Die Glückskatastrophe des Künstlerdaseins

Im engeren Wortsinne versteht man Revision als Sichtung und Prüfung. A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn.

Photo von Eckhard Etzold

Als Proletarierkind bleibt einem nichts anderes übrig, als sich von der anthropologischen Nacktheit inspirieren zu lassen. In meinem Fall war dies ein Tigerauge. Mein Grossvater hatte ein Radiogerät, von dem aus mich ein grüner Leuchtpunkt anzwinkerte, mal war das ´Lid` zusammengeschrumpft, dann wieder erstrahlte dieses ´Auge` im vollen Umfang, dies immer begleitet von der akustischen Erreichbarkeit der jeweiligen Sender, die ich versuchsweise einstellte. Durch dieses Spiel mit dem Regler gelangte ich auf der Skala der Sender zum Hörspiel. Und eines der ersten Hörspiele das ich hörte handelte von Jim Knopf[1].

It’s not a Sony!

Zur Einschulung schenkte mir mein Patenonkel einen Philips-Kassettenrekorder (incl. Mikrophon, Ledertasche und Tragegürtel), den man im Batteriebetrieb auch aushäusig betreiben konnte. Dies ermöglichte Klangexkursionen in die Umgebung bei denen mich das das Klirren der Seile an einem Fahnenmast ebenso faszinierte, wie Sirene, die Samstagmittags losorgelte oder das kompressionsschnaufende Schliessen der Schulbusstür.

A.J. Weigoni in einer poetischen Performance

Es bereitet mir seither grosse Freude, wenn Geräusche in meinem Reptiliengehirn einen Alarmzustand herstellen und das Wort im reflektierenden Anschluss zu Fleisch wird. Das „Neue Medium“ Hörspiel erweist sich als Vehikel der Identitätsstiftung, weil es die Möglichkeit bietet, durch Interpretation und Aneignung etwas Neues zu produzieren. Wichtig bleibt mir, das Wort Spiel im Hörspiel zu betonen. Das Spielen scheint mir der Königsweg zum Verständnis der neuen Medien zu sein. Computer, Studios und Software sind keine Werkzeuge, sondern Spielzeuge, wobei die alten Medien als Navigationshilfen dienen. Ich vermute, dass die sogenannten ´Neuen Medien` die Alten lediglich ergänzen und nicht irgendwann ablösen werden. In meinem Studium der Medienpädagogik an der Heinrich Heine-Universität sollte sich das nicht nur theoretisch durch die Belegung der Seminare bei Prof. Almuth Keusen-Hickl[2] und Prof. Herbert Anton unterfüttern, sondern auch medienpraktisch. Auf Vermittlung des Literaturkritikers Hubert Winkels traf ich auf den Komponisten und Musiker Frank Michaelis, der von der Uni fussläufig entfernt in Bilk lebte.

Seinen Künstlernamen „Prima Frank“ erhält Frank Michaelis von seinem Kollegen Peter Thoms, legendärer Trommler bei Helge Schneider. Franks virtuoser Umgang mit dem Saxophon erinnert Thoms an Louis Prima und seine „Sam Butera Band“.

Frank Michaelis

Als Musiker und erfindungsreicher Komponist verfügte Frank Michaelis gegenüber meiner Kindheit über eine erhebliche Produktinnovation: einen Cassetten-Vierspurrecorder. Mit Hilfe dieses Geräts gehörten wir alsbald zum Kassettenuntergrund[3]. Obzwar es auch unserer Generation im Marxschen Sinn nicht gelang, die Produktionsmittel zu enteignen, so verfügten wir über eine Vervielfältigungsmöglichkeit, die uns von den Major-Labels unabhängig machte, so entstanden The Vera strange tapes[4] als erste Zusammenarbeit, welche über eine poetische Performance hinaus in ein Tanztheaterstück mündete.

