischen Flüstern und lautem Schweigen. Aus Wort- und Bedeutungsverschiebungen entwickelt sich ein eigener Sprachkosmos. Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird für eine Weile im Datennirvana existieren und irgendwann ganz verschwinden. Reine Poesie überwindet die Grenzen des Darstellbaren, alle Wege führen ins Nichts.

Poesie ist kein geschlossener Text, der für sich steht, sondern einer, der einen eigengesetzlichen Spielcharakter besitzt.

Flankiert wird das Langstreckenpoem durch künstlerische Arbeiten von Haimo Hieronymus. In seinen Rotationen gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich bedrängen und verformen. Es ist ein Prozess, der von Weiterungen und Abweichungen bestimmt ist. Es ist ein Beobachten und Skizzieren, der Versuch von der Konstruktion weg und auf das Wesentliche dahinter zu kommen. Manchmal erfassen dicke Striche das Papier, als seien unterschiedlich rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach aussen drücken und an die Ränder verschieben. Das Branding von Haimo Hieronymus ist, keines zu haben. Sein verästeltes Lebenswerk entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg zu einer partizipativen, sozialen Plastik. Verbunden waren sich die Artisten durch ihre Arbeit an Künstlerbüchern. Vertiefend dazu das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

 

 

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Wiederbelebungsmasznahme, ein Langstreckenpoem von A.J. Weigoni. Edition das Labor 2024

Der Schuber. Das lyrische Werk + ein Hörbuch mit den Gesamteinspielungen. Edition Das Labor, Mülheim 2017.

Schmauchspuren. Gedichte. Edition Das Labor, Mülheim 2015.

Parlandos, Langgedichte & Zyklen. Edition Das Labor, Mülheim 2013.

Dichterloh. Kompositum in vier Akten. Lyrikedition 2000, München 2005

Letternmusik. Gedichte. Rospo-Verlag, Hamburg 1995

Der lange Atem. Gedichte & Collagen 1975–1985, Verlag Die Schublade Nr. 19 (Zusammenarbeit Bundensring junger Autoren), Mettmann 1985.

 

Weiterführend Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Nachgereicht: A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn. Und zuletzt bei KUNO: Eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

 

 

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.