wohnräume der poesie

 

theo breuer hatte schon 2012 in einer »Matrix«-ausgabe beim »Pop Verlag« unterm titel »Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker« auf 250 seiten texte anderer autoren zur mayröcker veröffentlicht. hier nun spürt er auf fast 200 seiten selber der mayröckerschen literatur nach und schreibt von ihrem »allegorischem · bildreichem · chimärischem · durchdringend elementarem · farbenfrechem: die roten Kleckse im grünen Blattwerk· genialischem · herrlich idiosynkratischem · jung klingendem · liebevoll melancholischem · natürlichem · parodistisch paragrammatischem · quirilierendem · radikal synästhetischem · tränentollem · universalem · verwegen wildem · zartem · Tag für Tag für Tag für Tag fortgeschriebenem · wortgetriebenem · unerhörte Wortnoten komponierendem LYRIKPROSALEBENSWERK«. phasenweise wird das buch, empathisch, oft liebevoll bewundernd, und analytisch zugleich, zu einer hommage, wobei der autor ähnliche techniken der montage und collage wie die mayröcker verwendet und zudem eigene gedichte einbezieht.

mir gab die buchausgabe, nachdem ich gefragt wurde, ob ich etwas dazu schreiben könne, die gelegenheit, nochmal gründlicher über die literatur der friederike mayröcker nachzudenken, um deren vermittlung es theo breuer, der wie sie in der literatur lebt, vor allem geht. »Die Sprache lehrt die Definition des Menschen, nicht umgekehrt.«, heißt es bei roland barthes. indem die sprachliche gestaltung wahrgenommener welten die mayröckerschen texte prägt, ist die sprache das zentrum ihrer literatur, durch alle schaffensphasen hindurch. sie schreibt nicht wirklichkeiten ab, sondern erzeugt sie selber im sprachmaterial, und schafft sich derart ihre eigene sinnliche und geistige ordnung der dinge und wahrnehmungen. ihre sprachkritischen und sprachspielerischen anfänge wirken transformiert bis ins spätwerk weiter. ich sehe besonders eine nähe zu elke erb, einer anderen dichterin der sprachtiefen und der sprachreflexionen. auch ilse aichinger zählt zu ihren poetischen schwestern. ebenso gibt es parallelen zu gertrude stein. die lyrik der mayröcker folgt gleichfalls musikalischen prinzipien und wirkt mitunter seriell.

der »Mayröckersound« gewinnt noch im rundfunk, wenn sie ihre texte, die auch klangkunstwerke sind, selbst liest, etwa in hörspielen. ich erlebte wiederholt, daß ich mich zurücklehnte und besonders konzentriert wurde, sobald ich ihre stimme im radio hörte, die dabei im sog der sprache etwas sakrales bekommt, zumal durch die dreifache unmittelbarkeit von worten, metaphern und klang. man kann ihre gedichte, die man in ihrem eigenen tonfall lesen sollte, geradezu tonfalllyrik nennen. der mayröckersche ton, eines der wichtigsten merkmale ihrer literatur, zu der ein ganz eigener sprachrhythmus gehört, ist geradezu zum kult geworden. ich bemerkte allerdings auch, daß mir manche ihrer texte beim hören, wo man emotional stärker mitgenommen wird, besser gefallen als wenn ich sie selber lese, was mehr vom kopf her geschieht.

mich wunderte immer eher, wenn friederike mayröcker literarisch ihrem lebensgefährten ernst jandl nahegerückt wurde. der kontrast ihrer beiden werke könnte, abgesehen von ihren aufbrüchen und vom teils gemeinsamen frühwerk, siehe das hörspiel »Fünf Mann Menschen« von 1968, kaum größer sein. er schuf, mit seinen spielerischen und sarkastischen »Sprechgedichten«, analytische verknappungen, sie durch sprachzauber einen möglichsten reichtum an sublimierten details. die gegenseitigen, insbesondere sprachlichen, anregungen waren dennoch groß, gerade wegen ihrer verschiedenheit. in manchen ihrer altersgedichte spricht sie weiter mit ernst jandl, der unter anderem gertrude stein und john cage ins deutsche übersetzt hat. in einem dieser gedichte erwähnt sie patti smith, und verbindet damit zwei grenzgänger zwischen hochkultur, subkultur und popkultur.