Weil Frank und mir dieser Erfolg zu Kopf gestiegen war, leisteten wir uns als puren Eskapismus einen Ausrutscher auf Vinyl: die Karnevalssingle Man han isch ne dicke Kopp[5]. Bei diesem rheinischen Jux spielte die unverzichtbare Marion Haberstroh in der Rolle der Littly Anny Fanny mit.

Museen sind Leichenhallen für die Kunst und Bücher Särge für die Literatur.

Hansjürgen Bulkowski

Das „Kunstwerk“ in Arnsberg

Durch die fruchtbare Verbindung zur Werkstattgalerie Der Bogen begründete sich ein inspirierende Zusammenarbeit mit Peter Meilchen, so entstand das transmediale Projekt Schland[6]. Es ist die mir wichtigste Arbeit, weil hier Bildende Kunst, Komposition und die Darstellende Kunst sinnfällig ineinander gegriffen haben. Schland artikuliert sich als Zeitfetzen. Ein akustischer Raum in einem räumlichen Behältnis, dem ´neuen` DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Er folgt dem poetischen Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.“ Mit Meilchen arbeitete ich an einem Stück, das sich zwischen bildender Kunst, Theater und Performance bewegte. Die Aufführungen bestätigten: Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poe’s: „Man sieht es und sieht doch hindurch“.[7]) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Im Gegensatz zum oft beliebigem High-Tech-Bilderschaschlik, wurde Schland[8] mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8 S/W-Material. Meilchens Nachbearbeitung mit Tipp-Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen der Filmoberfläche kommentiert und verfremdet den Film zugleich. Genauso wie der Blick manipuliert wird, wurde die Tonspur bearbeitet. Wir hören als Continuum: Zikaden aus dem Mittelmeerraum, Kühe vom Niederrhein, Kuhglocken aus dem Zillertal und Unken aus dem Aquazoo. Die heile Welt, ein virtuelles Ereignis.

Der Tigersprung in das digitale Zeitalter

Bei Magnet-Ton-Aufzeichnungen sollte es nicht bleiben. Wir verknüpften bei unserer arrièregardistischen Arbeit ein altes Aufnahmemedium, den Kunstkopf, mit einer zu dieser Zeit neuen Aufnahmetechnik, das Digital Audio Tape. Damit konnten wir praktisch Road-Radio machen und jeden Raum in ein Aufnahmestudio verwandeln. Wir erarbeiteten Soundscapes um der Poesie neue Klangräume zu eröffnen. Zwangsläufig ergab sich daraus der Tigersprung in das digitale Zeitalter, die LiteraturClip-CD[9].

Aus dem rapiden Verfall der klassischen Hörkultur (Stichwort: „Begleitprogramm“) und dem fortschreitenden Verdrängungsprozess auf dem durch Hochtechnologie geprägten Medien entstand in der Abfolge der künstlerischen Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ioona Rauschan, den wandlungsfähigen Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, sowie dem Musiker und Komponisten Frank Michaelis fast zwangsläufig das Live-Hörspiel Fünf – oder die Elemente[10], das 1993 im Veranstaltungssaal des Gutenberg-Museums im Rahmen der Mainzer-Minipressen-Messe uraufgeführt worden ist. Wir haben diese Live-Hörspiel den „Anstalten des öffentlichen Rechts“ im deutschsprachigen Raum dieses Live-Hörspiel-Projekt bereits im Herbst 1992 zur Kooperation angeboten, damals bestand nach Auskunft der Dramaturgien kein Bedarf… dies sollte sich auch bei der nächsten Produktion nur unwesentlich ändern.

Wenn es Videoclips gibt muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.

