ein behutsamer charakter

 

als rezensent fragt man sich, was der eigene auftrag sei, falls es einen solchen gibt. ich denke, man sollte beschreiben und reflektieren, letzteres aber vielleicht noch mehr, und stärker als den eigenen intentionen denen des besprochenen buches folgen. dies sei hier versucht. auf keinen fall soll der rezensent belehrer oder gar richter sein. das würde seine rolle maßlos überschätzen. bewertungen müssen sich ohnehin aus dem gesagten ergeben. schließlich wäre auch rilkes einschränkung mitzudenken: »Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Missverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.« holger uske schreibt behutsam. dem ist zu entsprechen.

charles baudelaire hatte über seine lyrische prosa »Pariser Spleen« geschrieben: »Wer von uns hat nicht schon, an Tagen, da ihn der Ehrgeiz packte, von dem Wunder einer poetischen Prosa geträumt, die musikalisch wäre ohne Rhythmus und Reim, geschmeidig genug und kantig genug, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen des Traums, den Sprüngen des Bewusstseins anzupassen?« uske spricht von einer »Sprache, die sich immer wieder auf Fahrt begeben kann mit dem schmalen Kanu Wort.« (»An einem Morgen«). sprachlich behutsam arbeiten bedeutet bedacht und genau sein. der geschichte der kurzprosa im thüringischen und sächsischen kulturraum wäre literaturwissenschaftlich nachzuspüren. vielleicht entstünden dabei sogar kulturhistorische befunde. zu vermuten ist, daß die kurzgeschichte oder prosaminiatur gegenüber literarischen großformen eine emanzipatorische funktion hat. wo ganzheiten nicht mehr greifbar sind, sofern sie es je waren, werden details umso wichtiger.

der autor, 1955 in riesa geboren, lebt in suhl und veröffentlichte bisher 10 bücher, davon fünf gedichtbände. das neue buch besteht aus 22 texten, die, abgesehen von zwei älteren, zwischen 2006 und 2015 entstanden. mein erster eindruck war: diese teils lyrische prosa, nachdenklich und zurückhaltend geschrieben, wirkt glaubwürdig, gerade weil sie ihren lesern keine überklaren deutungen aufdrängt. als »gebürtiger Lyriker« (andré schinkel) folgt uske, mit einer andeutenden sprache vertraut, dem guten prinzip, daß das wesentliche in prosatexten beiläufig, und damit authentisch und konkret, gesagt werden sollte, wobei konkret hier nicht plastische vordergründigkeit und durchschaubare effekte meint, dafür enthalten die texte auch zu viele nuancen, selbst wenn sie oberflächen aufscheinen lassen, sondern das erkunden des substantiellen und existentiellen im detail.

holger uske arbeitet jedenfalls nicht themen oder leserinteressen ab, sondern spürt phänomenen konkreter situationen nach. mitunter genügen dafür schon impressionen. das angedeutete und ahnbare regt, besonders wenns um widersprüchliches und ambivalentes geht, mehr zum nachdenken an als das vordergründig transparente, das vorgibt, unausweichlich zu sein, und kaum fragen offen läßt. der skeptische blick auf realitäten hat hier nichts auftrumpfendes. das behutsame schreiben folgt vielmehr einem tastenden, abwägenden, differenzierenden und relativierenden denken. wer tiefer blickt, braucht nicht die großen handlungen und ereignisse. und sublimieren heißt humanisieren.

unumstößliche wahrheiten, nach denen man tatsächlich immer noch gefragt wird, sind für gute prosa natürlich kaum zu brauchen. das wesentliche läßt sich sowieso meist nur indirekt, verfremdet, symbolisch sagen, während das überdeutliche häufig schon die grobheiten eines vorurteils enthält. ich sage dies auch, weil nicht selten weiterhin grobheit eher erfolge ermöglicht als feinheit, trotz aller oberflächenkultivierung. uske spürt etwa in der beschreibung von büroundfreizeitwelten kultivierter entfremdung nach.

»Schule ist nur was für Dumme. Das war Großvaters Spruch.« heißt es in »Das Verhör«. ein irisches sprichwort sagt: »Wer glaubt, etwas verstanden zu haben, ist falsch unterrichtet.« man könnte auch sagen, erfolg sei etwas für eitle. denn oft wird am eigentlichen vorbei anerkannt. und viele glauben ja wirklich mehr etiketten als inhalten. der kluge mensch weiß, wie wenig er letztlich versteht. und wer erkennt, hat es nicht nötig, alles sofort zu beurteilen. wer etwas wirklich durchschaut, kann seine eigene person zurücknehmen. ich sage nicht, daß die erkenntnisse, über die ich hier rede, richtig seien. wer könnte je soetwas behaupten? befreien wir uns also von allen gedanken, die sich rechthaberisch geben.

wer etwa »Das Los, oder: Warum ich keine weiße Katze habe« liest, kann spüren, daß uske keine macht über seine literarischen welten ausüben will, sondern ihnen mit respekt begegnet. seine schreibart, die viel empathie den figuren gegenüber zeigt, in die er sich einfühlt und hineindenkt, während er sie erfindet und gestaltet, entspricht offenbar einem charakterbild. je  nuancierter erfahrungen, eigene wie fremde, beschrieben und reflektiert werden, umso moderater und vermittelnder wird das denken, und umgekehrt. vielleicht kompensiert ein solches schreiben weniger das realleben als daß es freiräume fürs reale leben schafft, zu dem das schreiben gehört. die menschen, wo immer möglich, zu verteidigen, während man die verhältnisse notfalls kritisiert, das ist der anspruch.