wahrscheinlich müßte man bei einer detaillierten analyse der mayröckerschen lyrik ähnlich wie bei den gedichten von ezra pound, dem james joyce der lyrik, zunächst die verschiedenen sprachundbedeutungsebenen freilegen. denn bei ihr, einer verschmelzerin, vermischt und verbindet sich tatsächlich vieles mit vielem, gesehenes und gelesenes, erlebtes und vorgestelltes, nahes und fernes, wobei das schreibende ich sozusagen ins universelle wächst, wie bei pound und joyce, deren modernität sie entspricht und die entwicklungen vorwegnahmen, die der normale moderne mensch vielleicht erst nach 100 oder 200 jahren halbwegs verstehen wird. ihr interesse gilt gegenständen aus allen wirklichkeitsbereichen. wenn sie in ihren teils tagebuchartig erzählenden gedichten alltägliches poetisiert, gibt sie auch gewöhnlichen dingen eine aura, vermenschlicht sich so die äußere lebenswelt und wird mit der realität, die sie gestaltet und verfremdet, wesensgleich. »Ich habe das Gefühl, ich atme die ganze Welt ein. Und sie ist dann in mir drin.«

sprachliche verdichtungen und ein denken in bildern, die auch gegenwelten schaffen, fließen bei der mayröcker zusammen. innere freiheit und autonomie ermöglichen ihr wortfluß und bilderströme gleichermaßen. ihre sprache, die gelebtes aufhebt, transformiert und steigert, vermittelt, über die wortundsymbolbedeutungen hinaus, häufig empfindungen und befindlichkeiten. und dazu gehören durchaus selbstzweifel. »Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus.«, notiert sie, und: »Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig.«

theo breuer, der als kenner seinen sehr persönlichen zugang zur zeitgenössischen deutschsprachigen literatur bietet, und einen respektvollen umgang mit büchern insgesamt, nennt und zitiert etliche schriftsteller, darunter viele frauen, genannt seien ulrike draesner, ginka steinwachs, marlene streeruwitz und marion poschmann, die friederike mayröcker durch ihre texte, die etwas dialogisches haben, angeregt und beeinflußt hat. ich sehe als gründe ihres nachwirkens schon zu lebenszeiten vor allem ihr unmittelbares und frisches, den augenblicken des erlebens nahes literarisches wahrnehmen, die poetisierung des alltags, durch die sich überdies profane erlebniswelten und bildungsgut begegnen können, ihr zitierendes schreiben sowie ihre reflexionen über die schreibarbeit. vieles davon findet man auch bei jüngeren autoren.

sie ist »gern im Dickicht zuhause«, einem dickicht der sprache, der worte, der symbole, der poesie, ja der kultur und bildung überhaupt. ihre texte sind oft labyrinthisch und mäandernd strukturiert. man denke an das labyrinth ihrer wiener wohnung, das durch fotos dokumentiert wurde. wörter und metaphern leben in den wohnungen ihrer dichtung. und die wohnräume der poesie umfassen natürlich das weltganze, bis ins überwirkliche und jenseitige hinein. peter sloterdijk schrieb: »Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.«

man kann die strukturen ihrer gedichte mit fließenden gewässern, wachsenden pflanzen, einem gewebe oder labyrinthischen pfaden vergleichen. schon das altertum verglich das dichten mit der webkunst. der kreative lebensfaden führt durch daseinslabyrinthe, in denen sie das relativierende denken samuel becketts aufnahm, der erklärte: »ich bin noch unterwegs, über Ja und über Nein, nach einem noch zu Nennenden.« zugleich formiert ihre detaildurchflutete lyrik ein gesamtgedicht.

sie selbst nannte das schreiben eine art liebesakt. ihre empathie gilt menschen, tieren, pflanzen, dingen, wörtern und allem wahrgenommenen insgesamt. die naturbeschreibungen lassen mitunter barthold hinrich brockes, jean paul oder adalbert stifter assoziieren, die ebenfalls labyrinthisch schrieben. im gedichtband »dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif« von 2009 erscheinen fast 200 pflanzenarten, insbesondere blumen, sträucher und bäume, etwa lilie, maiglöckchen, narzisse, rose, veilchen, flieder, efeu, mohn, robinie, apfel, birne, kirsche, linde, weide, tanne und kiefer.

das wachstum der mayröckerschen gedichte hat etwas vegetarisches. bäume und blumen symbolisieren das aufleben der natur. der baum ist vor allem wegen seiner blüten und früchte ursprungsundfruchtbarkeitssymbol. manche völker kannten geburten von göttern oder der menschen aus bäumen. zugleich waren baum und holz symbole der auferstehung. wie man die abstammung der menschen aus bäumen, die im wort stammbaum weiterwirkt, annahm, so wurden tote in hohlen bäumen bestattet. beides meint verwandlungen. auch blumen sind liebesgeburtsseelenundauferstehungssymbole. ihre liebessymbolik wurzelt in ihrem aufblühen. die blumen der totenwelt wurden als rest vom verlorenen paradiesischen blumenmeer gedacht.

