Ein unbequemer Denker

In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.

Norbert Bolz

Für die Übel dieser Welt kennt die aktuelle Debatte vor allem einen Schuldigen: den alten weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus und auf sein Konto gehen sowohl die Armut in der Welt als auch die Zerstörung der Natur und natürlich der Klimawandel. Doch wie wurde er zum Sündenbock und was steckt hinter dieser kollektiven Schuldzuweisung?

Die Fackel der Theorie haben Sie schon weitergereicht. Sie haben namhafte Schüler wie Norbert Bolz hervorgebracht, man spricht sogar von der ‚Kittlerjugend‘. (Welt am Sonntag)

Walter Benjamin, oft kopiert, selten erreicht

Wie weisse Männer alt geworden sind, zeigt sich am Lebenslauf von Norbert Bolz. Die von  ihm entwickelte „Theorie der neuen Medien“ (1990) knüpft an Gedanken Friedrich Nietzsches, Walter Benjamins und Marshall McLuhans an. Bolz’ Position baut auf Friedrich Kittlers Ideen auf. In seinem Buch setzt er sich mit der Tatsache auseinander, dass das Buch als Leitmedium der Gesellschaft durch den Computer abgelöst werde. Aus der „Gutenberg-Galaxie“ (McLuhan) sei der „Cyberspace“ geworden. Die Information sei nicht mehr an einen physischen Träger gebunden und damit enthumanisiert. Der Code, in dem die Information übertragen wird, sei dem Menschen nicht mehr unmittelbar zugänglich, wie es beim Buch noch der Fall gewesen sei. Der Mensch bedürfe eines Gerätes als Interface zur Information. Aus den bisher lokal vorhandenen Informationen würden Netze globaler Reichweite. Dies habe mit dem Telegraphen und dem Radio begonnen und sich mit dem Fernsehen ausgeweitet. Bis dahin seien die Massenmedien Distributionsmedien gewesen, bei denen der Konsument die Information passiv aufgenommen habe. Indem das Internet auch Aktivität des Nutzers zulasse, insbesondere in benutzergenerierten Inhalten wie im Internetlexikon Wikipedia, entstünden Möglichkeiten der Kooperation und der Selbstdarstellung.

Medien wie das Bild sind nach Bolz nicht nur Wege der Erkenntnis, sondern auch bei entsprechenden Handhabungen, beispielsweise einer Vergrößerung oder Wiederholung, Instrumente der Erkenntnis. Sie verändern zum Teil die Zeitwahrnehmung und ersetzen sogar Erfahrung und Erinnerung. „Fern-Sehen“ wird zum Organ des Menschen.

In einem Streitgespräch mit Julian Nida-Rümelin trug Bolz im Jahr 1998 die These vor, dass angesichts der neuen Medien die seit Platon übliche Vorstellung von Wahrheit ins Wanken gerate, weil immer weniger zwischen Illusion und Wirklichkeit unterschieden werden könne. Die Realität werde immer mehr zu einem universalen, undurchschaubaren und undurchdringlichen Komplex von Projektionen. Die neuen Medien führten zu einer Wirklichkeit, der man nicht mehr mit kritischer Distanz begegnen könne. Jede kritische Reflexion dieses Sachverhaltes sei bereits Bestandteil dieser Wirklichkeit. Der von Bolz damit verbundenen Meinung, dass mit dieser neuen Wirklichkeit die Philosophie ihre Funktion verliere, wird entgegengehalten, dass die Philosophie mit dem Konzept der Immanenzphilosophie schon bei Nietzsche, Foucault oder Deleuze hierauf längst eine Antwort gegeben habe. Kurt Röttgers hält Bolz entgegen: „Und daß menschliche Erkenntnis immer Probleme mit der Unterscheidung von Sein und Schein hat, ist seit Platon bekannt. Seit Kants Verzicht auf die Erkenntnis des Ding-an-sich sei Medialität aller Erkenntnis zur opinio communis geworden. […] Wirklichkeitserkenntnis mit Wahrheitsanspruch charakterisiert nicht vorrangig die Philosophie, sondern das Unternehmen der Wissenschaft.“