manche der eher leisen texte stehen wie zeitlos im raum, andere umreißen sprachlich, so durch mündliche rede und umgangssprache, einen zeitlichen rahmen. der ortskundige mag reale orte wiedererkennen. womöglich befördern die thüringer landschaften, die man, mit einem alten wort, insbesondere wegen der sanft gewölbten formen der hügel und berge, hold nennen könnte, was, aufs charakterliche bezogen, freundlich, gütig, zugetan bedeutet, das behutsame schreiben. aus vielem spricht das verlangen nach freundlichkeit, auch in erinnerung an überwirkliche wesen wie zwerge, feen und faunen, die, wenn man der überlieferung glauben will, in wäldern länger überlebten als auf gerodetem land. das holde korrespondiert mit dem idyllischen, das manchmal als lebensreal beschrieben, öfter jedoch ersehnt wird. andré schinkel nennt dies »das wacklige Idyll«. ists ein vorurteil, daß die süddeutschen einen ausgeprägteren sinn fürs idyllische haben als die norddeutschen? des tiefels holde waren freilich die höllengeister. und hang wie steg, von denen bei holger uske die rede ist, sind fragile plätze.

andré schinkel verwendet in seinem nachwort »Die Südthüringer Albedo, oder: „Die Musen erlegen ihre Opfer“ / Mit Holger Uskes Geschichten«, den begriff albedo, der die rückstrahlung von licht meint, und hier reflexe, oder nachklänge, der wirklichkeit, die es in zwischentönen zu erkunden gilt, in uskes buch. man spricht auch von der sphärischen albedo. am himmel leuchten die toten. der zweite teil des titels spielt auf friederike mayröckers lyriksammlung »Tod durch Musen« an, während mir albedo den begriff der aura bei walter benjamin assoziiert. alldas verweist auf die erkenntnis, daß es noch tieferes als die oberflächen der momentan sichtbaren realwelten gibt. »Vielleicht bleibt nur das Ungesagte zurück.« heißts in »Nachtrag«. »vielleicht ist alle Weisheit, alle Wahrheit, alle Aufrichtigkeit in dem einen unschätzbaren Augenblick zusammengedrängt, in dem wir die Schwelle zum Unsichtbaren überschreiten.«, schrieb joseph conrad.

die textanfänge bei holger uske wirken meist, indem sie von winzigen, aber sehr konkreten, einzelheiten oder momenten ausgehn, wenig aufsehenserregend, und schaffen es eben deshalb, daß man beim lesen gleich mitten im gesagten ankommt. vielleicht geben dabei die kontemplativen fähigkeiten des lyrikers jene innere autonomie, die nötig ist, damit man eine unaufdringliche prosa schreiben und »mit Worten zeichnen« kann (»Drei Akte im Wald, oder: Ich bin im Bilde«). manche der texte sind tatsächlich aus fast nichts entstanden. zugleich deuten sie durch verfremdungen, letzte sätze und eine, wenngleich seltene, plötzliche strenge der sprache, wie man sie ähnlich bei johannes bobrowski findet, existentielles an, bis hin zu gefährdungen. andré schinkel schrieb im nachwort: »Das Verhängnis tritt, aus dem Dahintreideln der Dinge, als Erdrutsch oder Frost gekleidet, in das Schicksal der Uskeschen Helden.«

erstaunlich finde ich immer wieder die momente des staunens bei holger uske. mitunter geht das realistische erzählen, wobei auch dies vorsichtig geschieht, ins phantastische über, das aus genauem beobachten wächst und in gesteigerter wirklichkeitswahrnehmung besteht, die kein selbstzweck ist, sondern literarisch auf erlebte oder geahnte realitäten verweist, und lebensreal den alltag facettenreicher oder wenigstens erträglicher macht. im ersten text »Frost«, der den leser sofort zum mitdenken anregt, indem er die handlung aus verschiedenen perspektiven und auf unterschiedlichen ebenen betrachten läßt, erwacht die ich-figur am morgen eines sommers wie zu eis erstarrt. dies läßt mehrere deutungsmöglichkeiten zu. ist die erstarrung physisch oder psychisch bedingt, also folge einer krankheit? bildet sie kälteströme der gesellschaft oder verhaltenslehren der kälte ab? sind hoffnungen erfroren? beschreibt der text die wirkung kosmischer kräfte oder folgen des klimawandels? oder hat da jemand nur schlecht geträumt?

in »Der Plan« sprechen tiere darüber, welche gefahren die rückkehr des wolfs für sie mit sich bringt. schließlich wird er wieder aufgenommen, indem er bei der großmutter unterschlupf findet, die ursprünglich im märchen, oder dem zugrunde liegenden mythos, als verschlingende urmutter, die unbeherrscht herrschende urnatur verkörpernd, vielleicht selbst wölfisch gewesen ist, ehe der wolf ihre funktion übernahm. in »Anders« droht an einem föhntag ein vermeintlicher drache, der tatsächlich nur ein kater ist, in der wohnung zu toben. »Begegnung bei Tag« deutet die spielerische verwandlung der beiden hauptfiguren zu amseln an. der amerikanische lyriker wallace stevens fragte in seinem gedicht »Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten«, das symbol ins realbildliche zurückführend: »O dünne Männer von Haddam, / warum erfindet ihr goldene Vögel? Seht ihr die Amsel nicht / euern Fraun / um die Füße gehn?«

 

 

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Die Weltenformel, Neue Geschichten Holger Uske. Wartburg Verlag, Weimar, Edition Muschelkalk, 2016

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.