In vieler Hinsicht war SB Epigonalliteratur und Plagiat. Die Liste der Vorbilder, denen man nachklingen wollte, war lang: Kerouac, Ginsberg, Rimbaud, Baudelaire, Villon, Ploog, Hübsch, Brinkmann, Fauser und immer wieder Bukowski, Bukowski, Bukowski. Die Autoren, die jenseits des Imitierens eigenes Format entwickelten, taten dies nicht durch, sondern trotz der Bewegung SB. Imitieren und nachklingen ist ja eigentlich normal für jeden Jungdichter, der mit Schreiben anfängt, daher sehe ich den SB auch primär als Ausprobierfeld.
Ní Gudix
Eine kleine Gruppe von Autoren als „Generation“ zu bezeichnen, soll den Anspruch verstärken, daß sie repräsentativ und wichtig für die Entwicklung einer neuen Stilrichtung sind. Der Pressetext aus dem Literaturhaus Stuttgart kam etwas vollmundig daher und nennt den sogenannten „Social Beat“ mit dem Beat-Bewegung in einem Atemzug:
„In den 1940er bis 1960er Jahren ließ eine Gruppe von amerikanischen Autor*innen die moderne Literatur erbeben – mit Schockwellen rund um den Globus. Die Beats revolutionierten die literarische Sprache: Straßenslang und spontanes Schreiben wurden en vogue, ihre Themen waren existenzieller Nomadismus und moderne Sinnsuche, sie stellten ihre Werke in umgebauten Garagen und Musikclubs vor. In den 1980er/90er Jahren kam es in der Bundesrepublik zu einem Nachbeben: Junge, wilde Schriftsteller*innen loteten die Grenzen der Literatur aus: mit Texten, gespeist von ihrem unmittelbaren Erleben, inspiriert von Dada und den Beats, mit Formen zwischen Happening, Performance und Lesung, jenseits der etablierten Orte der Literatur. Sie nannten sich: Social Beat und waren die Impulsgeber für die heutige Slam Poetry.“
Der Begriff Beat wurde von Jack Kerouac geprägt und ist die Kurzform von beatitude – Glückseligkeit. Ferner bezeichnet Beat einen speziellen Rhythmus im Jazz, der Musik die die jungen Intellektuellen Amerikas in ihren Bann zog.
Der unermüdliche Aktivist Michael Schönauer hat für den Social Beat in etwa die Bedeutung, die Josef „Biby“ Wintjes für das Nonkonfirmistische Literarisches Informationszentrum hatte. Die „Underground-Anthologie“ Downtown Deutschland wird, nach allen verlässlichen Quellen, als die Geburtsstunde des Social Beat angesehen. Diese Cover-Version einer „Jugendbewegung“ wurde 1993 als Schlagwort des Berliner Literaturfestivals „Töte den Affen“ von Jörg A. Dahlmeyer und Thomas Nöske, abgeleitet von der amerikanischen Beat Generation, Charles Bukowski ist gleichfalls ein Vorbild. Der Aktivist Michael Schönauer schuf sodann wesentliche Strukturen für die Social Beat-Szene. Die Interaktion mit verschiedensten Künstlern rückte er in den Vordergrund. Literatur wurde wieder zur Performance. Bildende Kunst, Tanz, Musik und Dichtung als Elemente des Events. 1993 hatten sich während der Mainzer Minipressenmesse Protagonisten, die zum Teil in Downtown Deutschland, (erschien 1992 im Verlag von Isabel Rox), getroffen, um ein Magazin herauszugeben. Darunter befanden sich Roland Adelmann, Oliver Bopp, Hardy Crueger, Kersten Flenter, Hadayatullah Hübsch, Ingo Lahr, Andi Lück, Thorsten Nesch, Robsie Richter, Mario Todisco und besagte Dahlmeyer und Nöske.
Sie sind Talente, um die niemand herumkommt, der wissen will, was Social Beat ist – nachdem es so schwierig ist, die, die sich unter das Label SOCIAL BEAT subsumieren lassen so rasch und eindeutig in den Griff zu kriegen, daß wir stolz die Schublade zumachen könnten, um aufatmend zu sagen: das isses und das wars.