Cover: Georg von der Gathen

Auf dem Hörbuch Top 100[11] finden sich Techniken und Arbeitsweisen aus 70 Jahren Hörspielgeschichte. Da prallt das Sampling eines legendären Walter Ruttman-O-Ton-Stücks auf eine klassische Sprech-Stimme, die gegen ein rückwärts laufendes Band anspricht und auf einen Proloriff kracht, der mit Streetsound gekreuzt wird… bis hin zu einer Hommage an Orson Welles; und natürlich alle digitalen Leckereien, die auf dem damaligen Stand der Technik möglich waren. Diese Werkgruppen sind ineinander verflochten. Es findet sich das Hörspiel als Bagatelle, Triviale Maschinen sind ebenso zu hören wie Streetsounds, das Hörspiel als Rough’n’Roll und nicht zuletzt das Hörspiel als Spiel.

Mit der Produktion dieser LiteraturClips war die Vorherrschaft der öffentlich/rechtlichen Sender – über das vom Rundfunk-Gebührenzahler finanzierte Vorrecht mit diesen Geldern auch Hörspiele zu produzieren – endgültig gebrochen. In der Folgezeit arbeitete ich mit Komponisten Tom Täger an Trivialmythen: RaumbredouilleReplica[12]… ein Hörspiel als Pop-Song, ein Popsong als Hörspiel, ein Hörspiel, das sich tanzen lässt… in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der als Vorläufer des Rap bezeichnet werden kann.

Für die Reihe MetaPhon hat das Tonstudio an der Ruhr der Plattform vordenker.de dankenswerterweise digital restaurierte Aufnahmen zur Verfügung gestellt.

Die Halbwertszeit der so genannten Neuen Medien ist atemberaubend, deshalb ist es Joachim Paul zu verdanken, der mit der Reihe MetaPhon[13] die hier erwähnten Hörbeispiele recherchierbar gemacht hat. Die Würde des Genres Hörspiel erweist sich darin, dass man es wie ein Kaleidoskop betrachten kann: Je nach Blickwinkel lässt es unterschiedlichste Brechungen zu. Unsere Mitmenschen fürchten sich vor Aids, vor der Vogelgrippe, die man früher Geflügelpest nannte. Kulturen werden überlagert und stürzen ineinander, Grenzen werden aufgebrochen – nationale ebenso wie materielle, technologische, psychologische; auch die Grenzen zwischen den Gattungen. Die bei MetaPhon eingestellten GhostTraXXX[14] spielen mit Derridas Begriff der Hauntology. Hybride Kreationen und Kreaturen, Identitäten und Kulturen entstehen aus den Rekombinationen unserer grundlegenden Codes – den digitalen, den genetischen und den atomaren. Letztlich ist das digitale Hörspiel selbst ein Hybrid aus den Verbindungen von Kunst und Technologie.

Freedom is just another word for nothin‘ left to lose

Janis Joplin

Mit dem Beruf des Schriftstellers assoziieren viele Menschen die Illusion von Freiheit. Dagegen versuche ich anzuschreiben: Niemand ist als selbstständiges Individuum ausgegrenzt und verloren. Nur ein Schriftsteller, der sich seine Verletzlichkeit bewahrt, kann überzeugen. Der Klang der Sprache ist dabei von grosser Bedeutung, aber für mich ist auch die Geschichte eine absolute Notwendigkeit. Es gibt es nichts, was demokratischer wäre als das Erzählen von Geschichten. Schreiben bedeutet so besehen, in einer Möglichkeitsform zu leben – und jedes Hörspiel entwirft einen Kosmos aus Ich-Fiktionen, für die das so genannte ´wirkliche Leben` nichts als den Stoff hergibt.

Zur Sprache bringen… ist ein Beitrag von „Menschen mit Möglichkeiten“ zum europäischen Jahr für Menschen mit Behinderung 2003 mit den zentralen Botschaften: Teilhabe verwirklichen, Gleichstellung durchsetzen, Selbstbestimmung ermöglichen.

