Der Essay als Versuchsanordnung

Der Essay trägt dem Bewusstsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber
der Totale, im Stückhaften.

Theodor W. Adorno

Eine Rückblende auf die Herkunftsgeschichte: Der Essay ist eine neue denkerische Form, die in der Kunst- und geistesgeschichtlichen Epoche der Renaissance aufkommt und die eine Wiederbelebung antiker Kunst und Gedanken zum Ziel hatte. Sein auf Vorstellungen wie „Angebot“, „Probe“, „Stilübung“ oder „Versuch“ abzielender Begriff taucht als Textsortenbezeichnung um 1580 in Frankreich bei Michel de Montaigne auf und wird um 1600 vor allem in England über seine Wiederaufnahme bei Francis Bacon und nicht zuletzt auch durch die englische Übersetzung Montaignes durch John Florio gattungsmäßig institutionalisiert. Gegenstand ist ein zumeist rätselhaftes, oft paradoxes oder sogar entzogenes Phänomen der Lebenswelt; die Sprechhaltung ist oftmals an die Öffentlichkeit gerichtet, zuweilen aber auch streng selbsterkundend meditativ. Das Wesen des Essays ist seine doppelte Zugehörigkeit zur Kunst und zur Wissenschaft. Grenzen werden fließend. Im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Arbeit wird das Thema eines Essays nicht objektiv betrachtet, sondern die Fragestellung durch eigene Argumente und Beispiele beantwortet, sodass die subjektive Meinung des Autors/der Autorin dargestellt wird. Der Essay situiert sich entsprechend im „Dazwischen“; er ist steter Prozess und bleibt letztlich Fragment. Es geht ihm also weniger um das Resultat als um den Weg. Diese Versuche sind weniger auf Ereignisse fokussiert, sondern auf den Subtext, Atmosphären spielen eine Rolle und oft werden subjektive Wahrnehmungen geschildert. Das Medium dieses Weges ist die Prosa; sie ebnet dem Essay die Bahn und findet auf ihr die Gedanken. Auf diese Weise zeigt sich der Essay als Spur endloser Verfertigung, als Raum offener Erkundung. Und als solches trägt er die Signatur der Renaissance als einer Epoche beginnend infiniten „Suchens“, „Untersuchens“ und „Versuchens“, als Zeit zukunftsweisender „Pluralisierung“, als Periode eines prozessual in die Zeit geschriebenen „Realisierens von Resultaten“. So wie alle Wege nach Rom führen, führen alle denkbaren Möglichkeiten zu einem neuen Inhalt.

Ihre Aufgabe ist es, den Integrationsprozess der Wissenschaft […] durch eine Analyse des Kunstwerks zu fördern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt.

Walter Benjamin

Michel de Montaigne, ein analoger Blogger

Der französischen Autor Michel de Montaigne (1533–1592). Montaigne entwickelte den Essay aus den Adagia des Erasmus von Rotterdam. Was bei diesem noch eine Sammlung von Sprüchen, Aphorismen und Weisheiten ist, versieht Montaigne nun mit Kommentaren und Kritik. Dabei stellt er, aus einer skeptischen Grundhaltung heraus, seine Erfahrungen und Abwägungen dem scholastischen Absolutheitsanspruch entgegen. Montaignes Bekenntnis zur Subjektivität und sein Zweifel an der Existenz absoluter Wahrheit widersprachen der damaligen offiziellen Lehrmeinung des Vatikans. Der Vatikan veröffentlichte 1559 erstmals einen Index Librorum Prohibitorum; Montaignes Essays (Les essais) wurden 1676 (also 84 Jahre nach seinem Tod) auf den Index gesetzt.

Sein Nachfolger, der Engländer Francis Bacon, erweiterte die Gattung des Essays in Richtung einer belehrenden, moralisierenden Form mit deduktiver Beweisführung; in der Folge pendelt der Essay zwischen diesen beiden Ausrichtungen. So wurde der Essay auch zu einer beliebten literarischen Form von Moralisten und Aufklärern.

Die Enzyklopädisten adaptierten die ursprünglich literarisch-philosophische Form zu einem wissenschaftlichen Stil. Im Gegensatz zum Traktat oder zur wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet ein Essay auf objektive Nachweise und definitive Antworten. Das schließt aber keine Parteinahme aus, wie etwa in Virginia Woolfs Essay „Ein eigenes Zimmer“, in dem sie für Frauenrechte eintrat, oder Jonathan Lethem, der in „Bekenntnisse eines Tiefstaplers“ für einen großzügigen Umgang mit dem Kopieren von Ideen plädierte.

Das Essay ist nicht nur eine hybride, sondern auch eine ambivalente Form. Es ist ein Diskurs, aber so, dass bei ihm immer versucht wird, Dialoge zu provozieren. Ein Faden, der in der Einsamkeit gesponnen wird, aber dessen anderes Ende so baumelt, dass er von anderen aufgegriffen und weitergesponnen werden könne.

