Ledertasche · Reloaded

Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung

Seit der Erfindung des bewegten Bilds tragen die Menschen – so scheint es – eine eigentümliche Kamera im Kopf, in die sich manche Bilder tief und deutlich einätzen. Über ganz bestimmte „Momente, die das Leben beherrschen“, schreibt Hartmuth Malorny in seinen ersten Roman Die schwarze Ledertasche. Er schrieb damit die Coverversion des Trash-Klassikers Der Mann mit der Ledertasche (Originaltitel: Post Office) von Charles Bukowski, der 1971 erschienen ist. Malorny arbeitet bei diesem Remake wie ein Sample-Spezialist, er sucht sich eine Reihe von charakteristischen Themen und Motiven und remixed sie so, daß ein spezieller Ruhrgebeat entsteht. Dieses Medley spielt am Schmutzrand der bürgerlichen Gesellschaft. Die als Underground-Literatur betitelte alternativen Form der Paraphrase hat deutsche Schriftsteller von Rolf Dieter Brinkmann über Jörg Fauser bis bin zu Malorny maßgeblich beeinflußt. Im Hinterkopf hat letzterer wahrscheinlich immer die Frage: „Wie stehen die Texte, der Autor und die Metropolregion Rhein-Ruhr miteinander in Verbindung?“

Das gesamte Personal der Post muss in seiner völligen Hingabe an das Interesse der Öffentlichkeit immer standhaft und rechtschaffen bleiben. Vom Personal der Post wird erwartet, dass es nach den höchsten sittlichen Grundsätzen handelt, die Gesetze der Vereinigten Staaten achtet und sich im Übrigen an die Vorschriften und Richtlinien der Postverwaltung hält.

Henry Chinaski

Wie erinnern uns: Nach Gelegenheitsjobs erhielt Charles Bukowski im Jahr 1959 eine Festanstellung beim Post Office Department Los Angeles. Die Arbeit des Briefesortierens war körperlich wahrscheinlich nicht sonderlich anstrengend und auch mit einem morgendlichen Kater zu bewältigen. Zudem ließ sie Bukowski genug Energie, um abends und nachts zu schreiben. In diesem Job sollte Bukowski trotz massiver gesundheitlicher Probleme die folgenden elf Jahre bleiben. Der Briefträger Henry Chinaski aka Charles Bukowski legt sich in dem autobiographischen Roman mit seinem Vorgesetzten an, säuft, wettet und versucht erfolglos, eine dauerhafte sexuelle Beziehung aufzubauen. Schließlich quittiert er den Dienst im Post Office, um einen Roman zu schreiben. Letzlich ermöglicht wurde ihm dies unter anderem durch eine regelmäßige Zuwendung seines damaligen amerikanischen Verlegers John Martin von Black Sparrow Press. Martin zufolge hat Bukowski seinen ersten Roman im Januar 1970 innerhalb von vier Wochen runtergeschrieben.

Ich denke nicht, dass Alkohol Schriftsteller zerstört. Ich denke eher, dass sie durch ihre Selbstzufriedenheit und ihr gottverdammtes Ego zerstört werden. Ihnen fehlt es an Durchhaltevermögen, weil sie davon nur wenig Gebrauch machen…

Charles Bukowski

Wir wissen nicht, wie lange Malorny für seinen ersten Langtext gebraucht hat. Er entwirft eine Generation später die deutsche Version von dessen Trinker- und Unterschichtsdramen vor dem Hintergrund des sogenannten Strukturwandels. Darin schilderte er eine selbstgewählte Außenseiter-Existenz und beschreibt den Alltag als Straßenbahnfahrer – einen Beruf, den er selbst 13 Jahre lang ausgeübt hat. Der Titel dieses Fanbriefs bleibt dabei nicht die einzige Reminiszenz an den Gossenpoeten Bukowski. Auch Malornys Stil bei diesem Mashup ist lakonisch, die Sprache ebenso klar und direkt – und die Geliebte der Ich-Erzähler heißt in beiden Fällen auch zufällig Betty. Es wird in beiden Romanen nach den Rändern der Liebe geforscht, nach ihren Abgründen und Verfehlungen und danach, wie auch eine große Liebe vom Alltag eingeholt und bedroht werden kann.

Für Malorny ist sein Werk „Underground-Literatur“ ganz in der Tradition Bukowskis.

Bukowski mußte zeitlebens die Prägung mit sich tragen, auch alle anderen melancholischen Alkoholiker vor ihrer Destruktivität und Lebensunfähigkeit bewahren zu wollen. Retromanie und Verklärung stehen im Zeichen von Pop als Gegenwartskultur. Als „persönliche Abrechnung mit mir selbst“ faßt Malorny seinen Debütroman zusammen. Mehr noch:

Der Antiheld quält sich durch die Widrigkeiten des Jobs und des Privatlebens, und die Liebesgeschichte zieht sich durch das Ganze wie ein roter Faden.

Schreiben bedeutet für Bukowski und Malorny ein großes Individuations- und Selbstbehauptungsprogramm. Autoren, die einen Ich-Erzähler für einen Roman wählen, haben es bisweilen schwer bei der Kritik. Schnell handeln sich der Autor, der gesamte Text und seine Hauptfigur Vorwürfe ein, die von Gefühlsduselei, Besserwisserei bis hin zu Bildungshuberei, Unglaubwürdigkeit oder schlicht fehlender Sympathie reichen. Zu den Widrigkeiten zählten „der stetige Kampf gegen die Uhr und die mannigfaltigen Dinge, die eine Straßenbahn aufhalten können“. Auch habe sich sein Alkoholproblem nur schwer mit dem Schichtdienst vereinbaren lassen. Wie sein großes Vorbild hat Malorny vor dem Erscheinen seines ersten Romans mehrere Gedichtbände bei Kleinverlagen herausgebracht:

Schreiben ist das einzig Beständige in meinem Leben.

Charles Bukowski hat seinen letzten „Brief“ am 9. März 1994 „aufgegeben“. Auch der Remixer Hartmuth Malorny kann – aus gesundheitlichen Gründen – nicht mehr Straßen- und U-Bahn durch das westliche Westfalen (also östliches Ruhrgebiet) fahren. Als das absehbar gewesen sei, habe er mit dem Schreiben des Romans begonnen, sagt Malorny. Stellenweise liest sich sein Buch wie ein langer Fanbrief. Anders als Bukowski kann der Dortmunder seit seinem Romandebüt nicht ausschließlich vom Schreiben leben. Er ist weiterhin in einem ehrenwerten Beruf bei den Dortmunder Stadtwerken beschäftigt. Die Absicht seiner topografischen Nachforschungen besteht anscheinend darin, Erzählungen und Fiktionen auf eine außerliterarische Realität im Ruhrgebeat zurückzuführen. „Heute säubere ich die Züge, die ich früher gefahren habe, von Graffiti“, sagt Malorny. Langweilig sei der Alltag als Fahrer jedenfalls nicht gewesen: „Jede Runde ist eine neue Runde“, sagt er – und läßt offen, ob er damit nur das Straßenbahn fahren, sein Leben oder die nächste Lokalrunde meint.

Was bleibt sind hier wie dort, Bücher, von denen man bereits beim Lesen sinnlos besoffen ist.

 

***

Der Mann mit der Ledertasche (1971; Originaltitel: Post Office) von Charles Bukowski. Die deutsche Übersetzung von Hans Hermann erschien 1974 bei KiWi

Die schwarze Ledertasche von Hartmuth Malorny. Verlag Max-Stirner-Archiv, Leipzig 2003

Photo: Roberto Tarallo

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.