Die Darsteller des Hörspiels

Radio-Machen ist ein Medium, bei dem man Behinderung nicht sieht. Bei diesem medienpädagogischen Hör-Spiel-Projekt[15] steht das Geschichten-Erzählen und die gemeinsame Arbeit von „Menschen mit Möglichkeiten“ im Vordergrund. Die Hörer spricht die Direktheit der dargestellten Konflikte an, auch die Ungeschütztheit, mit der berichtet wird, sowie eine gewisse Dringlichkeit des Tons. In diesem Hör-Spiel-Projekt geht es um verschiedene Arten, ins Gespräch zu kommen. Die Lust an der gesprochenen Sprache, an der Schönheit von Worten: Tonfall, Melodie und Rhythmus. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich machen die Bewohner des Benninghofs Sprache als Geschichte sichtbar; als ihre Geschichte.

„Nichts über uns ohne uns“

Die Collage Zur Sprache bringen[16] ist ein Platz für Geschichten ausserhalb normierter Sprachregularien, ein Oszillieren zwischen Eigenart und Eigensinn. Es geht nicht darum, auf der Armseligkeit der Menschen rumzutrampeln und sich über sie lustig zu machen. Sondern darum, das wahre Leben abzubilden und zu zeigen, welche liebenswürdigen, tragikomischen Seiten das so genannte einfache Leben haben kann. Man muss diese Menschen lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes Einzelnen einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen. Die O-Ton-Collage mit Bewohnern des Benninghofs zeigt einen Einblick in den Alltag behinderter Menschen. Diese „Menschen mit Möglichkeiten“ versuchen den schweren Dingen Leichtigkeit zu geben und die Wortfolge: „Selbstbestimmung, Assistenz und Integration“ – mit Inhalt zu füllen, ohne dass der Zuhörer auf den Spass verzichten muss. Dieser Spass geht nicht auf Kosten der behinderten Menschen, sondern transportiert sich mit ihrer Hilfe.

Die Sprechpartitur Wortspielhalle wurde 2014 mit dem lime_lab ausgezeichnet

Auf dem Cover: „in Frühlingel von Peter Meilchen

Mit dem lime_lab[17] bin ich vollauf bestätigt worden. Was mich an dieser Zusammenarbeit besonders faszinierte war die Kooperation mit der Kollegin Sophie Reyer und die Transformation der Sprechpartitur mit der unverwechselhaften Schauspielerin Marion Haberstroh, versiert begleitet durch Tonmeister Täger. Ohne die Inventionen von Peter Meilchen wäre es jedoch kein transmediales Projekt geworden; dieses Hörspiel ist somit eine Kunstform, die viele künstlerische Genres in sich vereint. Es kann sich – das verstehen die Veranstalter des lime_lab unter transdisziplinär – angesichts der aktuellen Durchlässigkeit aller Kunstformen von einem genuin literarischen Werk, eventuell in Kombination mit Neuer Musik, zu einer akustischen Kunstinstallation erweitern und gleichzeitig die Möglichkeiten zeitgenössischer Technologien und der Neuen Medien fruchtbar machen. Diese Art der Poesie ist somit eine Sensibilität, eine Haltung, eine Art, über Identität nachzudenken. Man kann sie zu einem extravaganten Stil entwickeln, campy, künstlich und artifiziell. Es kommen mehrere Dinge zusammen: Kunst, Mode und Musik. Poesie kann selbstreflexiv sein, weil sie im Kopf des Schriftstellers entsteht. Bei der Poesie gibt es Spuren von Performance-Kunst und Dandyismus. Es gibt Verbindungen zur Identitätspolitik, die in die Gender- und Identitätsdebatten mündete. Poesie ist immer etwas Konstruiertes, das Erfinden einer Persona, ein gesellschaftliches Re:Tuning für persönliche und soziale Transformationen. Poesie hat kein Geschlecht.