Vilém Flusser

Die essayistische Methode ist eine experimentelle Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers.

Viele Essays zeichnen sich aus durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und Humor. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet; meist ist er aber befreit von vielen Zitaten, Fußnoten und Randbemerkungen. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei.

Während der Autor einer wissenschaftlichen Analyse gehalten ist, sein Thema systematisch und umfassend darzustellen, wird ein Essay eher dialektisch verfasst: mit Strenge in der Methodik, nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, Deutungen – unbefangen, oft zufällig scheinend. Damit ein Essay überzeugen kann, sollte er im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil „geschmeidig“ sein.

Was ist eigentlich ein Essay, wenn er keine wissenschaftliche Abhandlung, kein Traktat, kein Pamphlet und kein Roman ist?

Wir betrachten die essayistische Methode auf KUNO als eine experimentelle Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers. Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Essayist hat also relativ große Freiheiten. Die in diesem Jahr vorgestellten Essays sind so subjektiv wie die Herangehensweise der vorgestellten Autoren.

Ihre Aufgabe ist es, den Integrationsprozess der Wissenschaft […] durch eine Analyse des Kunstwerks zu fördern, die in ihm einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche erkennt.

Walter Benjamin

Falls die Auguren richtig gezählt haben, sind bei der Gattung Essay drei Haupttypen auszumachen, alle gleichermaßen in jener Tradition, die Michel de Montaigne einstmals begründete. Zum einen eine Mischung aus Rezension und Reportage, dann der Essay über entlegene Dinge, und zu guter Letzt der Erinnerungsessay. Dem ›literarischen Versuch‹, so könnte man das Wort vielleicht übersetzen, schreibt man als Form der geistig-schriftlichen Auseinandersetzung folgende Kennzeichen zu: Unverwechselbarkeit, Persönlichkeit, eine bewegliche Freiheit des Geistes, die Liebe zur offenen Form, der überraschende Blickwinkel, die Neigung zum Vorläufigen, aber auch Pointierten, eine gewisse unternehmungslustige Heiterkeit. Sie umreißen positiv das essayistische Temperament, wie es sich skeptisch, auch kritisch zum Systematischen, Scholastischen, Dogmatischen verhält. Philosophie als strenge Wissenschaft ist dem Essayisten ein Gelächter, die Attitüde des Wahrheitsbesitzes, überhaupt alles Fixierte, Gebundene ist verpönt; Zweifel ist ihm die primäre Tugend intellektueller Redlichkeit, Langeweile die Sünde wider den Geist.

Der Essay ist grundsätzlich systemfeindlich und geplant planlos.

Nikolaus Egel

Die Essays, die wir auf KUNO Jahr präsentieren, sind ein Fest des Intellekts. Die Redaktion versucht den Bestand der Gegenwartssprache zu sichten. Der Essay vollzieht eine Bewegung, die durch die Erinnerung hindurch zugleich ins Offene, Unbegrenzte, Ungebundene, vom 16. ins 21. Jahrhundert hinein führt. Das KUNO-Online-Archiv zeigt Wegmarken in der Biographie von Nonkonformisten auf.  Ein Essayist beherrscht die Technik des sezierenden Chirurgen, so lesen wir Hyperions Rede wie einen Gegenbrief zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit ihrer Autonomieerklärung und Ganzheitsbestimmung des Menschen. Die Reflexion ist eine Erinnerung in doppelter Faktur, sie erinnert nicht nur Erlebtes, Verlorenes, sondern erinnert sich, an was einst war und sein wird. Sie ahnt das Zukünftige. Erinnerung und Ahnung, das können wir seit 500 Jahren in Essays lesen. In diesem Jahr versuchen wir die Evolutionsgeschichte des Essays zu vervollständigen. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv.

Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

 

 

 

Die Fakel, ein analoger Blog

Weiterführend → Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Essayistik unterstützt das Subjektwerden des Menschen, das Denken in der Möglichkeitsform ist pure Lebensnotwendigkeit. Essays erzeugen auf eine subtile Weise, Neugierde, Abwechslung und Rhythmik. Der einfache Schein dieser Texte trügt, diese Gattung ist mit ihrer Form verwoben; Lesende erfahren etwas über sich und die Beziehung zur Welt, indem sie darin lesen. Die unmittelbare Wahrnehmung dient als Ausgangspunkt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Der Essay bietet in seinen kühnsten Momenten etwas Aufwühlendes, Aufrührerisches und Nonkonformistisches. Diese Abweichungsästhetik schenkt dem Leser eine gedankliche Weite, die klein wirkt gegenüber dem geistigen Horizonts, den diese Versuche heraufbeschwören. Essays sind somit ein Mittel zur geistigen Beschleunigung.