die motive des gräbers

zur lyrik und prosa von andré schinkel

wenn sich in texten von andré schinkel, der neben der literaturgeschichte prähistorische archäologie studierte, auch archäologische motive finden, so wirft das die frage auf, was den dichter in ihm mit dem archäologen verbindet. ich denke, einiges: die suche nach ursprüngen; ein ideeller anspruch, der ihn gegenstände und zeichen konzentriert behutsam wenden und dabei, im betrachten, wandeln läßt, und zwar nicht mittels einer einfachen drehung, die bloß oberflächen und seiten wechselt, sondern bis das substantielle darin und daran aufscheint und anklingt und seine konturen und nuancen freigibt; die erfahrung, daß bruchstücke, scherben wie metaphern, etwas ganzes enthalten und bedeuten können und man zugleich über das gefundene nie alles weiß, das heißt geheimnisse bleiben, die ahnungen freisetzen und phantasie entwickeln lassen; die techniken der montage, die der kreative umgang damit verlangt; die erkenntnis, daß wir als menschen ebenfalls bruchstücke unter anderen und fragmente unserer selbst sind und die kunst, zerbrochenes stets neu zu fügen, realistischer ist als man gemeinhin glaubt. in den brüchen aber wohnt der traum.

walter benjamin verglich die seelische erinnerungsarbeit mit der schürfarbeit eines archäologen. paul virilio, der geschwindigkeitswahrnehmungsundentwirklichungsanalytiker, meinte in >Der negative Horizont / Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung<: »Ich fand immer, daß das Gesichtsfeld mit dem Ausgrabungsplatz des Archäologen vergleichbar ist. Sehen heißt, in Erwartung dessen, was im Hintergrund auftauchen wird und namenlos ist, auf der Lauer zu liegen, in Erwartung dessen, was keinen Reiz darstellt; was schweigt, wird sprechen, was verschlossen ist, wird sich öffnen.«

die archäologischen rückgriffe andré schinkels verweisen auch auf, teils offenbar traumatische, erfahrungen der kindheit, die er durch verfremdung verarbeitet. indem die erdkruste der eigenen haut entspricht, unter der das seelenleben stattfindet, können ausgegrabene scherben und knochen zu symbolen der innenwelterfahrung werden. der literarische text formiert dann über der erde, oder auf der grenze dazu, wieder zur ganzheit einer bildfindung, was unter der erde nur noch bruchstückhaft und fossiliert liegt. zugleich lagern verschüttete versprechen unter erde und haut, in >Nachhall (Fragmente)< hinter der »Megalithik der Verletztheit«. darin bleibt die kindheit, kinder sind das naturvolk jeder gegenwart, als das verheißende zeitalter des einzelnen menschen bewahrt. »Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.« postuliert das >Neue Testament<. altersweise kunst greift häufig auf erlebnisweisen der kindheit zurück, wie wenn das leben dazwischen nur ein durchgangstor, eine pforte ins erkennen wäre.

heraklit schrieb über apollon, den orakelgott von delphi: »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an.« gleiches tun gedichte. griechische orakelstätten, die ursprünglich teilweise der erdgöttin gaia geweiht waren, lagen oft direkt an der grenze zur erde, also zwischen oberwelt und unterwelt, so an erdspalten, höhlen, brunnen und quellen. unter der erde vermutete man das wissen, über das die seelen der toten verfügten. odysseus und aeneas mußten in die unterwelt hinabsteigen, um prophetische auskünfte zu erhalten.

thomas mann sagte in seinem vortrag >Freud und die Zukunft< von 1936 zum 80. geburtstag sigmund freuds: »In der Wortverbindung „Tiefenpsychologie“ hat „Tiefe“ auch zeitlichen Sinn: die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet.«, und: »im Leben der Menschheit stellt das Mythische zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des Einzelnen aber eine späte und reife.« freud nannte glück die nachträgliche erfüllung eines prähistorischen wunsches. otto rank zitierte in >Das Trauma der Geburt< freuds beobachtung, »daß die sogenannten „autobiographischen Träume“ in der Regel von rückwärts nach vorn zu lesen sind (d.h. wunschgemäß mit dem Intrauterinzustand enden).« »Im Reich der absoluten Imagination wird man erst sehr spät jung.« schrieb gaston bachelard (>Poetik des Raumes<). ebenso werden seelisch verletzte menschen nur langsam wieder jung, und allein durch liebe. die meisten hält freilich das leben von tiefen ab, die sie erreichen könnten. je weiter entfernt und unerreichbarer die eigene kindheit indes scheint oder wirklich ist, umso magischer wirkt sie. alles heraufholen und erwecken aber korrespondiert mit auferstehungsmysterien, die stets projektionen des seelenlebens waren. und die seele eines dichters, der sich selber initiiert, auch indem er die verlorene kreativität des kindes wieder ausgräbt, kann wohl wirklich auferstehn.

heiner müller sagte einmal: »Psychoanalyse ist das Gegenteil von Kunst. Kunst kann als Flucht vor der Selbstanalyse beschrieben werden. Wenn ich weiß, wer ich bin, habe ich keinen Grund mehr, zu existieren, weiterzumachen, zu schreiben oder sonst etwas zu tun.« (>Traumtexte<). manche psychoanalytiker sehen in der symbolischen verdichtung, die im visionären leben läßt, bilder für verborgene wirklichkeiten, permanente verwandlungen, fließende übergänge und mischgestalten schafft sowie kausale raumundzeitbezüge aufsprengt, eine regression, die sie durch erklärung aufzulösen versuchen. was sie regressiv nennen und überwinden wollen, kann jedoch teil eines kreativen prozesses sein, und damit ein ursprung der kunst. der künstler, der in seiner kunst nicht aus seinem traumspiel ohne ende, das ihn heilt, herausgerissen werden muß, verfremdet und vertieft paradoxe erfahrungswelten wie traumgebilde weiter, wo der psychoanalytiker sie zerlegt und auflöst. kreativität, die das scheinbar unvereinbare verbindet und verschmilzt, lebt von übertragungen und verfremdungen. eine abtötung der fähigkeit zur projektion würde viele stumpfsinnig machen.