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Ein poetisches Polymorphem

Poesie verlangt den Artisten oft sehr viel Geduld ab. Was zu Beginn ein starres Wort ist, beginnt zu leben, es bilden sich zusammen in der Kombination mit anderen Wörtern losen Zeilen, etwas Lebendiges wächst. Und so entstanden aus Buchstaben nach einer Zeit des Überformens ein Langgedicht. Das Monodram Unbehaust funktioniert in unterschiedlichen Medien jeweils anders. Wir haben im Tonstudio an der Ruhr Unbehaust[18] mit Bibiana Heimes als Jo Chang als Hörspiel aufgenommen. Ausschschliesslich aus Papiergeräuschen hat Tom Täger ein Komposition dazu gemacht. Es geht darum durch Sprache zur Welt finden und durch das Buchstabieren der Welt zurück in die Sprache… Erfahrung einatmen, Poesie ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Ob dieses Monodram etwas bedeuten soll, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass es sich ereignet.

Dieses Monodram[19] ist ein Sprachgeschehen, das die Leser und Hörer synchron miterleben können, vorausgesetzt, sie sind bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Rücksturz in die Gutenberggalaxis

Original Holzchnitt von Haimo Hieronymus auf das Cover gedruckt

Der bildende Künstler Haimo Hieronymus und ich schlugen mit Unbehaust[20] nicht nur einen Steg zwischen den Künsten (Malerei / Poesie), sondern auch eine Brücke zwischen den Zeiten und produzierten ein Künstlerbuch, der Text wurde im Bleisatz gedruckt, die künstlerischen Arbeiten mit der Technik des Holzschnitt gedruckt; ein unvergessliches Geschenk. Nirgendwo entfaltet sich darüber hinaus ein Monodram so, wie auf der Bühne, einem Stück Theater, eine flüchtige Kunst. Alle drei Stücke (auch das Monodram Señora Nada, sowie das Sissi-Stück Oden an die Zukunftseelen) waren der Bühne zu sehen. Und zu hören.

Abseits der eingetretenen Rezeptionspfade war ich seit Beginn der Magnetton-Experimente leidenschaftlich an grenzüberschreitenden artIQlationen interessiert. Die geschriebene Sprache war von daher über all die Jahre immer eine Metapher für das gesprochene Wort. Je „echter“ sie, auch durch die Tonaufzeichnungen in den unterschiedlichen Medien, klingt desto weiter ist sie von der Umgangssprache entfernt. Literatur sollte die Widersprüche des Lebens reflektieren. Poesie kann daher zu einer Art von metaphysischer Grenzüberschreitung werden.

Peter Meilchen liebte es, am Rhein entlang zu flanieren. Er fügte der Horizontale des Begehbaren meist die gedankliche Vertikale hinzu.

Anlässlich des 10. Todestags von Peter Meilchen war es Freunden und Förderern ein Anliegen an diesen Künstler mit einem cross-medialen Buch / Katalog + Doppel-CD zu erinnern, in dem sich bislang unveröffentlichte und auf den Punkt passende Arbeiten aus dem Nachlass des Künstlers befinden. 630 wurde zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den Orten der Lebenden und den Orten der Toten, wie sie sich zueinander verhalten, miteinander sprechen und worüber sie schweigen. Das „richtige“ Hören gibt es ebenso wenig wie das „richtige“ Lesen oder das „richtige“ Sehen.

Reagierte die Literarurrezeption im letzten Jahrtausend irritiert auf transmediale Projekte[21], so hat die Deutsche Nationalbibliothek diese Ratlosigkeit inzwischen verschlagwortet: „Medienkombination“.

630, eine Colage von Klaus Krumscheid und Peter Meilchen

Die überaus langsame Verfertigung der Vignetten ist nicht nur Teil einer 42-jährigen Geschichte der Überformung des Materials, es ist der auch der Versuch eine Literaturgattung neu zu definieren. Mein Re:boot der Novelle erscheint nach langer Vorarbeit in der Umsetzung als Hörbuch und als Buch/Katalog-Projekt 630[22] zur Ausstellung von Peter Meilchen im Kunstverein Linz; damit gelingt der Zirkelschluss zu Schland. Es gehört zur Gratwanderung des Erzählens, dass der Ton getroffen wird, es müssen die Präzision der Sprache, der Rhythmus der Syntax und die Klarheit der Bilder zusammenkommen. Auch in der letzten Produktion im Tonstudio an der Ruhr gibt es, dank der Begleitung durch den Hörspielkomponisten Tom Täger, eine mit dem Gedanken des Werks übereinstimmende, 24-teilige Umsetzung; es tönt als Konglomerat an Klanghaftem. Und abermals sind es die hinterlassenen Inventionen von Meilchen, die das Projekt auf charmante Weise abrunden.