Die Flut der Informationen könne nur noch durch Selektion bewältigt werden. Dabei spielten Kürze und Prägnanz, die Sensation, eine maßgebliche Rolle, durch die Informationen verkürzt und beschleunigt würden. Es entstünden Medienhypes besonderer Intensität, die sich schnell verflüchtigten. Das Leben mit der medial vermittelten Katastrophe führt nach Bolz zu einer pessimistischen Weltsicht, die den Realitäten widerspricht, und als Befreiung zu einem dringenden Wunsch nach Nachhaltigkeit. Eine Lösung sieht Bolz in der Selbstverantwortung und im Unternehmertum.

Zum Buch ABC der Medien (2007) meinte Jürgen Kaube in der FAZ:

So findet man nirgendwo Tatsachen, die durchdacht, sondern immer nur akademische Melodien, die abgespielt werden. Bolz renommiert mit coolen Einsichten, die er nicht nach der Einsicht, sondern nach der Coolness ausgewählt hat.

In dem Buch Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen (2008) vertritt Bolz die These: „Atheisten können die Antworten des Glaubens negieren, aber nicht die Fragen.“ Bolz meint: „Vielleicht ist Religion heute nicht mehr die Antwort auf die Frage nach dem Sinn, sondern nur noch die Unterstellung, daß die Frage einen Sinn hat. Man könnte sagen: Die Religion hält die Wunde des Sinns offen.“ (S. 11) Er betrachtet Kommunikation als Substitut für Religion:

Medien bieten Ersatzformen von Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit an. An die Stelle religiöser Kommunikation tritt heute Kommunikation als Religion. Totale Verkabelung, die Verstrickung im elektronischen Netz, wird der unbefangene Blick aber als profane Variante der religio – und das heißt ja eben: Rückbindung erkennen. In der Vernetzung zum integralen Medienverbund ist uns eine stabile Umbesetzung der Transzendenz gelungen. Das Göttliche ist heute das Netzwerk. Und Religion funktioniert als Endlosschleife.

Ursache sei eine zunehmende Säkularisierung und ein wachsender Atheismus in der modernen Gesellschaft. Da Gesellschaft nach Bolz für ihr Funktionieren eine religiöse Grundlage benötige, suchten sich die Menschen Themen, die als Ersatzreligion dienten, aus denen sie Trost und Sinn schöpfen könnten. In diesem Sinne sei die Umweltschutzbewegung die mächtigste Bewegung, die diese Funktion übernommen habe. Ursache seien die Bedrohungen, die früher von der Atombombe, dann von der Kernenergie und in jüngerer Zeit von der globalen Erwärmung ausgingen. Die hierdurch ausgelösten Ängste würden durch Medien verbreitet und die alternativen Bewegungen weckten die Hoffnung, dass die zum Teil nur irrational wahrgenommenen Bedrohungen vermieden werden könnten.

Selbst Geistliche sprächen heutzutage nur über Werte statt über Dogmen des Glaubens. In der Bibel gibt es laut Bolz keine Werte.

Man liebt die Menschheit, um Gott verdrängen zu können. Und hier gewinnt die christliche Lehre vom Antichrist eine skandalöse Aktualität.

Der Antichrist, so Bolz, sei an seiner Rhetorik von Sicherheit und Frieden erkennbar. Das vom Antichristen verbreitete „Gutmenschentum“ sei nur eine Maskierung schlechter Eigenschaften. In seinem Buch Das Wissen der Religion nennt er drei Beispiele:

  • „Soziale Gerechtigkeit“ sei die Maske des Neids.
  • „Teamfähigkeit“ sei die Maske des Hasses auf die Erfolgreichen.
  • „Dialog der Kulturen“ sei die Maske der geistigen Kapitulation vor fremden Kulturen

Indem er sich selbst mit einer Metapher Max Webers als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, betont Bolz, dass er keinen Atheismus vertrete, da er diesen als reine Position des Unglaubens für ebenso unplausibel hält.