Hadayatullah Hübsch
Leicht zeitversetzt wurde die Asperger Autorenwerkstatt 1994 in der Kleinstadt Asperg, die im Einzugsbereich der Landeshauptstadt Stuttgart liegt, auf Initiative des Autors, Herausgebers und Verlegers Michael Schönauer gegründet. Die Eintragung in das Vereinsregister beim Amtsgericht Ludwigsburg erfolgte Anfang 1995. Zuvor hatte Schönauer, der aus der benachbarten Kreisstadt Ludwigsburg stammt, von 1984 bis 1994 im Selbstverlag das alternative Literaturmagazin einblick – Das Magazin für Literatur und Kunst herausgegeben, das sich der Förderung der Literatur der 1990er Jahre verschrieben hatte. Der gut organisierte Schönauer gehörte 1993/1994 zu den Wegbereitern des Social Beat, wirkte maßgeblich bei mehreren bundesweiten Literaturfestivals der Social-Beat-Szene und der sich parallel entwickelnden Slam-Poetry-Bewegung mit und wurde zu einem der führenden Protagonisten der links-alternativen Literaturszene der 1990er Jahre.
Am Anfang haben wir ja alle beim Slam mitgemacht: Kersten Flenter, Hadayatullah Hübsch, Jan Off, Alexander Pfeiffer, an Robert Richters Auftritt im Substanz erinnere ich mich immer noch .
Jaromir Konecny
Die deutsche Subliteraturszene formierte sich zum Teil ab 1993 unter dem Label „Social Beat“. Wie bei jeder künstlerischen Bewegung gab es Auf-und-Austritte, Fragen nach dem (inhaltlichen) Programm, nach der Definition von dem Headliner und wer denn nun eigentlich alles ein Social Beatnik sei und wer nicht. Tom de Toys gehörte zum Movement, seine Texte aus der damaligen Zeit belegen das, zudem finden sich auch diverse Fotos von SB-Events – auf dem Rückcover: der junge Toys im Adamskostüm mit zensierten Hinterbacken. In kurzen Manifesten und in den knapp 70 ausgewählten Gedichten bekommt man einen sehr guten Eindruck dieser dynamischen Sub-Szene. Im lyrischen Schaffen dieses Performers vergegenwärtigen sich die nonkonformistischen Rituale einer antibürgerlichen Subkultur. Er wurde inspiriert von Autoren, die Risiken eingegangen sind, die sich immer wieder erneuert haben und nicht nur harmlose Variationen ihrer selbst anboten wie etwa Rolf Dieter Brinkmann, Enno Stahl, Hadayatullah Hübsch, Stan Lafleur und Thomas Kling. Toys verzichtet bei den meisten seiner Gedichte auf traditionelle Metren oder Reime, stattdessen sind sie in Versgruppen unterschiedlicher Länge arrangiert. Häufig findet man Staccatosätze, Enjambements und Wortwiederholungen – Alliteration, Reim und Tautologie, die wahlweise als rhetorisch, topisch oder poetisch verwendet werden, viele seiner Gedichte verweisen auf eine Mündlichkeit, die meist erst später verschriftlicht wurde. In bester Erinnerung geblieben ist der Redaktion seine Trash-Lyrik.
KUNO hat ein Faible für Trash. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Vertiefend dazu beschreibt Constanze Schmidt den Weg von Proust zu Pulp.
meine erinnerung an die mainzer minipressenmesse, im wagen gepennt mit GrIngo, und dann hat Mario Todisco die ganze Bande eingeladen…
Thorsten Nesch
In unterschiedlichen Bundesländern fanden nach 1993 Lesungen und Festivals statt, an denen sowohl Underground-Veteranen wie Daniel Dubbe, Jürgen Ploog oder Kiev Stingl als auch unzählige jüngere Autoren aus dem gesamten Bundesgebiet teilnahmen. Die Bewegung ging zum Teil dann in der sich parallel entwickelnden Slam-Poetry-Szene, mit der es seit Mitte der 1990er starke Verflechtungen gab, auf – und flaute gegen Ende des Jahrzehnts ab. Als vorläufiger Endpunkt kann zu diesem Zeitpunkt die letzte Buchfrust, die 1995 erstmals von Kersten Flenter und Henning Chadde veranstaltet wurde und einmal im Jahr stattfand, angesehen werden, die im Jahr 2000 zum letzten Mal organisiert wurde.