Der Tod ist ein Skandalon, das sich nicht aus der Welt schaffen lässt.

Im Jahr 2020 arbeiten wir mit einem fundiert gesicherten Wissen darüber, das Kunst sich eben nicht nur aus der Wirklichkeit, sondern immer auch aus dem zuweilen aufreibendem Dialog mit anderen Künsten, den Rhythmen, Klängen und Bildern anderer Werke und anderer Zeiten speist. Tom Täger und ich erkundeten bei 630[23] im Tonstudio an der Ruhr letztmalig die Schnittstellen zwischen bildender Kunst, zeitgenössischer Musik und Literatur.

Damit ist längst nicht alles gesagt… aber so kann man aufhören.

 

 

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Vorlass, Gebrauchsprosa von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2019.

Cover: Original-Schablonendruck von Haimo Hieronymus

Manche Betrachtungen erinnern vor der Ferne besehen an die „Flaneurstexte“ der 1920-er Jahre, die als „Reproduktion von Großstadterfahrung“ gelesen werden können, z.B. wenn der Autor eine Fahrt zum Flinger Broich beschreibt. Auch die „kurzessayistische Feuilletonprosa“ kommt in einer Auseinandersitzung mit den Beach Boys nicht zu kurz. Diese Passagen wirken beinahe wie eine Hommage Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der Konsumkultur. Als „kulturkritische Kurzessayistik“  kann man daher eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung lesen.

Weiterführend → Alle Exemplare des Prosa-Werks sind handsigniert und limitiert in einem Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich. Es ist ein weiterer Akt der Werkoffenbarung. Darin enthalten sind die Novelle Vignetten, die Erzählungen Zombies, der Novellen-Band Cyberspasz, a real virtualityDer erste Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet und der „Heimatroman“ Lokalhelden.

Und nur in diesem Schuber enthalten sind das Hörbuch 630, sowie Weigonis Gebrauchsprosa Vorlass, in dem biographische, werkgenetische und poetologische Fragen beantwortet werden.

→ Eine Würdigung des lyrischen Gesamtwerks finden Sie hier.

 

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Fusznoten:

[1] „Anfang der 1960-er Jahre kam ein junger Autor zu mir, der mir ein Stück auf den Tisch legte, in dem ein uneheliches Kind die Hauptrolle spielt und von allen Sendern abgelehnt wurde. Ich produzierte den Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer als Hörspiel.“, erzählte mir meine WDR-Hörspieldramaturgin Ingeborg Oehme-Tröndle.

[2] Raumstrukturen- Menschenspuren, Ausstellung mit Katalog, Düsseldorf 1988. Kuratorin: Prof. Almuth Keusen-Hickl

[3] „Die Kassettenszene war so etwas wie das hyperaktive Kind der NDW–Zeit.“ (Frank APunkt Schneider)

[4] The last pop-songs, von A.J. Weigoni und Frank Michaelis (mit Marion Haberstroh und Andy Schulz) bei instant music, Düsseldorf 1989

[5] „Der Bastard im Kopf, wer kennt das nicht, aber musikalisch so richtig auf den Punkt gebracht haben das erst Max und Moritz… Wie trist und langweilig wäre die Welt, gebe es zum Beispiel die Single Man han isch ne dicke Kopp nicht.“ (WDR1, Graffiti)

[6] Schland, Ausstellung von Peter Meilchen in der Werkstattgalerie Der Bogen, Neheim, Lange Wende 42, am 13.12.1992 ab 17:00 Uhr. Zur Ausstellungseröffnung wird der Super-8-Film Schland mit einem Ohr-Ratorium von A.J. Weigoni uraufgeführt. Frank Michaelis, Saxophon (Komposition), Marion Haberstroh und Kai Mönnich, Schauspieler.