gleichwohl bleibt das existentielle erinnern eine gratwanderung, etwa aufgrund der tatsache, daß bei der suche nach primärem, die unter umständen auch todessehnsucht als variante der entspannung von gegenwärtig bedrängendem einschließt, oft die sublimierung leidet, und der sublimierte. außerdem fühlt sich der mensch, der die gegenwelt des unbewußten betreten hat, danach in seinem angestammten äußeren umfeld häufig umso heimatloser, während umgekehrt mancher dem phantastischen gegenüber fürchtet, sein ich zu verlieren, da der ansturm der visionen offenbart, wie stabil oder labil ein seelischer kern ist. in der romantik meinte das wort phantastisch auch todesnähe. die ständig nötige überwindung sich verhärtender konventionen hingegen verlangt auch die rückkehr zu ursprüngen, individuellen wie kulturhistorischen, die nicht zwangsläufig regressiv sein muß, sondern sensibilität fürs gewachsene schulen, wachheit gegenüber abgedrängtem, verschüttetem und unerfülltem bewahren und trennungen von verlorenem aufzuheben vermag.

wer menschen und menschenwerk ausgräbt, begreift ihr gewordensein und vergehen, die kreisläufe, umbrüche, abrisse, trümmer, splitter und narben im fleisch der geschichte. und er kann, indem er einen überhistorischen blick entwickelt, der ihn aus dem kontinuum der zeit und den sichtweisen der gegenwart, dem hauswart der wirklichkeit, ja der identität der eigenen person, heraustreten läßt, auch aktuelle zustände und prozesse archäologisch, oder ethnologisch, wie einer fremden kultur zugehörig, erkunden. andré  schinkel, für den die erde, in der er gräbt, gleichzeitig gegenwärtig und vergangen ist, sucht in einer welt, die permanent kultur zum ornament verflacht, die scherben früherer kulturen und darin eigene ursprünge, um sein werden zu begreifen. unser autor, in dessen texten sich seelenbewegungen oft durch erstarrte außenwelten graben, die sie zu durchdringen suchen, scheint aus einer kultur zu stammen, die schon im entstehen aus geröll und schorf bestand. zugleich ist er, mit dem gefühl, daß er selber das ausgegrabene sein könne, längst vertraut, da er seinen funden auch in sich begegnet, und poesie lebt ja gerade von solchen verschmelzungen des subjekts mit seinen gegenständen, ein zurückblickender chirurg und therapeut, der zerbrochenes zusammenfügen und ruiniertes retten will, also utopisch veranlagt.

mit den archäologischen motiven korrespondieren solche des todes und der geburt. wirkt da ein geburtstrauma nach, zumal eines ideeller art, des geworfenseins in eine verkehrte welt? oder gräbt nach totem, wer ahnt, dies sei das beste material eines jeden aufbruchs, und ein besseres wäre nur das chaos, in dem noch nichts verloren und damit alles, seiner substanz nach, ganz war? ein pyramidentext umschreibt die zeit des chaos mit »als die Menschen noch nicht entstanden waren, als die Götter noch nicht geboren worden waren, als (selbst) der Tod noch nicht entstanden war.« das entspricht der altägyptischen vorstellung, daß die auferstehung einer rückkehr an den anfang der welt gleichkommt. kreative erneuerungen verlangen rückgriffe. folglich enthält der entstehungsprozeß der kunst für einen künstler immer auch, bewußt oder unbewußt, die erfahrung eines wiedergebärens, das lebenslang andauert. geborenwerden allein genügt nicht. der mensch, und zumal der schöpferische, muß sich permanent selbst gebären. »Hört die Geburt auf, hört das Leben auf. Tragisch ist, dass viele sterben, ehe sie geboren wurden.« konstatierte erich fromm.

bei philosophen, mystikern, dichtern und künstlern ist das motiv der geistigen, metaphysischen, literarischen und künstlerischen selbstgeburt oft mit dem der auferstehung verbunden, die jedes originelle werk verlangt. c.g. jung schrieb in >Symbole der Wandlung / Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie<: »Selbstbebrütung, Selbstkasteiung und Introversion sind nah zusammenhängende Begriffe. Die Vertiefung in sich selbst (Introversion) ist ein Eingehen in das Unbewußte und zugleich Askese. Aus dieser Handlung entsteht für die Philosophie der Brâhmanas die Welt, für die Mystiker die Erneuerung und geistige Wiedergeburt des Individuums, das in eine neue geistige Welt geboren wird.«

bei andré schinkel, der das erdreich mitunter sogar geschlechtlich auffaßt, gibt es die archäologisch betrachtete geliebte und den erotischen akt der ausgrabung. eine ähnliche einfühlung in einen archäologischen fund findet sich in seamus heaneys gedicht >Moorkönigin<: »Mein Zopf, die dünne / schleimige Nabelschnur / des Moors, wurde durchtrennt, // und ich stieg aus dem Dunkel / mit zerhauenen Knochen, Schädelschmuck, / zerfallner Stickerei, Troddeln, / fein schimmernd auf dem Erdwall.« die beschreibung eines moormädchens in heaneys gedicht >Seltsame Frucht< wiederum, »Man löste sanft den nassen Farn des Haars / Und stellte sie zur Schau mit ihren Locken, / Ließ Luft an ihre lederfeste Schönheit.«, läßt gottfried benns frühe gedichte >Schöne Jugend< oder >Kleine Aster< assoziieren. manche alchemisten haben versucht, die verschmelzung der metalle durch einen parallelen liebesakt zu befördern. schließlich lebt auch die welt der liebe von imaginationen.

»Und ich träume mir Gletscher, die mich umschließen, daß ich bewahrt sei. Und in diese Erstarrung hinein kann ich mich krümmen und wähne mich nicht mehr erspähbar und hocke und warte.« lesen wir bei andré schinkel (>Monolog XII<). dieses gletscherbild erinnert an die auferstehungsverheißende embryonalstellung des toten in der sakralbehausung pyramide, »der darauf wartet, durch magische Kraft in seinen Tod hinein, zum lebenden Tod begeistet zu werden.« (ernst bloch >Das Prinzip Hoffnung<). »Ich bin ein Kind: wer außer mir / Späht aus dem klobigen Dolmentor?« heißts in >Amergins Lied< (robert von ranke-graves >Die weiße Göttin / Sprache des Mythos<) aus der irischen überlieferung. auch die gegenwelten der poesie sind anderswelten.

