Wer war/ist (noch) Social Beat?

Rimbaud war ich und Apollinaire war ich und Baudelaire war ich und Villon war ich und ich war alle durchgeknallten streunenden zerlumpten Dichter zusammengerollt in einen Schlaf unter den Brücken dieser Welt.

Lawrence Ferlinghetti

 

Die Teilnehmer des ersten Berliner Festivals wurden von Dahlmeyer charakterisiert: »Es [handelt] sich hierbei um Menschen, die mit der herkömmlichen Literatur, mit dem, was sich so in den Buchhandlungen finden oder nicht finden lässt, nicht mehr zufrieden sind. Menschen, die sich in erster Linie für eine neue, andersgeartete Literatur interessieren, also nicht zwingend selbst schreibend tätig sein müssen.«[i]

Für die Aktivisten war das Schreiben/Publizieren und die damit verbundene Auseinandersetzung das entscheidende Paradigma. Trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, ist es nicht verwunderlich, dass so gut wie keiner von seinem Engagement leben konnte. Man war auf prekäre Jobs, familiäre Apanagen, Stütze oder banal: auf eine berufliche Tätigkeit angewiesen wie Übersetzer, freier Journalist, Möbelpacker, Toningenieur etc. Unabhängig davon waren die Autoren bestrebt, ihre künstlerische Arbeit so weit wie möglich voranzutreiben, um irgendwann einigermaßen davon leben zu können. Auf die Gefahr des Sich-zeitlich-Aufteilens hat Marc Degens in seinem vieldiskutierten Essay hingewiesen, nämlich, dass die »›eigentliche Arbeit‹, das Schreiben, nur in den Nischen der ›entfremdeten Arbeit‹, also dem deadend job, realisiert wird (…) [und] diese dort im Laufe der Jahre (…) verkümmert.«[ii] Das Fehlen von Schreibzeit bedeutet ein Ende der künstlerischen Produktion. Eine Behauptung, die nicht aus der Luft gegriffen ist: »Die vorliegende Kompilation ist die Fortsetzung von ›Social Beat Slam! Poetry‹ [Band 1] – 1997 noch ein weites Feld; heute spielen die besten ihrer Protagonisten in der Bundesliga (…). Band 2 ist jetzt ein Schnitt (…) und zeigt sie in ihrer ganzen ›Güte‹: die Stars und Sternchen.«[iii] Waren es in Band 1 74 Autoren, sind es in Band 2 nur noch die Hälfte. Selbstverständlich ist in diesen Szene-Anthologien nicht immer die gesamte Hood vertreten; die Tendenz ist aber erkennbar. Die erste Social-Beat-Garde wurde bedeutend kleiner, ein Teil der Privatschreiber hat die künstlerische Tätigkeit aufgegeben oder wurde von den Herausgebern nicht (mehr) aufgenommen, denn »Messlatte sämtlicher Subkulturen bleibt, auch in der Negation, die Kultur, deren Teil sie sind.«[iv]

Social-Beat-Nachwuchs, also Autoren, die zu einem späteren Zeitpunkt dazugestoßen sind, hat es mit wenigen Ausnahmen nicht gegeben, denn nach einer anfänglichen Blütezeit, inklusive Presse-Hype, erhielt Social Beat das Image einer »Spielwiese des Mittelmaß [und einer] Grabbelkiste für Hilfspoeten & Junk-Heimer.«[v] Samuel Lépo zog das Fazit, dass Schreiben unter dem Headliner Social Beat Punkteverlust bedeutet[vi], so dass kein Autor gewillt war, auf den abgefahrenen Zug, beladen mit Ressentiments, aufzuspringen. Und wenn Michael Schönauer behauptet, dass inzwischen die Besten »in der Bundesliga« spielen und sich der Underground nun im Overground bewegt, ist das eine durchaus richtige Einschätzung. Doch vergisst er dabei, dass diese Autoren nicht (mehr) als Repräsentanten für den Social Beat einstehen und keine bestimmte Stilrichtung, Schreib- und Leseform charakterisieren. Es sind Autoren, die ihre literarischen Fähigkeiten konstant weiterentwickelt und sich von Szenegedanken emanzipiert haben. Da stellt sich die berechtigte Frage, von wem eigentlich die Rede ist, wenn man nicht retrospektiv von Social Beat spricht und wer als Autor gemeint sein könnte? Die literarische Leere füllt seit 2012 die gleichnamige indische Firma mit »Solutions [in] E-commerce, Banking & Financial Services, Real Estate …«[vii] Ironie der Geschichte …