In dem Buch Die Wirtschaft des Unsichtbaren (1999) konstatiert Bolz, künftig stehe nicht mehr das physische Produkt im Vordergrund, sondern Service und Engagement, Trends und Events, Marken und Mythen. Die entscheidenden Produktivkräfte seien Wissen, Kommunikation, Spiritualität und Design. Die postkapitalistische Gesellschaft wird zur Wissensgesellschaft und zur Multimedia-Gesellschaft. Design als Instrument der Komplexitätsreduktion trete an die Stelle von Religion, um Sicherheit und Weltvertrauen zu vermitteln.

Sein konsumistisches Manifest (2002) ist eine Auseinandersetzung mit dem Konsumismus. Hierzu stellt Bolz fest:

Ich halte den Konsumismus für eine unglaublich primitive Lebensform. Im Vergleich zum religiösen Fundamentalismus halte ich ihn für das geringere Übel.

Er betrachtet den Kapitalismus in Anlehnung an Walter Benjamin als Religionsersatz. Damit wird er zu einer neuheidnischen Kultreligion, in der jeder Tag zu einem Festtag des Warenfetischismus wird. Allerdings scheint ihm eine grundsätzliche Ablehnung allzu leicht. Die emotionale Bindung an den Reichtum mache den Konsumismus zu einem Immunsystem der Weltgesellschaft gegen fanatische Ideologien. Konsum liefert dabei Anerkennung und Bedürfnisbefriedigung, die aus einer abstrakten Rechtsordnung oder aus Krieg nicht möglich sind. Waren lieferten einen „spirituellen Mehrwert“. Sie böten über die Ästhetik hinaus Freiheit, Geborgenheit, Gesundheit, Individualität, Liebe und Sinn. Bolz hält es für möglich, dass über den Konsum Wertunterschiede von Kulturen überwunden werden können.

In einer kritischen Betrachtung in der Zeit verweist Jörg Lau darauf, dass Bolz manchen Kollegen als „zynischer Zeitgeistphilosoph“ gilt, „der den Mund gern ein wenig zu voll nimmt. Er ist nicht ganz unschuldig an diesem Ruf. In seinen vielen Büchern und Aufsätzen wird gern das Ende (der Aufklärung, der Philosophie, der Kunst, des Menschen und anderer großer Dinge) verkündet, und immer wieder hebt ein neues Zeitalter (des Computers, der Digitalisierung, des Roboters, der Simulation) an.“

In einem Artikel der FAZ vom 22. Februar 2003 spricht sich Bolz unter Bezugnahme auf den Wirtschaftswissenschaftler Gary S. Becker gegen die Berufstätigkeit der Frauen und seiner Meinung nach zu leichte Ehescheidung aus. Es entstehe ein Teufelskreis, der durch die Entscheidung der Frauen ausgelöst werde, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen: Wenn Frauen arbeiten, werden Kinder teurer, denn sie kosten wertvolle Arbeitszeit. Folglich werden weniger Kinder geboren und damit schrumpft das gemeinsame „Kapital“ der Eheleute. Deshalb werden Scheidungen leichter und mehr Ehen werden geschieden. Dann aber müssen Frauen arbeiten, weil sie sich nicht mehr auf die Ressourcen ihrer Männer verlassen können. Der Staat unterstütze diesen Teufelskreis durch das Scheidungsrecht und die Förderung von Kinderbetreuung. An die Stelle der Familienbeziehungen sei die Beziehung zwischen alleinerziehender Mutter und „Vater Staat“ getreten.

In seiner Schrift Die Helden der Familie (2006) kritisiert Bolz den Fürsorgestaat, den neuen Hedonismus der Selbstverwirklichung und eine als Political Correctness getarnte Kinderfeindlichkeit. Es entstehe eine immer größere Kluft zwischen Eltern und Kinderlosen, an deren Ende er die Aufhebung des Generationenvertrages und der Stabilität der Renten sieht. Eine Gefahr dafür liegt für Bolz auch in dem angeblichen gesellschaftlichen Trend der Homosexualisierung, dem man wegen der Tabuisierungen der „Political Correctness“ nicht entgegentreten dürfe: „Nicht die Homosexuellen sind krank, sondern diejenigen, die Homosexualität verurteilen. Daran glaubt natürlich kein vernünftiger Mensch, aber man darf es nicht sagen“.