eigentlich bedeutet jedes verwandeln und grenzüberschreiten gebären. und jede schwellensituation verweist auf zeugung, geburt und tod. alle wirklichen magier, seher, mystiker, dichter haben das gewußt. und wenn jemand eine solche erkenntnis bereits jung verinnerlicht hat, kann er noch ganz andere erfahrungen machen. denn er wird ja weiter räume entgrenzen, sich darin entwickeln und damit entweder/oder-prinzipien untergraben und übersteigen. wer die seele sucht, findet keine festen grenzen und kein ende, sondern labyrinthe und ambivalenzen. je tiefer man ins innere der seele schaut, umso dunkler wird es zunächst. wer dann noch sehen will, braucht das eigene innere licht. andré schinkel zweifelt ohnehin an allzu linearen denkweisen. und solcher zweifel erleichtert tolerenz. indem er gerade auch im toten, das gemeinhin nur als anti-leben gilt, lebendiges entdeckt, das heißt mehr befleischt denn skelettiert, vielleicht weil frühe verwundungen in ihm lebenspotenz beschädigt und eingefroren haben, läßt der ideell durchlebte tod profane abhängigkeiten abwerfen und macht so, in schöpferische energie verwandelt, frei für alternativen jenseits des herrschenden realitätsprinzips, das hauptsächlich an zeitbegriffe gebunden ist, während sich die totenwelt, das lustprinzip und die kunst stärker mit raumvorstellungen verbinden.

man könnte fragen, ob das todesmotiv todesangst oder todessehnsucht bezeichnet. doch das wäre zu eindimensional gedacht. wer todeswelten imaginiert, muß kein toter werden wollen oder gar schon sein. allerdings bringen uns jede tiefe und jede intensität dem tod näher. die verwundete seele greift häufig nach der todesmetaphorik. und jede wunde nimmt ein stück unschuld. allein der tod heilt alle wunden. und am ende wissen wirklich nur die toten, wieviel man beleben kann. »So ist das Wort Leichnam ohne Zweifel das Zauberwort, mit dem der Tote in ganz bestimmter Hinsicht bezeichnet wird. Ihm entspricht das römische Imago als das zauberhafte Lebensbild, das sich im Schreine des Körpers verbirgt.« schrieb ernst jünger in >Das abenteuerliche Herz<. die ägypter nannten das totenreich schetit=die geheimnisvolle. die >Unterweltsbücher< setzten leichnam und geheimnis gleich. in der romantik meinte das wort phantastisch auch todesnähe. der imagination wird das grab zur passage in den innenraum. sie läßt im toten das ungeahnte, also ahnbare, wittern. aufblühen und verwelken, lieben und sterben, glut und frost, ekstase und askese sind ihr jeweils verwandte kräfte, ereignisse und prozesse, ausprägungen derselben energien. heute gilt schnell als dekadent, oder nekrophil, wer in matriarchal geprägten bildern spricht, während es andererseits ein beitrag zum zerfall unhaltbarer zustände sein kann, morbidität zu befördern.

andré schinkels trauer zeugt auch leuchtende bilder. hinterm durchlittenen scheint kristallines auf. er spricht vom »schweigen der kummer-smaragde«, das irisiert (>ballungen, verluste der kindheit, gestammel<). wer spürt, daß der tod die radikalste aller gegenwelten ist, und damit der urgrund der phantasie, die nichts so herausgefordert hat wie das unsichtbar gewordene tote und das noch nicht geborene oder nicht lebbare leben, braucht keine angst davor oder sehnsucht danach. er belebt diese welt, die traurig macht und kreativ, bis das imaginierte die trauer übertrifft. ähnlich haben es ganze völker und kulturen getan.

tod, auferstehung, imagination und utopie gehen vielfach ineinander über. viele phantasiereiche, das paradies inbegriffen, waren ursprünglich todesreiche. die todesundauferstehungssymbolik ist eine der grundideen mythischen, religiösen und utopischen, und damit ideellen, denkens und empfindens überhaupt. todesgedanken bei dichtern sind oft auferstehungsgedanken und apokalyptische visionen der umgekehrte ausdruck eines, bewußten oder unbewußten, verlangens nach einer besseren gegenwärtigen und realen welt, ihrer utopien, ihres kulturidealismus und glaubens. utopien halten ungelebtes lebendig. was profan versiegt, kann metaphorisch auferstehn. die erscheinungsformen haben sich geändert, der anspruch bleibt. utopien, die nicht rational erhalten bleiben, leben im irrationalen weiter. und je weniger wir utopisches positiv fassen, umso mehr muß es entweder verflachen oder apokalyptisch formuliert werden. »Verbrennen musst du dich wollen in der eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!« sagt zarathustra bei nietzsche, und »Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.« freilich meint dies ein seelisches, fiktives, symbolisches sterben und auferstehen. die übergänge zum realen jedoch bleiben fließend.

die besten seher sind die toten. abgeschlagene köpfe besitzen häufig prophetische gaben. vom irdischen leben befreit, sehen sie das der lebenden umso genauer voraus, neigen freilich auch zum kannibalismus, da sie nach fleisch dürsten, nachdem sie ihr eigenes verloren haben. »Wofür die Gestorbenen keine Worte fanden, solange sie lebten, / Das können sie dir sagen, da sie tot sind: Die Toten sprechen / Mit feurigen Zungen jenseits der Lebenden Sprache.« heißts bei t.s. eliot (>Gesammelte Gedichte<). wer zuviel durchschaut, ist oft bereits tot.

substanz kommt aus dem verlust. wunden der seele verwurzeln die kunst in der tiefe. häufig kompensiert die kunst das verlorene, verletzte und nicht gelebte leben des künstlers, der sich in seiner kunst vor allem vom eigenen, meist verwundeten, seelenfleisch nährt, das ihm derart verspeist wie in einem magischen kessel immer wieder nachwächst. der frühe tod vieler künstler deutet, sofern sie nicht mehr noch durch ihre lebensverhältnisse, und insbesondere das unverständnis der zeitgenossen ihrer kunst gegenüber, zugrunde gerichtet wurden, auf kreative selbstverzehrung. ezra pounds >Pisaner Cantos< wurde eine dichtung nach dem tod genannt. aber schreiben nicht alle wirklichen dichter eigentlich erst nach ihrem tod? bliebe das leben nicht hinter der kreativen konsequenz der kunst zurück, die straßen wären gepflastert mit knochen. andererseits ist der tod nur so lange eine größenphantasie, wie man ihn nicht selbst erlebt.

gegenwärtig scheint humaner umgang mit tod und totem geboten, wo feindbilddenken, das keineswegs verschwunden ist, seine gegner behandelt, als wären sie anti-leben, das bekämpft oder gar vernichtet werden müsse. ein integrierendes, und nicht ausgrenzendes, verhältnis zum tod, das die dinge und menschen ehrt, gerade weil sie vergehen, also gefährdet sind, kann daher lebensbewahrend wirken. ich weiß, ich rede von einem paradoxen humanismus. doch das wird künftig der einzig lebbare sein. alle klaren weltbilder haben versagt oder werden noch versagen. übergroße klarheit im denken verhindert eher einen wachen blick.