Von 1987 bis 1996 veröffentlichte Robsie Richter das Literatur-Fanzine Kopfzerschmettern, das für viele andere Social-Beat- und Literatur-Fanzines richtungsweisend war.
Die ersten Zeitschriften dieser Underground-Bewegung waren drei so genannte Lit(eratur)-Fanzines: Die seit Mitte der 1980er Jahre herausgegebenen Ikarus (Mainz) – später Das Dreieck, Kopfzerschmettern (Hanau) und Produkt (Duisburg). Ihr Erscheinungsbild orientierte sich anfangs noch an der boomenden Punk-Fanzine-Szene. Ende der 1980er und Anfang der 1990er erschienen eine Vielzahl weiterer Zeitschriften und Magazine, die in Inhalt und Aufmachung variierten: 3D-Silbig (Bochum), Art & Decay (Schwarzenberg), Bulletten Tango (Bochum), Brain Surfer (Engelswies), Cocksucker (Riedstadt), Die asoziale Beate (Goldberg), Der Störer (Braunschweig/Berlin), Gästepost (Berlin), Härter (Münster), herzGalopp (Hamburg), HOKAHE (Göttingen), Holunderground (Frankfurt), Kaleidoskop (Berlin), Krachkultur (Lintig-Meckelstedt/München), Kultur-Terrorist (Leverkusen), Labyrinth & Minenfeld (Osnabrück), Minotaurus (Cottbus), Rude Look (Bederkesa), Secret Looser (Wiesbaden), SUBH (Cottbus und Braunschweig), Ventile (Mainz) und Vergammelte Schriften (Leipzig). Viele dieser Projekte sind im Laufe der 1990er eingestellt worden. Als internes Informationsblatt diente Die Wanze, die von wechselnden Redaktionen herausgegeben wurde.
Viele dieser Magazine werden von lahmarschigen Jungs gegründet, die absolut kein Durchhaltevermögen haben und zum ersten Mal in ihrem Leben etwas ohne Mutti auf die Reihe kriegen wollen und sich in Tesafilm, Gin, banalen Geschichten, unrealistischen Liebesgeschichten, Manien, Skandalen, Politik, fickenden Hunden im Vorgarten, Jazz, dem ersten Joint und weiß Gott noch was alles verstricken und worauf Gott – und ich – getrost scheißen.
Charles Bukowski, „Die Minipresse in Amerika“
1995 wurde eine neuen Publikationsreihe mit dem Label KILLROY media gegründet. Seitdem führt Schönauer maßgeblich die Verlagsaktivitäten. Unterstützt wird er dabei von Martin Plan (Lektorat), Elke Kurz (Les´Art), Eva Martinez (Grafikdesign), und Karin Rühle und Joachim Schönauer. Der Name der später als „Social-Beat-Zentrale Süd“ charakterisierten Autorenwerkstatt in Asperg bezog sich auf den Ortsnamen des Gründungsortes und Vereinssitzes. Schönauer war von 1994 bis 2003 als Geschäftsführer des eingetragenen Vereins tätig. Die Autorenwerkstatt übernahm u. a. redaktionelle Bearbeitungen von Anthologien, fungierte teils als Herausgeber und verlegte als Kleinverlag einige Publikationen. Besonders erwähnenswert sind der Band German Grand SLAM „Freestyle versus SLAM„. Mit dem dritten Band vervollständigt sich das verlegerische Werk zur deutschen Untergrund-Literatur, „vom alten ins neue Jahrtausend“; mehr als 600 Seiten Pop-, Trash-, Beat- und Slam-Literatur. Eine hohe qualitative Aus- und Verarbeitung des Buchproduktes wurden das wesentliche Erkennungszeichen von KILLROY media. Der sogenannte Social Beat ist längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, dieser Verlag macht weiter. Unbeirrt, so scheint es.
Kaltland Beat‹ ist die Bestandsaufnahme einer Krise, nämlich Manifest der Erkenntnis, dass das Projekt der Moderne mit seinen diversen Ansprüchen nach Originalität, Vitalismus, Avantgarde, Präsenz, Dissidenz, Schock und Aufhebung von Kunst und Leben auch im literarischen Underground historisch geworden ist. […] Damit ist ›Kaltland Beat‹ aber zugleich auch die beste deutschsprachige Anthologie zum Thema, eine die alle anderen glatt ersetzt.