[7] The purloined letter ist eine Story von Edgar Allan Poe, die erstmals im Dezember 1944 in dem literarischen Almanach The Gift for 1845 veröffentlicht wurde.

[8] Als Nachschland findet sich eine Hörprobe von »Ein Ort. Skoping.« seit Juni 2011 in der Reihe MetaPhon.

[9] LiteraturClips, von A.J. Weigoni und Frank Michaelis (mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich) bei Constrictor, Dortmund 1991 – Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.

[10] „Qualität in Wort und Regie zeigte auch die Uraufführung von A.J. Weigonis neuestem Hörspiel, das sich Gedanken macht über die veränderten Wahrnehmungen durch eine von Medien dominierte Welt.“ (WDR 3, Mosaik)

[11] Gebrauchsanleitung: Stellen Sie vor dem Einschalten Ihres CD-Players die Funktion „Random“ oder „Shuffle“ ein. Der Zufallsgenerator Ihres CD-Players komponiert Ihnen dann das eigentliche Hör-Spiel. Das chronologische Abhören von Top 100 ist aus künstlerischen Gründen nicht gestattet!

[12] „Wunderbares Spiel mit den Trivialmythen der klassischen Sience–Fiction. Der Witz und die parodistische Perspektive befördern den Unterhaltungswert dieser Produktion, ohne daß das ironisch-artistische Collageverfahren ins Denuziatorische abgleitet.“ (Manfred Mixner, SFB)

[13] Die Germanistik erweist sich dem Rundfunk gegenüber bisher allzu oft als schwerhörig. Dieser „déformation professionelle“ versucht die Reihe MetaPhon zu entkommen.

[14] 1999 GhostTraXXX produziert für „Klangturm St. Pölten“, ein Klangkunsteinrichtung in Oberösterreich.

[15] Medienkompetenz umfasst vier Punkte: Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung. Diesen Weg zeichnet A.J. Weigoni mit seinem essayhaften Text Produktorientiertes medienpädagogisches Arbeiten mit Jugendlichen nach.

[16] Zur Sprache bringen…, O-Ton-Hörspiel von A.J. Weigoni. Ursendung auf DeutschlandRadio Kultur. Die Aufnahme war in HiFi-Stereo-Qualität auf CD erhältlich.

[17] Wortspielhalle, eine Sprechpartitur von Sophie Reyer & A.J. Weigoni, mit Inventionen von Peter Meilchen, Edition Das Labor, Mülheim – Ausgezeichnet mit dem lime_lab 2014

[18] Die Hörspielfassung von Unbehaust ist erschienen auf dem HörBuch Gedichte, die lyrischen Gesamtaufnahmen von A.J. Weigoni, remastered von Tom Täger für die Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2015.

[19] „A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.“ (Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century)

[20] “Beim Holzschnitt auf Bütten durchdringt die Farbe das Papier. Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni gehen dabei vom virtuellen wieder ins Materielle, zielen auf ein älteres Speichermedium ab.” (kultura-extra – das onlinemagazin)

[21] „Literatur, die sich nicht mehr auf die Seiten eines Buches bannen läßt…“ (ORF)

[22] „Die filmschnittartigen Reflexe des Großstadtlebens sind Walter Benjamin nahe, doch auch den ‚Mythen des Alltags’ von Roland Barthes. Was Benjamin noch ungebrochener faszinierte, zeigt Weigoni mehr im Technomodernismus.“ (hoerspieltalk.de)

[23] 630, Ausstellung im Kunstverein Linz, gefördert durch die Kulturstiftung der Sparkasse.