andré schinkel, den die zerborstenheiten der wirklichkeit nicht verhärten, da er ihnen behutsam begegnet und sie zu verstehen versucht, indem er mehr dem warmen prinzip der vermischung denn dem kalten der grenzziehung folgt, weiß um die begrenzten und verformten leben der meisten, und will dennoch seine hoffnung auf die heilende kraft der lebensenergien nicht aufgeben. zugleich sieht er, daß das, was glück, genuß, spaß heißt, zu großen teilen phantasmagorien einer kultiviert entfremdeten wirklichkeit entspricht, die sich technokratisch vorantreibt und zugleich trivialmythisch beruhigt und dabei viele menschen am leben hält, deren illusionsgespeiste erlebniswelt letzten endes nur die vorwegnahme des todes im leben ist. möglicherweise bewahrt in der verweigerung einer manipulierten glücksverheißung eine warme trauer vor zynischer indifferenz.

wir finden bei andré schinkel ein vitales traurigsein, das sinnlichkeit und schwermut verbindet und vermischt. er bewegt sich, indem viele seiner bilder und gedanken, die um dunkles, abgründiges, zerfallenes und erstarrtes kreisen, pulsierend hervorbrechen, ein feuerelement, denn sie wachsen wie flammen, die sonne des ursprungs ist der körper der mutter, durchaus impulsiv im eignen material, während er die darin aufscheinende welt auch nüchtern reflexiv betrachtet und unsichtbar gewordenes und werdendes als schatten des verrauchten lichts bedenkt. seine träume seien schatten von körpern, schreibt er. indem seine bildwelten abgesunkenes, unterschwelliges, rätselhaftes und unbestimmtes heraufholen, sind sie aber auch körper von schatten. marleen stoessel schrieb in >Aura / Das vergessene Menschliche / Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin<: »Die Aura des erzählten Traums ist, was von ihm als Schatten bleibt. Poesie ist der erzählte Traum, an ihr haftet als Aura der wirkliche Traum, Aura ist ihr wesentlich. Verfällt die Aura, der Schatten des Traums, so verfällt auch die Sprache der Poesie.«

die symbolische vertiefung und sublimierung braucht die metaphysische, überreale, gegenweltliche und zeitlose dimension, die entsteht, indem der kreative prozeß pforten zwischen unbewußtem und bewußtem öffnet und so tiefenschichten für den literarischen text zugänglich und produktiv macht. kreativität setzt daher die aufhebung und transformation des irdischen, realen, profanen, alltäglichen voraus. symbolisch ist, was sich anders nicht beschreiben läßt. symbole verkörpern häufig etwas unbewußtes, das wir, da es sich begrifflichem denken entzieht, anders als durch bilder kaum fassen. die magische topographie der seele bewohnen tiere, pflanzen und gesteine, vorzugsweise solche, die wir aus der realwelt der gegenwart nicht kennen. und sie können mit dem unabgestumpften erstaunen, erschaudern und erschüttertsein eines kindes wahrgenommen werden, das im innersten überlebt und das gespür für urzeitliche motive bewahrt hat. gerade was fern und fremd wirkt, kommt vielfach aus dem untergrund der innenwelt, die einem kosmisch durchpulsten universum gleicht.

wer literatur verstehen will, braucht ein gespür dafür, wie sie entsteht. und werdendes kann oft nicht gewußt, sondern allenfalls geahnt werden. die bloße deutung von handlungen, figuren und symbolen ist weniger als der halbe weg. das mag uneingeweihten, die bloß nach anschaulich greifbarem und plastisch verkörpertem suchen, das verständnis erschweren, weil sie hier selten eindeutiges, mithin bereinigtes, findet, das gesicherten halt gibt und bekannte denksätze bestätigt. doch wer sagt denn, daß bücher schwerer zu begreifen seien als das leben. das erkunden der lyrik und prosa von andré schinkel verlangt kaum weniger phantasie als ihr schreiben, im gegenteil, der leser muß sich in einen jeweiligen poetischen mikrokosmos einfühlen und hineindenken, von dem der autor beim schreiben, als akteur und zeuge seiner motivwelt, der er sich anverwandelt, nicht selten selber staunend überrascht wird.

die bewegung aus dem unergründlichen hinauf sei kunst, notierte walter benjamin im >Passagen-Werk<. in >Über einige Motive bei Baudelaire< heißt es: »Die besondere Schönheit sovieler baudelairescher Gedichtanfänge ist: das Auftauchen aus dem Abgrunde.« ähnlich meinte goethe mit seinem »Versinke denn! Ich könnt‘ auch sagen: steige!«, das mephisto spricht, das heraufsteigen aus dem unbewußten. »Ein Weg hinauf, hinab ist einer und derselbe.« erklärte heraklit. »Und das Sinken geschieht um des Steigens Willen.« sagt das buch >Sohar<. der künstlerischen gestaltung geht die versenkung eines künstlers ins material seiner kunst, das oft er selbst ist, und der, nicht selten eruptive, auftrieb daraus voraus. eben deshalb herrscht meist der ausnahmezustand, wenn kunst entsteht. wer kreativ substanz gewinnen will, muß unbewußtes anzapfen, das bis ins barbarische, vorzivilisierte, noch nicht kultivierte hinabreicht, und dies dann künstlerisch aufheben. andré schinkels texte beschreiben auch solche prozesse, durch die nicht wenige selber in abgründe gestürzt sind.