Martin Büsser, Testcard / Beiträge zur Popgeschichte
Vereinzelte, schwer definierbare Erscheinungen wie Underground, Subliteratur, Außer-Literarische Opposition, Trash– und Cut-up-Schreibtechniken, Fanzines… um nur einige unter vielen zu erwähnen, weisen altbekannte und theoretisch eingeordnete kulturelle Verhaltensmuster und Gemeinsamkeiten auf: Sie sind die beweglichen Bestandteile einer »Szene«, die, wie schon immer Szenen, Auf- und Austritte, Großartiges und Stinklangweiliges, Neues und Altes, aber vor allem Unmittelbares, Lebendiges und risikoreiches Experimentieren an den Tag bringt.
Der Band sammelt eine Auswahl „anti-elitärer Literatur im Geiste von Brinkmann und Bukowski“ aus den 90er Jahren, als Poetry Slams in jeder Kleinstadt veranstaltet wurden. Die Auswahl der journalistischen Beiträge (u.a. von Marc Degens, Benno Käsmayr, Enno Stahl) reicht von der rein soziologischen Erklärung des Phänomens Subkultur über die Beleuchtung der »geistigen« Aspekte derselben bis hin zu der historischen Entwicklung der Subkultur(en) im 20. Jahrhundert. Daneben stehen Prosatexten (u.a. von Kersten Flenter, Jaromir Konecny, Jan Off, Markus Orths) und Poesie (u.a. von Bastian Böttcher, Tanja Dückers, Björn Kuhligk).
Was für die Außenstehenden und selbst für viele Insider spontane Wildwüchse darstellt, ist für Subkulturforscher wie Rolf Lindner oder Rolf Schwendter sowie für die »Schreibtischtäter« des Undergrounds schon längst eine Selbstverständlichkeit: Subkultur bedeutet zwar noch keine Avantgarde, aber jede Avantgarde entspringt einem subkulturellen Nährboden. Denn sowohl Subkultur als auch Avantgarde sind, noch bevor sie sich als »Dinge« (Thomas Stemmer) manifestieren und sich in ihnen schließlich verlieren, Sicht- und Verhaltensweisen des Einzelnen und/oder der Gruppe.
Mit dem Begriff der »Szene« stehen die Herausgeber sicher und zugleich unsicher da. Sicher, denn sie verzichten bewusst auf den Anspruch, mehr als einige provokative Gedanken und verhältnismäßig wenige »Beweise« mit diesem Buch in die Runde zu werfen. Unsicher, denn ihre Herausforderung bleibt nur so lange eine solche, als die im Buch abgedruckten Texte jenseits der provokativen Posse als Literatur von den Leseren empfunden werden.
i jump in & off we go
ruth weiss

„Literatur und Subkultur – nur ein Zeitgefühl?“ Der Social Beat ist eine Grenzgänger-Literatur: die Grenzen zwischen Ich-Erzähler und Autor, zwischen Fiktion und Realität verschwimmt, man kann sie als ‚Bekenntnis‘-Literatur bezeichnen. Wie jede Jugendbewegung seit den Wandervögeln im 19. Jahrhundert sind diese Typen (zumeist junge weiße Männer) auf der Sinnsuche eines modernen „Geworfenen“. Betrachtet man die Geschichte der Jugendbewegungen, so folgten den Riots in den englischen Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n‘-Roll-Konzerten von Bill Haley, die „Schwabinger Krawalle“ Anfang der sogenannten Sixties, vor Paris oder anderswo, Tumulte im Zürich der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der Ungewissheit an der eigenen Perspektive, dies gerade im Ländle. Diese Jungmänner erzählen gern breit von ihren Schwächen und Süchten, meist in Verbindung mit Alkohol. Wenn Frauen bekennen, geht es dagegen meist um Sex. Von daher mag man es bedauern, daß der Social Beat sowenig Autorinnen hervorgebracht hat.