Fazit: Social Beat ist sicherlich kein Begriff, der in das sprachliche Allgemeingut übergegangen ist, der vergesellschaftlicht wurde. Social Beat ist kein bestimmtes literarisches Genre, keine bestimmte Stilrichtung, Schreib- und Leseform oder eine kulturelle Bewegung mit Zielen im klassischen Sinn. Social Beat kann aber als eine temporäre Bewegung in den 1990er-Jahren bezeichnet werden und lässt sich im Rahmen der Popliteratur verorten.

Die subliterarische Erscheinung Social Beat, die als Manifestation des Zeitgeists, als Vorbote eines Kulturwandels von unten und einer Szene gehandelt wurde, war weniger als von vielen gehofft und herbeigeschrieben und eher ein Schatten an der Peripherie des Kulturbetriebs.

Manchmal ist das Muster im Wirrwarr, das Soziologische oder eine alternative Geschichtsschreibung jenseits öffentlicher Präsenz spannender als die subliterarischen Wildwüchse selbst. Vielleicht auch hier? Wird sich Social Beat als kleine Fußnote in der deutschen Literaturgeschichte etablieren? Immerhin: Ein anti-intellektuelles und anti-akademisches Phänomen wird akademisch betrachtet – Social Beat ist in dem Literaturbetrieb angekommen, gegen den es einst angetreten war.

 

 

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Social Beat – Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund, von Boris Kerenski. Edition Hibana, 2021

Bevor der „Beat“ zur Pop-Literatur verniedlicht wurde, war er gefährlich. In einer Zeit, da Originalität von der Stange erhältlich ist, präsentiert sich der Underground schriller, um Aufmerksamkeit zu wecken. Zu Social Beat erwartet man ein fotokopiertes und zusammengetackertes Fanzine und erhält eine qualitativ hochwertig gemachte 40-seitige-Broschüre, die als eigenständige Sachpublikation angelegt ist. Boris Kerenski hat seine Fähigkeit als Herausgeber mit Kaltland Beat unter Beweis gestellt, in 1999 bereits die Bestandsaufnahme einer Krise, gesellschaftlich und vor allem literarisch. KUNO schätzt seinen künstlerischen Blick bei der Mailart-Aktion Was ist Social Beat?

Passend zur Ausstellung im im Literaturhaus Stuttgart (noch bis zum 16.04.2021) eine Reflektion zur ‚Bekenntnis‘-Literatur, in diesem Katalog dekonstruiert Kerenski den Social Beat. Es hat wahrscheinlich keine Jugendbewegung gegeben, die ihre Leidensarroganz besser zu Schau gestellt hat. Die Auflage ist limitiert, jedes Exemplar ist nummeriert und signiert. Dieser Band ist die Edelkirsche auf einer ranzigen Buttertorte und jedem Sammler zu empfehlen.

 

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.

 

[i] Dahlmeyer, Jörg André: »Brief vom 31.03.1994«, in: KAKERLAKE/DIE RUHRPOTT-WANZE o.Nr., o.O. o.J., S. 21.

[ii] Degens, Marc: »Im Un- und Hintergrund. Von der literarischen Sackgasse zum Social Beat und wieder zurück«, in: TESTCARD Nr. 7, Mainz 1999, S. 226.

[iii] Schönauer, Michael: »Slammin’ BRD „Schluckt die sprechende Pille“«, in: Schönauer, Joachim/Ders. (Hg.): »Social Beat Slam! Poetry. Band 2«, Asperg 1999, S. 6.

[iv] Lindner, Rolf: »Subkultur. Stichworte zur Wirkungsgeschichte eines Konzepts«, in: BERLINER BLÄTTER Nr. 15, Berlin 1997, S. 7.

[v] Peters, Markus: Mailart-Beitrag, in: Kerenski/Schönauer 1998, S. 18.

[vi] Vgl. Lépo, Samuel (ein Pseudonym von Tom de Toys): undatiertes Flugblatt.

[vii] https://www.socialbeat.in, Zugriff am 20.12.2020.