»Sage mir, welches ist dein Phantom? Der Gnom, der Salamander, die Nixe oder die Sylphe?« fragte gaston bachelard die dichter (>Psychoanalyse des Feuers<). »Der irdische Gnom haust in Felsschründen, hütet das Mineral und das Gold und nährt sich von den schwersten Substanzen; der Salamander mit seinem Feuerleib verzehrt sich in seiner eigenen Flamme; die Wassernixe huscht lautlos über den Teich und nährt sich von ihrem Spiegelbild; die Sylphe, die jeder Hauch eines festen Stoffs belastet … schwingt sich mühelos in den blauen Himmel, glücklich, der Hungergefühle enthoben zu sein.« bachelard folgend könnte man sagen, die texte andré schinkels seien die eines poetischen erdgeists mit feuerelementen, der sehnsucht nach dem wasser hat und der blauen luft mißtraut. damit wäre annähernd sein verhältnis zu den grundelementen der natur, der seele und der poesie benannt, die eine einheit bilden. wer sehend werden will, braucht dunkelheiten. die dunkelheiten in andré schinkels texten sind die bergenden hüllen auf dem weg von den versehrungen der wirklichkeit ins reich der poetischen freiheit. der gnom, ein elementarundnaturgeist der erde und der berge, dessen name zuerst bei paracelsus auftaucht und entweder auf griechisch genomoi=erdbewohner oder gnomé=verstand zurückgeht, ist der erkennende geist, der insbesondere um die orte der wertvollen substanzen im innenraum der erde weiß. »Aus den Grüften hebt sich leis heran / das Gnomenvolk und wittert alles an.« schrieb goethe.

novalis fuhr in den kosmos unter der erde ein, selbst wenn er dafür die entfremdete form eines bergwerks brauchte. bergleute empfanden erze teils als etwas wachsendes und lebendiges, pflanzen, oder gar tieren, nicht unähnliches. der versuch, wissenschaftlich nachzuweisen, daß kristalle lebendige wesen seien, die eine seele haben, sich bewegen und vermehren und nahrung aufnehmen, blieb freilich dem philosophischen naturforscher ernst haeckel, einem nachfolger darwins, vorbehalten.

das erz, das der mensch zum profanen gebrauch embryonen oder herzen gleich dem leib der berge entreißt, um es in geld und gewinn zu verwandeln, korrespondiert in der literatur seit der romantik, die vor einer teuflisch kapitalisierten welt warnte, vielfach mit dem motiv des kalten herzens. überhaupt haben die deutschen romantiker, vorläufer und zugleich frühe kritiker der moderne, und spätere, darunter auch romantisch inspirierte, dichter viel darüber nachgedacht, wie herz und stein, warm und kalt, leben und tod, gesicht und maske, auge und glas, organismus und mechanismus, substanz und funktion, sein und schein vertauscht werden oder miteinander verschmelzen. man findet dieses motivfeld von friedrich schlegel, novalis, tieck, e.t.a. hoffmann, arnim, chamisso, hauff und richard wagner über karl marx, baudelaire, mallarmé, nietzsche, rimbaud und hofmannsthal bis hin zu kafka, ionesco, celan und franz fühmann. längst ist das geld, das kälte anzieht und selbst kalt macht, entweder an die stelle der lebendigen wesen getreten oder dirigiert diese. karl marx, der e.t.a. hoffmann las, worauf vor jahren schon fühmann hinwies, hatte geschrieben: »Das metallene Dasein des Geldes ist nur der offizielle Ausdruck der Geldseele, die an allen Gliedern und Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft steckt.« »Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.« schrieb ossip mandelstam 1930. führt die verwertung der äußeren natur notwendig zur erstarrung des inneren menschen?

steine symbolisieren wegen ihrer haltbarkeit natürlicherweise dauer, ja ewigkeit. das machte sie göttlich. die menschen früherer kulturen glaubten, steine, die sie als heilig verehrten oder aus denen sie werkzeuge und waffen herstellten, seien vom himmel gefallen, was teils sogar stimmt, wenn man an meteoriten denkt. deutsch hammer ist verwandt mit griechisch ákmōn=steinerner amboß, meteorstein, sowie altindisch áśmā=stein, fels, himmel (als steingewölbe vorgestellt) und awestisch asman-=stein (als wurfgeschoß), himmel. die volksüberlieferung meinte, gewittergötter würden donnerkeile, die zudem donnersteine, donnerbeile, donneräxte, meteorstein, teufelsfinger, hexenfinger, alpsteine, alpschösse oder zwergsteine hießen, wie geschosse durch ein himmelsloch auf die erde hinabwerfen. tatsächlich waren die gefundenen donnerkeile, die man auch als grabbeigaben nutzte, entweder vorzeitliche, meist neolithische, werkzeuge oder waffen, die im boden überdauert hatten, oder belemniten und ammoniten, versteinerte schalen ausgestorbener kopffüßer. außerdem warfen gewittergötter hämmer oder äxte. thors wurfhammer mjöllnir schmiedeten die zwerge sindri=funkensprüher und brokkr=der mit metallenen bruchstücken arbeitet.

die nähe zu göttern und überdies zur weiblichen erde sowie die tatsache, daß ewiges die naturzyklen, also leben und tod, sterben und zeugen, umfaßt, verband steine mit der symbolik von schöpfung, geburt und auferstehung. grabsteine gehen auf diesen zusammenhang zurück. dem entsprechend meinte man, es überdauere, also bleibt, wer versteint, siehe die vielen denkmale. die ägypter gaben ihren toten einen steinernen herzskarabäus in einem behältnis im brustkorb der mumie oder ins mumiengewand eingewickelt als auferstehungssymbol mit ins grab. mythen verschiedener völker kennen gebärende steine. manche kulturen bewahren noch immer rituale, die glauben lassen, steine könnten fruchtbar machen. in europa waren steine über jahrhunderte hinweg bauopfer und wurden, da der hausbau einer zeugung oder geburt gleicht, meist ins fundament des hauses, das symbolisch dem menschlichen, und insbesondere weiblichen, körper entspricht, eingemauert, gelegentlich sogar anstelle eines vormaligen kindsopfers. die navaho ersetzen eier, die sie vögeln aus dem nest nahmen, durch türkissteine.

ich spreche hier von einer literatur des imaginativen, die, indem sie erlebtes, empfundenes, gedachtes und erfundenes in bildhafte gegenwelten verwandelt sowie abgefallenes, verworfenes, unterdrücktes und verdrängtes durch phantasie wiedererweckt, seelenbilder schafft, die das profane denken unterwandern und durchbrechen. und dazu gehört magie, der innere und flüssige kern der mythen, religionen, kulte, mystik, alchemie, träume, märchen und utopien und eben auch der künstlerischen literatur, die nicht begreifen wird, wer vor lauter handlungen und figuren der realwelt die symbole, assoziationen, substanzen und atmosphären nicht sieht. substanz meint ja, daß man zum wesen und zur eigenart der menschen, phänomene und dinge hinwill und ihre vielschichtigkeit und ihre ambivalenzen wahrnimmt.