viele der pflanzen werden, ähnlich wie dichter und philosophen, einfach nur benannt. wenn die benennungen, die freiräume für subjektive deutungen lassen, assoziationen auslösen, folgt der leser einem magischen prinzip. neben pflanzen findet man häufig vögel als wesen einer belebten welt, so nachtigall, amsel, kuckuck, schwan, taube, schwalbe, sperling oder stieglitz. dem sich öffnen der blüten entspricht das schlüpfen aus dem ei, ja das auffliegen der vögel. alldas schafft sphärenübergänge, beim durchstoßen von innen nach außen wie beim abheben vom boden in die luft. im volksglauben kündigte vogelgesang das wachstum der pflanzen an. aus der perspektive der mayröcker klingt martin heideggers satz »Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.« geradezu inhuman. theodor w. adorno meinte: »Nicht länger ist der Mensch der Schlüssel zur Menschlichkeit.« und: »Jedes Menschenbild ist Ideologie außer dem negativen.« das sind provokante sätze. giorgio agamben postulierte: »Der Mensch muß sich, um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen.« sie macht sich weder tiere noch pflanzen untertan, sondern betrachtet sie als verwandte wesen, und sogar mit demut.

in ihrem werk wirken viele dichter, und auch philosophen, die sie las, auf eigene weise weiter. »Schreiben / ist eine Praxis des Lesens.«, schreibt sie, »lesen heißt doppelt leben.« und »Wo ich nichts exzerpieren kann, lese ich auch nichts.« friederike mayröcker kann, einem guten gedächtnis folgend, mit wenigen worten große denkfelder umfassen. sie wandert zwischen autoren, die sie aufruft, wie auf wanderwegen hin und her. theo breuer nennt unter anderem georges bataille, jean paul sartre, roland barthes, jacques derrida, giorgio agamben, peter sloterdijk, petrarca, jean paul, friedrich hölderlin, heinrich von kleist, gertrude stein, jean cocteau, samuel beckett, jean genet, marguerite duras, arno schmidt, h.c. artmann und gerhard rühm.

anregungen empfing sie zudem durch bildende kunst und musik. ihr schreiben verglich sie einmal mit dem aquarellzeichnen. aquarelle, mit wasserfarben gemalte bilder, rufen die symbolik des wassers und damit fließens herbei. lateinisch bedeutete aqua, neben wasser, fluß, quelle, wasserleitung und bad, auch heilquelle. zugleich findet man bei ihr anklänge an märchen und volkslieder. »Mir ist sehr wichtig, mit großen Augen zu schauen, was die Welt mir bringt.« immer wieder greift sie auf frühe erlebnisse zurück: »ich fühle mich nicht alt und manchmal geht es sogar so weit, dasz ich wieder bloßfüßig in Deinzendorf herumlaufe als Kind. Und das ist nicht die übliche Erinnerung der Erinnerung des alten Menschen, sondern die Kindheit. Es ist das Gefühl, ich fange erst an. Manchmal denke ich, mein Leben beginnt überhaupt erst.« die lebensalter verbinden sich in ihren gedichten, in denen kindliche, jugendliche, erwachsene und altersweise gedanken oft dicht beieinander stehen. die seelische und geistige zeit eines menschen entspricht nie ganz jahreszahlen oder uhrzeiten. die zeiten zwischen den zeiten sind die magischen und rituellen. zwischen den worten lebt man ohne uhr. theo breuer zitierte jorge luis borges mit dem satz: »In der Zeit werden nur die Dinge bestehen, die nicht von der Zeit sind.« und die literatur der mayröcker ist, jenseits aller zeitgeistthemen, zeitlos.

sie meint wirklich das konkrete, das sie voller neugier erkundet, beschreibt und reflektiert, während viele menschen dazu neigen, ihnen unbekanntes nach vorurteilen zu bewerten, die das nachdenken ersparen. die mayröckersche dichtung kann so eine alternative zum falschen denken sein, ohne daß sie dies ausdrücklich postulieren müßte. literatur ist ohnehin immer auch ein refugium. roland barthes, einer der wichtigsten autoren für friederike mayröcker, schrieb: »Der Schriftsteller ist ein Mensch, der das Warumder Welt radikal aufgehen läßt in einem Wie schreiben

bemerkenswert ist das umfangreiche alterswerk der mayröcker, geboren 1924. sie schreibt bis ins hohe alter hinein fast täglich. nach 2000 erschien praktisch noch jährlich ein neues buch von ihr. sie schafft, experimentell und behutsam zugleich, was sonst meist nur aufeinander folgenden kulturepochen gelingt, sie sublimiert und vollendet die avantgardistischen ursprünge und aufbrüche ihrer frühzeit. derart erscheint bei ihr selbst schönheit modern und nicht rückwärtsgewandt. man entdeckt indes auch schmerzhaftes. ein gedichttitel lautet: »meine Hysterie ist die Sucht geliebt zu werden ist die Angst nicht mehr schreiben zu können ist die Angst sterben zu müssen«. an anderer stelle heißt es: »unglaublich dasz ich geblieben bin dieses Kind / und immerzu Angst hatte damals und bis ins hohe Alter.«

 

 

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Zischender Zustand . Mayröcker Time von Theo Breuer. Reihe Lesezeichen Band 1 – POP VERLAG, 2017

Weiterführend → Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.

→  Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

Auf KUNO lesen Sie von Holger Benkel u.a. Rezensionsessays über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz, Sibylle Ciarloni und Joanna Lisiak.