Lyrik als Seismograph an der Epochenschwelle

Die Lyra galt im antiken Griechenland als Erfindung des Hermes, der sie seinem Götterbruder Apollon als Entschädigung für seinen Rinderdiebstahl übergab. Im Hellenismus war sie ein Symbol der Dichter und Denker, woraus sich später der Begriff Lyrik entwickelte.

Reden wir nicht drumherum, die Kulturnotizen (KUNO) halten das Gedicht für die Köningsdisziplin der Literatur. Poesie zählt für die Redaktion zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies findet sich nach reichlicher Überlegung auch im Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Wie Friedrich Nietzsche die Griechen in der „Fröhlichen Wissenschaft“, versteht KUNO eine auf Form bedachte Lyrik „oberflächlich – aus Tiefe“. Die Kürze von Aphorismus und Lyrik eröffnet einen ganz besonderen Erkenntniswert. Ein Gedicht darf heiteren Unernst verbreiten, es darf aber auch unmittelbar anrühren. Es muss nicht verkompliziert wirken, soll aber vielschichtig bleiben. Lyrik changiert in der Stimmungs- und Tonlage zwischen ernster Betrachtung, leichtfüßigem Witz, absurdem Spiel und gesellschaftspolitischer Kritik. KUNO wird in der Auseinandersetzung mit der Gattung Lyrik etwas von den Entstehungsumständen von Gedichten preisgeben, zeitliche und überzeitliche Bezüge herzustellen, die ein Gedicht den Subtext seiner Entstehung zusetzen oder ihn sichtbar machen.

Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?

Friedrich Nietzsche

Nach diesen einführenden Überlegungen, ein Rückblick: Heinrich von Veldeke gilt als erster deutschsprachiger Dichter, es wird von sowohl der niederländischen wie der deutschsprachigen Literatur als der erste große Schriftsteller der jeweiligen Literatur gelobt. Gedichte von Walther von der Vogelweide finden wir im 12. Jahrhundert, er dichtete in mittelhochdeutscher Sprache. Ferner sind Heinrich von Morungen und Frauenlob im 13. Jahrhundert und Oswald von Wolkenstein im spätmittelalterlichen 15. Jahrhundert zu nennen. Klassische Gedichte sind in Strophen eingeteilt, welche aus Versen bestehen. Lyrische Texte bedienen sich bestimmter sprachlicher Mittel, dazu zählen die Reime, der Rhythmus, sprachliche Mittel wie Metaphern und auch die besondere Wortwahl und ein spezieller Satzbau sowie Zeilenumbruch. Mit dem Begriff „Gedicht“ wurde ursprünglich alles schriftlich Abgefasste bezeichnet; in dem Wort „Dichtung“ hat sich noch etwas von dieser Bedeutung erhalten. Seit etwa dem 17. Jahrhundert wird der Begriff im heutigen Sinn nur noch für poetische Texte verwendet, die zur Gattung der Lyrik gehören. Erstmals wurde der etymologisch verwandte Begriff „geticht(e)“ von Martin Opitz in dessen 1624 veröffentlichten Buch von der Deutschen Poeterey als Zeilen, die durch eine Versdichtung gekennzeichnet sind, verwendet. Dieses Leitwerk enthielt Vorschriften für regelgeleitetes Dichten für fast alle Gattungen. „Damit aber die syllben vnd worte in die reime recht gebracht werden / sind nachfolgende lehren in acht zue nehmen.“ (Kapitel 7). Die Vorliebe von KUNO ist lektüregetränkt. Die Redaktion von KUNO wird sich lustvoll am Vorliegenden bedienen, das Online-Archiv verstehen wir als Durchlauferhitzer, in dem wir überliefertes Wortmaterial aufbereiten. Das bedeutet für KUNO nicht zwangsläufig Nachahmen, sondern im Gegenteil: Auflehnung!

Er übertrug das System der französischen Gattungspoetik mit apodiktischem Lakonismus ins Deutsche und bestimmte durch seine Andeutungen die Schubladeneinteilung der Ästhetiken noch bis ins 19. Jahrhundert.

Rolf Schröder

Gestatten wir uns einen kurzen Blick darauf, welche Rolle KUNO in der Gutenberggalaxis spielen soll: Dieses Onlinemagazin versteht sich als eine Agora für nonkonformistische Künstler, sie erzählen Gegengeschichten zu den offiziellen Darstellungen der Realität. Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Wir machen einen zeitlichen Sprung mit dem Versuch einer Rekonstruktion des flatterhaften Jahrzehnts zwischen 1967 und 1977. Auf den Spuren des legendären V.O. Stomps hatten die Autoren keine festen Strukturen, sie agierten dezentral und für ein zahlenmäßig sehr kleines, und meist gleichgesinntes Publikum. Was die Protagonisten miteinander verband, war ihre nonkonformistische Haltung gegenüber dem vorherrschenden Literatur-Betrieb. Die Redaktion sieht sich in der Tradition von Josef „Biby“ Wintjes, er war Lieferant für die Zentralorgane des Undergrounds. Vertrieb der Neckermann der Subkultur die Literaturzeitschriften noch analog, fragen wir uns, wie sich Lyrik im Onlinezeitalter verändern wird. Mit der Gründung des Projekts Das Labor geht es um die Frage der poetischen Produktion. Sprache mag dehnbar sein, grenzenlos ist sie nicht. Daher untersucht die Redaktion die Lebendigkeit des Sprachmaterials. KUNO spießt Wörter auf, neue ebenso wie alte aus der Erinnerung, wie einen seltenen Schmetterling und betrachtet diese Falter distanziert von allen Seiten. Es entstehen neue Textformen, mit denen die Gesellschaft sich von sich selbst erzählt: Soziale Poetik, Sound-Poetik und Social Reading.

Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller.

René Char

Gedichte sind Kunstwerke aus Sprache. KUNO wird Sprach-, Denk- und Lesebeobachtungen betreiben. Wir setzen bei jedem Verstehen das Nichtverstehen voraus. Die Redaktion ist auf der Suche nach Gedichten, die Intellektualität mit sprühendem poetischem Witz verschmelzen und aus diesem Gemisch wunderbar funkelnde Lyrik entstehen zu lassen. KUNO wehrt sich gegen die Zuschreibungen und die Sortier- und Stempelmaschine des Kulturbetriebsetriebs. Die Redaktion versteht dieses Textgeflecht, als eine Inline-Anthologie, die sich in der Verindung der Hyperlinks rhizomatisch verbreitet, jedes Gedicht wird zu einem Mosaikstein, ein Nachdenken über Sprache und Sprechen, die Schönheit von Sprache und Sprechen, spielt eine bedeutende Rolle. KUNO interessiert sich für frappierende, witzig tänzelnde Neologismen, himmelsstürmende originelle Wortspiele sowie pseudokatachrestisch-ironisierende Metaphern, und vielfältigste Intertextualitäten. KUNO wird diese Gattung in den kommendem Jahren umkreisen, in neue Kontexte setzen, um zu verstehen, aber auch zu verstehen, was verstehen an der Epochenschwelle zum 21. Jahrhundert bedeuten kann. Wie wollen genau hinschauen auf die Schichten der Geschichte und aufmerksam machen auf die Nahtstellen zwischen den großen und den kleinen Verwerfungen und Erschütterungen. Die Redaktion hat ein faible für das poetische Polymorphem: Ein umfangreiches (oft auch mehrteiliges) lyrisches Werk mit unter Umständen auch epischen Elementen wird als Langgedicht bezeichnet, ein zyklisch angelegtes als Gedichtzyklus. Eine historische Sonderform des Langgedichts ist das Poem. Bei aller fiktionaler Kreativität beinhaltet diese diskursive Zauberkraft statt einer nachvollziehbaren Handlung vor allem die spielerische Betrachtung einer geistigen Haltung. Die Durchlässigkeit in der Lyrik ereignet sich auf musikähnliche Weise, KUNO interessiert sich vor allem für poetische Polymorpheme und die dramatische Umsetzung, vor allem im performativen und akustischen Bereich.

Der Polyphonie Ausdruck verleihen.

Ein Ausblick: Mit all diesen lyrischen Formen und ihrer Ausweitung in den akustischen Bereich, wird sich die Redaktion in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen. Wie bei keiner anderen Literaturgattung ist das Ich die Wahrnehmungskonstante. Formale Experimente, ungewöhnliche Wendungen, Brüche in der Syntax finden unsere Beachtung. Es gibt keine letztgültige Interpretation eines Werkes oder einer Gattung, daher geht es um die Anverwandlung der Phänomene. Auf KUNO wird es kritische Intermezzi geben, Meta-physisches und Profanes, die Gedichte verhandeln das Schreiben, Zeitgeist und nicht zuletzt um die Liebe. Angedacht sind essayistische Spaziergänge durch unsere neuere Kulturgeschichte, als nonkonformistische Kulturreflektion. Dichtung ist wegweisend, doch niemand weiss, wohin die Reise geht. Wir sollten auf die Dichter und den Eigensinn ihrer literarischen Arbeit vertrauen. KUNO wird sich spezialisieren auf in kulturarchäologische Arbeit der Wieder- und Neuentdeckungen, um einerseits gegen eine ausschließende beziehungsweise einengende literarische Kanonisierung und andererseits gegen unsere allzu bereite Vergesslichkeit Position zu beziehen, um so die künstlerische Vielstimmigkeit wachzuhalten. Das Hauptinteresse eines Lyrikers gilt nicht mehr dem Wort, sondern dem Satz, nicht mehr dem Wortklang, sondern der Wortbedeutung. Im Rhythmus versucht er, ungeachtet metrischer und strophischer Regulative, ein sprachliches, geistiges, sinnliches Fluidum zu präsentieren. Wir begreifen Lyrik und Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Gattungsgrenzen gibt es bei diesem offenen Sprachstrom für KUNO höchstens, um leichtfüßig über sie hinweg zu gehen. Lyrik ist eine Entzauberung, ohne den Zauber nachhaltig zu zerstören.

 

 

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik eine Anthologie zeitgenössischer deutschsprachiger Dichtung.

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet bereits in 2007, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren.

→  Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott KUNO dieses post-dadaistische Manifest.

→ Gleichfalls zur Kurzform Lyrik hat die Redaktion in 2014 Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten.

→ KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben.

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

 Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Grosstat zusammen.

→  Ohne die Lyrikanthologien von Axel Kutsch wäre das literarische Leben im deutschen Sprachraum deutlich ärmer.

→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.

→  Lyrik lotet das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen aus. Dies versucht auch ein Essay zum Beginn des Lyrikjahres 2024.

→  In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Langstreckenpoem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor. Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird für eine Weile im Datennirvana existieren und wie KUNO irgendwann ganz verschwinden.

→  Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze des Schaffens beschreibt.