Social Beat SLAM!poetry 1 wird als „Rote Bibel“ des Social Beat bezeichnet
Das kleine Rote Buch von Mao Tsetung, war in den 1960ger Jahren als Rote Bibel geläufig. Dieses Buch eines Diktators stellt ein Referenzwerk für die literarische Strömung des Social Beat dar. Das von Michael Schönauer herausgegebene Social Beat SLAM!poetry 1 versteht sich als eine szene-relevante Recherche mit Beiträgen von 74 Autoren und Autorinnen. Man kann im Ländle den Hunger nach künstlerischem Aufbegehren und Innovation ahnen. Sich schreibend mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, hat für diese Autoren etwas Eitles. Diese Jungmänner formulieren ein Bedürfnis nach Abgrenzung, Rebellion und dem Wunsch Teil einer Bewegung sein, wie die Tocos formulierte. Zu lesen ist ein Konformismus der Resignation, eine lähmende linke Melancholie-Routine, die Autoren des Social Beat formulierten Hilflosigkeit und Tristesse. Die Anzahl der sprachlichen Mittel ist beschränkt. Fast ausschließlich die rhetorischen Figuren der Wiederholung scheinen es den Autoren, (oder sollte man besser vom Textproduzenten sprechen?), angetan zu haben und sie wiederholen sich stetig. Diese Off-Szene wagte den Bruch mit den Bräuchen ohne über die literarischen Möglichkeiten zu verfügen eine neue Tradition zu begründen.
Der interessanteste Autor, den der Social Beat hervorgebracht hat, ist eine Frau
Vom sogannten Social Beat ist nicht mehr viel übrig geblieben, wer erinnert sich noch an Ingo Lahr, Andi Lück oder die von HEL so benannte „Einmannsekte“ Tom de Toys? Der interessanteste Autor, den diese Bewegung hervorgebracht hat, ist eine Frau, Gudrun Rupp aka Ní Gudix. Sie arbeitet vor allem als freie Literaturübersetzerin und betätigt sich zudem als Schriftstellerin, Theaterautorin und Rezitatorin. Als Ní Gudix veröffentlichte diese vielseitige Autorin zahlreiche Texte, Essays und Übersetzungen in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften. Der Dialog zwischen Text und Übersetzung ist jedoch nicht die einzige Dimension der mannigfaltigen Auseinandersetzung mit Sprache und ihres Transfers in unterschiedliche Medien. All diese Gattungen besitzen für diese Autorin uneingeschränkte Relevanz.
Ihre Übersetzungen bleiben nah an den Ursprungstexten, wodurch vor allem der semantische Gehalt sowohl der deutschen Texte in den Vordergrund rückt.
Unter dem Label Transliterarix übersetzte sie u.a. Robert Burns, Miguel „Mike“ Gilli und Metta Victor, etwa das Tagebuch von nem schlimmen Schlingel von Metta Victor, das bei Killroy Media erschien. Dies ist ein Klassiker der Lausbubenliteratur und war ein Weltbestseller dazu. 1880 in New York erschienen, war Georgie Hackett, der Held des Buches, genauso bekannt und beliebt wie seine Zeitgenossen Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und es ist auch nicht so, daß er danach vergessen worden wäre. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, es gibt ihn sogar auf Hebräisch – nur wurde, da vielen das Original zu heftig erschien, sprachlich zu revolutionär (im Slang und mit fehlerhafter Orthographie) und vom Inhalt her manchmal zu wild und zu anarchisch, gerne auf eigene Faust im Text herumgekürzt und „verschlimmbessert“. Ihre Übersetzungen bleiben nah an den Ursprungstexten, wodurch vor allem der semantische Gehalt sowohl der deutschen Texte in den Vordergrund rückt. Gleichfalls empfehlenswert ist daher Die Freien. Ein utopisch-anarchischer Roman von M. Gilliland mit der Übertragung aus dem (nord-)irischen Englisch, und mit Anmerkungen von Ní Gudix. Diese von Ambivalenzen, Zweifeln und Paradoxien geprägte Suchbewegung macht dieses Buch über das Leben von Freiheitssuchern zu einem literarischen Ereignis.
