Warum Bartleby auf den Most verzichtet

 

Poesie ist kein geschlossener Text, der für sich steht, sondern einer, der einen eigengesetzlichen Spielcharakter besitzt.

Zur Definition der Lyrik als Rezitationsform1: „Die Lyrik ist eine Gattung der Poesie, neben Epik und Dramatik. Lyrik wird häufig im Sinne eines autonomen Sprachkunstwerks als die reinste Form von Dichtung aufgefasst. Stilmittel sind Rhythmus und Reim, Sprachklang, bildhafter Ausdruck. Formen sind unter anderem Lied, Hymne, Ode, Elegie und Sonett.“

Im 20. Jahrhundert war das Verlassen des Reimschemas dazu da, das Altvordere abzuschütteln. Inzwischen ist die Lyrik frei, Dichter müssen sie nicht mehr befreien und eine wie auch immer geartete Gesellschaft schon garnicht. Heute scheint das Motto: „Schreib, was immer du schreiben willst (ausser zu den Themen Wechseljahre und dem militärisch-industriellen Komplex).“

Keine Literaturgattung hat die Angewohnheit, so schamlos ICH zu sagen wie die Lyrik. Gelegentlich kommt mal jemand um die Ecke, der behauptet, sein Ich sei ein anderer, dies war konsequenterweise ein Abgesang auf seine Existenz als Dichter. Eine Konsequenz, die ich bei den meisten Schreibern vermisse.

Für das Cover des Gedichte-Hörbuchs haben der Künstler Leonard Billeke und ich ein gemaltes Selfie Albrecht Dürers nachgestellt, das „Selbstbildnis im Pelzrock“ aus dem Jahr 1500. Der Maler hat mit diesem Bild von sich das Selbstverständnis des modernen Künstlers erfunden. Vor 500 Jahren bedurfte es für einen Künstler, der von Auftragsarbeiten für den Klerus leben musste, erheblichen Mutes, ICH zu sagen. Das besagte Coverfoto thematisiert Benjamins Essay nach dem Verlust der Aura im Zeitalter der Selbstphotographie auf ironische Weise, dieses Cover korrespondiert mit meiner Diagnose, die ich mit seiner Poesie stelle: dem Verlust der Individualität.

Das Staunen steht am Anfang aller Poesie. Sich mit Lyrik zu beschäftigen, führt zu einer Sensibilität, einer Haltung, einer Art, um über das Rätsel der Identität nachzudenken. Man kann die Sprache zu einem extravaganten Stil entwickeln, campy, künstlich und artifiziell. Und meist kommt bei diesen artIQlationen vieles zusammen: Kunst, Medien und Musik.

Poesie kann jedoch auch sehr selbstreflektiv sein, weil sie im Kopf des Schriftstellers entsteht. Diese Aussenenseiterschaft ist die notwendige Vor- aussetzung und ein zwingend zu entrichtender Preis der Subjektivierung. VerDichtung ist ein utopischer, zukunftsweisender Entwurf, dem sich das Leben sukzessive anzunähern versucht. Bei diesem „Genopoly“ finden sich Spurenelemente von Theorie, Sampling und Performance–Kunst; unter den biokratischen Kritikastern gab es einen akademischen Diskurs zur Identitätspolitik, der in den Gender–Mainstream mündete.

Poesie ist immer etwas Konstruiertes, das Erfinden einer Persona, ein gesellschaftliches Re–Tuning für eine soziale, mediale und auch für eine persönliche Transformation. Und mit einem Gespür für das, was in den Ätherwellen liegt.

Musik ist somit eine der unmittelbarsten Begegnungen mit der Empfindungswelt. Wenn ich Musik von Mozart oder Monteverdi höre, bin ich mit einer Schwingung konfrontiert, die mit meiner nichts zu tun hat. Aber es erschüttert mich immer wieder, was die alten Meister in meiner Seele bewegen. Musik und Poesie sind die höchsten aller Künste.

Poesie bedeutet für mich, quer zu denken und Eigendenker zu bleiben. Sie ist der Puffer, den ich zwischen der eigenen Verletzlichkeit und der Welt benötige.

Der eingangs genannte Titel spielt auf „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville an. Die Hauptfigur lehnt eines Tages zur Überraschung seines Dienstherrn jede Tätigkeit mit den Worten ab: „I would prefer not to“.

Bezogen auf den weitaus grössten Teil der Autoren, die so genannte Lesungen machen, sollte man diesen Rat beherzigen: „Sie sollten besser nicht!“ Und zwar ihre Arbeiten öffentlich vortragen.

Provokativ formuliert: 95 % aller Autoren können es nicht!