Barbara Vinken nannte diese Auffassung eine „protestantische Pädagogik, urdeutsche Mutterpolitik“. Albrecht von Lucke hat Bolz in den Frankfurter Heften Kulturzynismus vorgehalten, vor dem man sich in Acht nehmen müsse.

In seinen jüngeren Schriften (Diskurs über die Ungleichheit: Ein Anti-Rousseau und Profit für Alle – Soziale Gerechtigkeit neu denken, beide 2009) setzt sich Bolz mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit auseinander. Dieses Thema ist für ihn durch das Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet. Er kritisiert, die Debatten der Gegenwart würden auf den Gegensatz von Arm und Reich zugespitzt und damit die Forderung nach stärkerer Umverteilung verbunden. Dies führe jedoch zur Einschränkung der Freiheit, worauf schon Alexis de Tocqueville hingewiesen habe. Eine egalitäre Gesellschaft könne die gesellschaftlichen Konflikte jedoch nicht lösen, dies müsse durch individuelle Teilhabe an der Gesellschaft geschehen. Menschen seien nicht gleich und könnten sich daher auch nicht auf die gleiche Weise verwirklichen. Daher könne man sinnvoll nur die Gleichheit der Chancen fordern, nicht die Ergebnisgleichheit.

In einer Rezension kritisiert Wolfgang Kersting den Diskurs über die Ungleichheit als einen weitgehend argumentationsfreien Zettelkasten, der zu sehr auf den Zeitgeist ziele.

Im Bereich der Bildung setzt Bolz auf eher traditionelle Inhalte. Es bedürfe keiner besonderen Ausbildung in Hinblick auf neue Medien. Die in diesem Bereich notwendigen Fähigkeiten würden Schüler sich auch ohne Unterricht problemlos aneignen. Die Überforderung der Lehrer liege eher im Anspruch der Eltern als in der Schule. Das Mitbestimmungsrecht der Eltern in den Schulen hält er für eher schädlich. In Hinblick auf die Leistungen hält Bolz eine stärkere Selektion für sinnvoll. Bessere Leistungen würden gefördert, wenn sich Eltern mehr um ihre Kinder kümmerten. Die Fokussierung auf Teamgeist ist für Bolz der größte Feind von Exzellenz und Genialität.

Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen im Ratinger Hof. Was körperlich-sportiv begann, setzt sich auf anderer Ebene fort.

Enno Stahl

In seinem neuen Buch analysiert Bolz den Begriff und zeigt, dass der alte weiße Mann zur zentralen Symbolfigur in einem kulturellen Bürgerkrieg geworden ist. „Alt“ steht dabei für Tradition und Erfahrung, „weiß“ für die europäische Rationalität und technische Naturbeherrschung und ,,männlich“ für Mut, Risiko und Selbstbehauptung. Dabei wird deutlich: In diesem Konflikt, der immer unbarmherziger geführt wird, geht es nicht um die Beschimpften, sondern um die Grundlagen der westlichen Welt. Die Wut bleibt jung, heute feiert Norbert Bolz seinen 70. Geburtag.

 

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Der alte weiße Mann: Sündenbock der Nation, von Norbert Bolz, Langen Müller 2023

Weiterführend  KUNO irritiert seit einiger Zeit, daß die Freiheit des Ausdrucks immer mehr reglementiert werden soll. Eine Ernüchterungskompensationsbewegung will die Parole Liberté, Égalité, Fraternité durch die der Identität ersetzen. Eine Glosse zum Thema, sowie Übungen für Correctless von Angelika Janz. Zuletzt Stefan Oehms Essay mit Fragen zur kulturellen Aneignung.

 Ein Blick ins KUNO-Online-Archiv: Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen. „Bolz begann zu twittern, als es Twitter überhaupt noch nicht gab“. (Daniel Hornuff)