LaborBefund – Literatur aus der Wirklichkeit
Wir stellen auf KUNO hin und wieder Literaturzeitschriften vor, zuletzt die Matrix. Auf diesem Weg gilt es einen weiteren Irtum auszuräumen, es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO konsultiert den Wert des Analogen und dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Gern weisen wir daher auch auf den LaborBefund – Literatur aus der Wirklichkeit hin. Diese Lit.-ZS wartet mit Informationen, Deutungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen auf, der den Zustand der Unsicherheit einer Welt gegenüber zeigt, die sich dem Verständnis entzieht. Seit 2013 ist Ní Gudix als Verlegerin und Chefredakteurin der neu gegründeten Berliner Literaturzeitschrift tätig. Im Gegensatz zum sogannten Social Beat stimmen sowohl Texte als auch Bilder nicht in den Abgesang auf das Subjekt ein, das all seine Stabilität verloren hat, sondern reproduzieren und kommentieren diese Effekte durch die zahlreichen intertextuelle Verweise und die verschiedenen miteinander verbundenen Ausdrucksmodi. Das Sammeln und Auflesen verschiedener Gegenstände aus der Tradition bis hin zu brandaktuellen Medienerscheinungen sowie ein gewisses Maß an Verrätselung werden hier zum Prinzip des editorischen Schaffens. Diese ZS ist, wenn man so will, der einzig legitime Nachfolger des Ulcus Molle Infos. Die von Andreas Balck herausgegebene Zeitschrift erscheint monatlich in einer kleinen Printauflage. Ní Gudix ist nun eine Sonderausgabe gewidmet, das die Autorin mit der ganzen Spannbreite ihres Könnens zeigt.
Was darf Dokumentarlit?
Die Ausstellung dokumentierte die Social Beat-Szene, in der der Großraum Stuttgart eine wichtige Rolle spielte, mit Original-Dokumenten aller Art. Die Aktivisten der Szene haben ihr Archiv zur Verfügung gestellt. Umrahmt wird das Ganze von Porträts und Dokumenten der Beats, exklusiven Portraits der Beat-Autoren von Jim Avignon und garniert (digital und womöglich live) mit Veranstaltungen und Lesungen, Filmen, Audioclips und Bücher-Vitrinen. Erstmals öffentlich zu sehen ist zudem eine Foto-Serie der Social Beat-Künstlerin YAM über den lange vergessenen Beat-Lyriker Taylor Mead.
Wie wahrhaftig ist Dokumentarlit?
Die Dokumentation zeigte vor allem eins: Der Social Beat war ungehobelt und polarisierend, mit einem untrüglichen Gespür für ebenso banale wie treffende Lebensweisheiten. Dieses Schreiben ist ein Am-Leben-Bleiben. Künstlerisch gestaltet wird eher wenig, es hat den Anschein des Dokumentarischen. Es hat wahrscheinlich keine Jugendbewegung gegeben, die ihre Leidensarroganz besser zu Schau gestellt hat. Sich als desillusionierte Außenseiter inszenierende Typen schreiben gegen das öde Leben in der Gosse an.
Wie viel Inszenierung ist bei der Dokumentarlit erlaubt?
Bevor der „Beat“ zur Pop-Literatur verniedlicht wurde, gab er sich gefährlich. In einer Zeit, da Originalität von der Stange erhältlich ist, präsentiert sich der Underground schrill, um Aufmerksamkeit zu wecken. Zu Social Beat erwartet man ein fotokopiertes und zusammengetackertes Fanzine und erhält eine hochwertig gemachte 40-seitige-Broschüre, die als eigenständige Sachpublikation angelegt ist. Boris Kerenski hat seine Fähigkeit als Herausgeber mit Kaltland Beat unter Beweis gestellt, in 1999 bereits die Bestandsaufnahme einer Krise, gesellschaftlich und vor allem literarisch. KUNO schätzt seinen künstlerischen Blick bei der Mailart-Aktion Was ist Social Beat? – Der Katalog des konzeptionell bewanderten Boris Kerenski zeigt, dass der Social Beat frei ist von jeglichen programmatischen Schlachtrufen oder einem Credo, dem man als künstlerisches Kollektiv gemeinhin Folge leistet. Man darf, soll und kann alles produzieren und darstellen. Somit sind den Ausdrucksmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen werden nur vom individuellen Profil des Künstlers diktiert, das wiederum eine homogene Szeneformation unmöglich macht. Eine Szene ist wohl auch gar nicht erwünscht, denn schließlich haben nur eigenwillige Erfahrungswelten absolute Gültigkeit.
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Social Beat – Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund, von Boris Kerenski. Edition Hibana, 2021
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.