das lateinische wort imāgō enthält bereits alle bedeutungen, die wir heute mit dem begriff der imagination verbinden und die ursprünglich aus der sphäre des kultischen und magischen stammen, freilich auch solche des reproduzierenden bildrealismus, der konserviert, und der phantasmagorien, in denen kultur sich auflöst, die substantieller imagination eher entgegenstehn, sowie des utopischen, das übers vorgefundene hinausschauen läßt: bild, abbild, anblick, ebenbild, nachahmung, porträt, bildnis, bildhafte darstellung, plastik, ahnenbild, wachsmaske, das heißt eine maske, die darsteller von toten bei leichenzügen trugen, gleichnis, vorstellung, idee, gedanke, traumbild, erscheinung, schattenbild, schemen, echo, schein, vorspiegelung, trugbild.

französisch imagination, das deutsch meist mit phantasie oder einbildung übersetzt wird und zugleich doch mehr assoziiert, läßt die dominanz des bildhaften gegenüber dem nur abgebildeten anklingen. imaginäre zahl nennt man die komplexe zahl, die nicht real ist. spanisch imaginar heißt ausdenken, ersinnen, imaginación phantasie, einbildung, imaginar bild, imaginativo einfallsreich und imaginable vorstellbar, während englisch image bild, statue, götzenbild, ebenbild, image bedeutet, also mehr die äußere erscheinung bezeichnet, imaginativ hingegen ideenreich, einfallsreich und imaginable denkbar. im isländischen gehören die worte für symbol, ímind, und phantasie, ímindunarafl, zusammen.

etwas ähnliches wie imagination meinte jacob grimm, wenn er schrieb: »wunsch ist die messende, gießende, gebende, schaffende kraft … die bildende, einbildende, denkende, also auch einbildung, idee, bild, gestalt. es ist beim wunsch etwas innerliches, aus dem inneren gesprochenes.« (>Deutsche Mythologie<). jacob grimm sah das wünschen sogar verkörpert: »den inbegrif von heil und seligkeit, die erfüllung aller gaben, scheint die alte sprache mit einem einzigen wort, dessen bedeutung sich nachher verengerte, auszudrücken, er hieß der wunsch. dieses wort ist wahrscheinlich von wunja, wunnja, wonne, freude abstammend, wunisc, wunsc, vollkommenheit in jeder art, was wir ideal nennen würden … wir sehen dem wunsch hände, gewalt, blick, fleiß, kunst, blüte, frucht beigelegt, er schaft, bildet, meistert, denkt, neigt sich, schwört, flucht, freut sich und zürnt, nimmt zu kinde, ingesinde oder zur freundin an: alle solche, beinahe stehenden, redensarten wären schwerlich in poesie und sprache entsprungen und erhalten, bezögen sie sich nicht unbewust auf ein höheres wesen, von dem die vorzeit lebendigere vorstellung hatte.«

mircea eliade schrieb in >Ewige Bilder und Sinnbilder<: »Die Psychologen – an erster Stelle C.G. Jung – haben gezeigt, in welchem Ausmaß die Tragödien der modernen Welt von einer tiefen Gleichgewichtsstörung der Psyche herrühren, einer sowohl individuellen wie kollektiven Störung, die zum großen Teil durch eine zunehmende Stillegung der Imagination verschuldet wurde. „Imagination besitzen“ bedeutet, sich eines inneren Reichtums, eines ununterbrochenen und spontanen Bilderflusses zu erfreuen. Indes will Spontaneität nicht dasselbe bezeichnen wie willkürliches Erfinden … Die Imagination imitiert beispielsweise Vorbilder (Imagines): sie reproduziert sie, aktualisiert sie stets von neuem, wiederholt sie unendlich oft. „Imagination besitzen“ heißt die Welt in ihrer Totalität sehen; denn das Vermögen, die „Sendung“ der Bilder besteht darin, all das zu veranschaulichen, was sich der begrifflichen Fassung widersetzt. Von diesem Punkt aus mag man sich das Elend und den Verfall eines der Imagination entbehrenden Menschen klarmachen: er ist abgeschnitten von der tiefen Realität des Lebens und seiner eigenen Seele.«

hier wäre zu fragen, ob eliade seinen überlegungen nicht einen vormodernen und mythischen begriff der imagination zugrundelegt, der dem modernen, und zumal künstlerisch-modernen, insofern gegenübersteht, als ersterer mehr von archetypisch und kollektiv vorgeprägten identitäten ausgeht, während heutige kunst selbst beim rückgriff auf überliefertes mehr als je zuvor individuell und autonom gestaltet. vielleicht erwartete eliade vom imaginieren zu sehr die wiederbelebung von verlorenem durch nachahmung und reproduktion. mit der bevorstehenden biologischen reproduzierbarkeit des menschen wird sich die idee einer vertiefung des seelenlebens durch imitation wohl endgültig als illusionär erweisen. biologisch bezeichnet imago das endstadium der metamorphose beim vollkommen ausgebildeten und geschlechtsreifen insekt. und ist der dichter im realen leben nicht ebenfalls eine larve mensch, die sich stets erneut, die eignen hüllen sprengend, zum eigentlichen ich entwickeln und befreien muß?

freilich läßt sich die verwandtschaft von imagination und imitation nicht übersehen, siehe lateinisch imitātiō=nachahmung, nachäffung, nachahmungstrieb, kopie. als gilgamesch nach dem tod seines freundes und kampfgefährten enkidu begreift, daß dieser nicht auferstehen wird, ist seine nächste reaktion der ruf: »Du Schmied, Edelsteinschleifer, Kupferformer, Goldschmied, Ziseleur, Bilde meinen Freund, schaffe sein Bildnis!«. egon friedell verwies darauf, daß der bildhauer altägyptisch »der am Leben erhält« hieß. auf tahiti nannte man den maler paul gauguin »Mann, der Menschen macht.« isländisch sind líkami=körper und lík=leiche sowie líkan=modell, skulptur, líkneski=statue, standbild, líking=ähnlichkeit, gleichnis und líkur=wahrscheinlichkeit verwandte worte. bilder ersetzen oft etwas totes oder unerreichbares, künstler ihr leben durch ihr werk. andererseits lenken symbole als projektionen, das projektil ist ein geschoß, unseres seelenlebens immer auch das sichtbare reale, weshalb nicht wenige menschen, ja mitunter ganze völker und kulturen, an phantasmagorien glauben.