Betrachten wir drei klassische Konstellationen, bei denen Literatur zum Vortrag gebracht wird:

  1. Lesung mit Wasserglas. Der Klassiker, vorzugsweise an einem Tisch, auf dem auch eine Lichtquelle steht, die selbst dem blassesten Autor etwas Aura verleiht. Die weitaus meisten Autoren lesen aus ihrem Buch so, als müssten sie dadurch ihre Autorenschaft beweisen. Sie klappen ihr Werk auf, suchen umständlich eine Passage und lesen. Dies wirkt oft unfreiwillig komisch, so, als würden sie diese Stelle zum ersten Mal lesen.
  1. Lesung in der Schule. Das Publikum ist begrenzt auf ca. 30 Personen. Ein Lehrer gibt die Einführung. Die Art des Vortrags ist oft auch nicht wesentlich spannender als Variante eins. Was den meisten Autoren nicht bewusst ist, hier kommt ein Publikum zum ersten Mal mit Literatur in Berührung. Und oft zum letzten Mal.
  1. Slam-Poetry. Im Unterschied zum Begriff Poetry Slam, der einen literarischen Vortragswettbewerb bezeichnet, ist Slam Poetry „publikumsbezogene und live performte Literatur.“ Dies führt dazu, dass nicht auf Inhalte, sondern auf Effekte hin gearbeitet wird. Vorteil dieser Vortragsform, die Auftritte nehmen keinen allzugrossoen Zeitraum in Anspruch.

Literatur hat vorgenannte Dilettanten nicht verdient. Selbst Autoren, die erkennbar mit Problemen bei der Rezitation zu kämpfen haben, nehmen nicht Abstand, sondern kassieren weiterhin ihr „Autorenhonorar“. Begründet wird dies meist dadurch, dass dies zu ihrem Lebensunterhalt beiträgt. Arthur Rimbaud war Waffenhändler, Franz Kafka Versicherungsvertreter und Gottfried Benn Arzt (wer würde nicht bei ihm in die Sprechstunde gehen?), warum ist es unter der Würde dieser „freien Schriftsteller“, einer fremdbestimmten Arbeit nachzugehen?

Verdient haben nur wenige Autoren eine Anerkennung, finanziell und historisch, etwa die Kollegen von DaDa und Futurismus, der Wiener Gruppe oder der Performer von Jazz meets Lyrics. Diese – an der 5 %-Hürde des Literaturbetriebs gescheiterten Artisten –  glänzen eher durch Verweigerungsgesten.

Die Veranstalter sollten die Arbeit des öffentlichen Vortrags fürderhin bestens ausgebildeten Menschen überlassen: Schauspielern.

Aus dem Geschilderten habe ich meine Konsequenz gezogen und mich nach einer letzten Performance mit dem Posaunisten Philipp Bracht von der Lesebühne zurückgezogen. Mein Tun beschränkt sich nurmehr auf die Studioarbeit mit Tom Täger. Die Arbeit an einem Hörbuch ähnelt der intimen Situation von Leser und Buch, wenn jemand eine CD in den Rekorder schiebt, kann man sich sicher sein, einen wirklichen Zu-Hörer zu haben.

 

***

Quelle: Dieses „last goodbye“ ist erschienen in der Literaturzeitschrift Dichtungsring # 57, Bonn 2020

Literaturangaben:

Coverphoto: Leonard Billeke

1aus „DER BROCKHAUS IN EINEM BAND A-Z“, 6. Auflage, Verlag: F.A. Brockhaus GmbH, herausgegeben 1994, Seite 614

Der Schreiber Bartleby von Herman Melville. Band 17 der Bibliothek von Babel, 30 Bände, herausgegeben von Jorge L. Borges. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2007. 88 S., ISBN: 978-3940111173

Ich ist ein Anderer“ Boëtius, Henning. – München : btb Verlag, 2014

Aura ist ein von Walter Benjamin in eigener Definition verwendeter Begriff, dessen Phänomen er sowohl in der Natur als auch in der Kunst sieht. Seine bekanntesten Ausführungen dazu hat er in dem 1935 erschienenen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ vorgenommen und sie als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag definiert. Weiter führt er an dieser Stelle aus, dass die Aura eines Kunstwerks durch die Kennzeichen Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit geprägt ist. Einer der zentralen Gedanken im Kunstwerk-Aufsatz beschäftigt sich mit dem Verfall der Aura, da diese durch die technische Reproduzierbarkeit verkümmere.

Selbstbildnis im Pelzrock – Die lateinische Inschrift lautet: „So schuf ich, Albrecht Dürer aus Nürnberg, mich selbst mit charakteristischen Farben im Alter von 28 Jahren.“

Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Covermontage Leonard Billeke.

Hörproben → Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.