Das analoge Internet wird eingestellt

Der Ulcus Molle Informationsdienst wurde mit dieser Doppelnummer (Nr. 10/12) nach 21 Jahren eingestellt. Trennung fällt immer schwer – aber es gibt unaufschiebbare Entscheidungen (..), daß sich ein eigenständiger Vertrieb, der mit dem Ulcus Molle Info verbunden war, nicht mehr rechnet. Was unsere stetig sinkenden Umsatzzahlen beweisen“.

Josef „Biby“ Wintjes

Daß er das völlig undogmatisch, fast chaotisch macht, mag seine Nachteile haben, aber es könnte auch der richtige Nährboden für Vorläufiges, Versuchsweises und eben erst Entstehendes sein, das sonst nirgendwo eine Chance hat, Beachtung zu finden

Jürgen Ploog

„Ulcus Molle Info“ erschien anfangs monatlich, ab Nr. 4/5-1972 zweimonatlich und zuletzt ab 1987 vierteljährlich. Es verstand sich als Öffentlichkeits- und Publikationshilfe für junge Autoren und Kleinverlage. Die Zeitschrift wurde zu einem wichtigen Diskussionsforum der literarischen, spirituellen und politischen Gegenkultur. Der Name der Zeitschrift leitet sich von der Geschlechtskrankheit „Ulcus molle“ ab, auch als „Weicher Schanker“ bekannt. Mit einem Umfang von 16 DIN A4-Seiten und einem Vertriebsangebot von über fünfzig Publikationen sowie Buchankündigungen und -besprechungen von Klein- und Selbstverlagen erschien 1970 die Nr. 10 mit einer Auflage von 2.500 Exemplaren; weitere Auflagen erschienen dann in Höhe von 1.200 und mit 200 Abonnenten. Auf seinem Höhepunkt hatte das Ulcus Molle Info 2.500 Abonnenten. Der Ulcus Molle Info−Dienst war zusammen mit der Aktion Feuerzeichen der bekannteste Buch- und Zeitschriftenversand für Alternativliteratur in Deutschland.

Das analoge Internet ging von dort per Schneckenpost in die Vernetzung, seine Name: Ulcus Molle Info. Es wurde herausgegeben von Biby Wintjes… Und es war immer ein kleines Fest, wenn eine Ausgabe des Ulcus Molle Info im Briefkasten lag. So hatte man selbst in der tiefsten Provinz den Eindruck an eine Szene angeschlossen zu sein.

A.J. Weigoni

Ab Mitte der 1980er Jahre wurde die alternative Literatur in der BRD „gesellschaftsfähig“ und Großverlage nahmen die Außenseiterliteratur in ihr Verlagsprogramm auf. Alternative Buchläden, Buchvertriebe wie Rotation drangen an die Öffentlichkeit. Mit dem Aufkommen der Yuppies und dem Ende der Gegenbuchmesse (Frankfurt/M.) und der Mainzer Minipressenmesse interessierten sich auch immer weniger Leser für das Ulcus Molle Info mit seinen subkulturellen Publikationen in nicht selten unübersichtlichem Layout. So musste Wintjes denn auch notgedrungen einräumen:

In der Tat hatte ich als Herausgeber bereits 1987 die Lust an Ulcus Molle verloren (..), weil es heute weder eine eigenständige Alternativpresse mehr gibt noch in irgendeiner Form von Untergrundliteratur die Rede sein kann.

Ulcus Molle Info Nr. 10/12 1990

Das Zeitungssterben, das in den 1980ger Jahre begann, ist auch an der Alternativpresse nicht vorbeigegangen. Dabei war das Ulcus Molle Info spätestens Anfang 1986 um ein übersichtlicheres Layout bemüht und suchte sich dem neuen Trend auch insofern anzupassen, als Wintjes neben der Außenseiterliteratur nun auch Rezensionen zu Werken etablierter Autoren aus Großverlagen wie z. B. Stephen King, Henry Miller und Patrick Süskind in das Ulcus Molle Info integrierte und diese Titel ebenfalls in seinem Versandbuchhandel zur Bestellung anbot. Die Anzahl der Abonnenten sank dennoch von 2.500 auf 500. Größere Druckereischulden, private Krisen und eine nicht gelungene Spendenaktion im Herbst 1989 ließen den „Würger von Bottrop“, wie er ironisch von seinen Freunden genannt wurde, dem Informationsdienst ein Ende setzen. Heute erschien die letzte Ausgabe des Ulcus Molle Infos.

 

 

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Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.