in der künstlerischen literatur, insbesondere in der lyrik, sind symbole keine feststehenden bedeutungszeichen, und auch nicht bloß abbilder und verkörperungen, sondern substanzen, lebende körper, die sich in einem permanenten prozeß befinden, der sie wandelt und worin sie selbst immer wieder neue facetten bilden. seit etwa 1900, mit wichtigen vorläufern im 19. jahrhundert, vor allem den französischen symbolisten, genannt seien verlaine, baudelaire, rimbaud und lautréamont, und forciert bei surrealistischen, expressionistischen und anderen dichtern der moderne, vollzogen sich zusätzliche veränderungen in der literarischen symbolik, die dazu führten, daß symbole immer weniger einer kanonisch gesicherten emblematischen sinngebung entsprechen, sondern zunehmend subjektiv, mehrdeutig und widersprüchlich verwendet werden. autoren, die noch prägende verbindungen zu überindividuellen autoritäten, gott, kirche, vaterland, staat, ideologie, utopie, hatten und suchten, benutzten zwangsläufig auch eher tradierte denkbilder und formale techniken. besonders der erste weltkrieg hat die dichter europas dann aus der traditionsbindung herausgesprengt. die zentralfigur der modernen europäischen lyrik ist seither das entfremdete individuum, das nicht zuletzt aufgrund seiner entfremdung, die sich freilich auch kultivieren läßt, kaum noch einem kanon der überlieferung folgen kann und will.

wo magie indes gelingt, brauchen selbst substanzen und wesenheiten keine namen mehr. »Wie tief muß man gehen in seiner Wortlosigkeit, um einen Stein zu befragen, das Mineral der eigenen Trauer?« fragt andré schinkel in >Nachhall (Fragmente)<. das erinnert an überlegungen paul celans, der in seiner büchner-preis-rede, seinem praktisch einzigen essay, konstatierte, das zeitgenössische gedicht zeige »eine starke Neigung zum Verstummen«, es behaupte sich »am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.« in der kabbala kommt das offenbarende wort aus der finsternis des verborgenen.

der preis des abstraktionsvermögens der sprache ist, daß wir oft worte für sachverhalte nehmen, die wir noch nicht wirklich durchdacht haben. und nach den wurzeln der worte suchen nur wenige. dabei ist die etymologie die mythologie der sprache, die uns zu den anfängen menschlichen wahrnehmungsvermögens führen kann. wer die ursprünge der sprache versteht, kommt der poesie schon nahe, die ebenfalls vom bildhaften und assoziativen wahrnehmen und gestalten lebt. die wortbildungen der frühen sprachen bezogen sich meist auf sinnlich konkrete eigenschaften, merkmale und erscheinungen der bezeichneten dinge, wovon die bildhaftigkeit der sprache bis heute profitiert.

werden die herrschenden und als tradiert geltenden sprachraster außer kraft gesetzt, können die dinge wieder jenseits unserer begriffe, in denen geistige substanz oft stagniert oder degeneriert, also selbst ins bild kommen. und jeder, der die sogenannten letzten oder höchsten oder tiefsten fragen wenigstens andeutungsweise beantworten will, muß diese grenzüberschreitung heraus aus den begrifflichkeiten wohl wagen. in der tiefsten imagination erscheinen dem dichter sogar die poetischen worte als bloße hilfsmittel, schemenhafte abdrücke des unfaßbaren und damit unsagbaren, wie wenn das schweigen die eigentliche form der poesie wäre. er gleicht dann einem übersetzer, übersetzen bedeutet ja eigentlich an ein gegenüber liegendes oder jenseitiges ufer zu gelangen, der sich bild für bild und schicht um schicht dem original nähert, das hier das eigene ist. walter benjamin hatte ein ähnliches gefühl bei seinen haschischexperimenten. die worte faßten die visionen nicht. auf der schwelle und im abgrund solcher zwischenreiche, die entrücken und entgrenzen, entsteht poesie, eben weil sie unentstehbar scheint. wer sehen will, darf nicht wissen, was er sieht.

sicher gehört andré schinkel mit seinen texten keinem großen literarischen strom an, in dem er treiben könnte. doch ebenso wenig steht er allein. es gab und gibt auch im raum leipzig, halle, magdeburg autoren, die, parallel zu vorherrschenden realistischen schreibweisen und wirkungsästhetischen strategien, früh damit begannen, in ihren literarische formen und techniken sowie durch symbolik und sprachduktus romantisch, symbolistisch, surrealistisch oder expressionistisch vorgeprägtes aufzugreifen, von dem es sich dann zugleich zu emanzipieren galt, und statt entwicklungsroman oder geradlinig erzählter geschichte eher die offene form, das gedicht, den essay, die miniatur, das fragment bevorzugen. andré schinkel ist einer der jüngsten autoren dieser richtung, die sich hier einfach entwickelt hat, ohne daß sie mit aufsehen erregenden manifesten hervorgetreten wäre.

ich fragte mich beim lesen seiner texte nach einer gemeinsamen sozialen und kulturellen grunderfahrung, die literarisch weiterwirkt. wäre dies der ländliche und kleinstädtische kindheitshintergrund, der das wahrnehmen eher konzentriert denn beschleunigt? oder der zerfall der städte, der schwermütig macht, eine gewisse morbide geborgenheit gibt, hinter fassaden schauen läßt und, als kontrast zur außenwelt, gegenbilder herausfordert? die zeitereignisse förderten dann einen ethnologischen, und darin ethnopoetischen, blick, der ein verwandter des archäologischen ist, wie man ja auch den archäologen einen feldforscher in der erde und den dichter einen archäologen der seele nennen kann. wir erlebten, wie scheinbar ewig erstarrtes und daher lähmendes innerhalb kürzester zeit aufbrach und uns in konflikte stellte, deren komplexität wir, denen man beigebracht hatte, wir würden alles begreifen, während wir das meiste nie zu fassen bekamen, momentan kaum erkannten und dennoch annehmen mußten, da sie einen sog zum unbedingten handeln erzeugten, der uns kurz zuvor, unter anderen umständen, noch höchst suspekt war, und es wenig später wieder wurde. wirkliches schien plötzlich irreal, oberflächliches abgründig, vertrautes fremd, komisches tragisch und jeweils umgekehrt, jäh wechselnd. die anachronismen überschlugen sich, bevor sie stürzten. der ausgang der stagnation bekam etwas artistisches. vieles wirkte zugleich banal und orakelhaft, faszinierte und bedrängte im gleichen moment. die realität selbst schien artifiziell geworden, ja sie war es wirklich, um bald darauf, auf nunmehr subtilere weise, erneut täuschend und manipulativ zu werden. zurück blieben abermals bruchstücke, aus denen collagen und montagen wurden. collagen sind die freie liebe der formen. das geschlecht von morgen aber wird austauschbar sein.

literatur, die aus sich selbst lebt, braucht anregungen, korrespondenzen, herausforderungen, doch keine konkurrenz. das originäre muß nicht konkurrieren. zur konkurrenz gehören profane gegenstände. das wort konkurrenz ist mit konkurs verwandt. die alternative dazu bildet der diskurs. jeder versuch, einen konkurrenzkampf ästhetischer spielarten zu entfachen, wird letztlich, zumal wenn identitäten, die damit verbunden werden, phantome bleiben und zugehörigkeiten gefängnisse sind, zu fetischhaften duellen oder gar einem mentalen kannibalismus führen. wer die welt beherrschen will, frißt auch die beherrschten. beim formulieren solcher gedanken fällt auf, daß andré schinkel ein zug eines teils der modernen literatur fehlt: der virtuos panzernde zynismus. er betrachtet das zerbrechliche und versehrte nicht ohne neugier, doch ohne hybris, vielmehr mit der wärme des verstehenwollens. neben einer subtilen melancholie eignet ihm ein skeptisches, aber nicht feindseliges, verhältnis zur menschenwelt.

in die poetischen motive andré schinkels sind anthropologische eingelagert, die mitunter zu geschichtsphilosophischen überleiten. zum motivfeld ethnopoetischer überlegungen gehört etwa die frage, inwieweit und auf welche weise kosmopolitisches und multikulturelles denken mit der fähigkeit zur imagination einhergeht. phantasie fördert die toleranz fremdem gegenüber, ja den drang sich davon anregen zu lassen. ich deute dies hier nur an, weil wir von andré schinkel auch noch wichtige essays erwarten dürfen, in denen das mythische element, das gegenstände der poesie, archäologie, ethnologie und anthropologie zusammenführt, teil eines laboratoriums interdisziplinären denkens sein könnte. allerdings setzt dies ein mißtrauen gegenüber der schicksalhaften unbedingtheit des mythos voraus, der einst paradigmen lieferte, weltbilder festlegte, lebensformen begründete, ordnungsprinzipien etablierte sowie kriege und morde rechtfertigte. »Die Poesie verhält sich spiegelbildlich zum Mythos: Der Mythos ist ein semiologisches System, das vorgibt, über sich selbst in ein System von Tatsachen überzugehen; die Poesie ist ein semiologisches System, das vorgibt, sich in ein System von Essenzen zurückzuziehen.« schrieb roland barthes (>Die Körnung der Stimme<).

andré schinkel befreit sich im subjektiven umgang mit überliefertem und aufgefundenem von zwangszusammenhängen. denn mythen haben zweifellos zwänge ausgeübt, und hinter jedem zwang lauert ein todesurteil, ihre substanzen indes bleiben flüssig und daher wandelbar. das wissen um bruchstückhaftes und veränderbares läßt auch moderne großmythen, die etwa recht und geld heißen und gemeinhin mit gerechtigkeit und wert verwechselt werden, reflexiv und kritisch betrachten. während heute mythisierungen allgemein als etwas negatives gelten, beeinflussen zugleich manipulativ benutzte profanmythen unablässig die wahrnehmungen der menschen. und wo oberflächen herrschen, bemächtigen und bedienen dämonen sich der tiefe. dem sollten vertiefung und sublimierung entgegnen.

doch gilt inzwischen nicht als unzeitgemäß, wer die literatur, dieses medium aus der vorzeit, überhaupt noch verteidigt? hat die vielzahl der visuellen medien die wahrnehmungsweisen der menschen nicht so radikal gewandelt, daß wir, spätalphabeten, längst im nachliterarischen zeitalter leben? die kulturlandschaften verändern sich derart rasant, und zwar meist durch kulturellen raubbau und kulturvermüllung, daß man fürchten möchte, das eigne grab sei bereits abgerissen. sollte literatur unter diesen umständen an der alphabetisierung der medien mitwirken, ohne die sich kultur nicht mehr denken läßt und die nur wirklich beeinflussen kann, wer ihrer entwicklung voraus ist, oder sich umgekehrt von der medienkultur abgrenzen und statt magischen kanälen den magnetischen feldern der worte vertrauen? oder wie wäre beides zu verbinden? welche einflußsphären bleiben der literatur innerhalb oder gegenüber einer kommunikationslandschaft, in der öffentlichkeit vielfach entweder zum selbstzweck geworden ist oder unausgesprochenen interessen dient? ein bewußtseinstheater mit wechselnden figuren und masken? andererseits kann die explosive ausbreitung oberflächlicher identitäten, auch der auf »überfluteten Metaphernmärkten« (>Bitterer Frieden (Fragmente)<, als erscheinungsform des verfalls befreiende implosionen vorbereiten.

bei andré schinkel finden wir eine literatur, die um ihrer eigenen existenz willen keinen kommerziellen interessen folgen darf, da diese sie morgen schon vergessen lassen würden. unterm diktat des marktes gilt das tote produkt als gutes produkt. denn was nicht bald veraltet und verbraucht ist, hemmt das kaufinteresse. bis der mensch, das momentan noch größte hindernis für eine ungehemmt funktionierende technokratie, von seinen apparaten und prothesen geistig und seelisch amputiert zurückgelassen, selber zum perfektesten austauschbaren produkt seiner produkte wird. historisch betrachtet traten vielfach geldmechanismen an die stelle von kriegsmechanismen. dadurch konnten sich humanere umgangsformen entwickeln, die jedoch die grundkonflikte abhängiger menschen nicht beseitigt haben, weshalb dort, wo geld gewalt bloß sublimiert ersetzt, die rückkehr zu überwunden geglaubten verhaltensweisen immer möglich ist. wir können somit nur hoffen, der geldwert werde sich einst soweit vom wirklichen wert der menschen und der dinge entfernen, daß kaum noch jemand das geld ernstnimmt, das derart einen ähnlichen sozialen wert bekäme wie das würfeln. auch würfel entschieden vormals, indem sie orakelfunktion hatten, über krieg und frieden, leben und tod. ists da nicht ein hoffnungsvolles zeichen, daß ökonomisch, politisch und sozial untergegangene kulturen geistig, künstlerisch und literarisch über jahrhunderte, ja jahrtausende, hinweg nachwirken können, weil die substanzen der kultur ihre eigene nachhaltigkeit haben?

1998, überarbeitet 2013.

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.