Der Babst der Supkultur

Zum 25. Todestag erinnert KUNO an Josef „Biby Wintjes. Er hat im Alleingang die Alternativ-Literatur begründet.

Inspiriert durch das Dreigestirn der amerikanische Beat-Generation, Jack Kerouac, Lawrence Ferlinghetti und Allen Ginsberg, schrieb Josef „Biby“ Wintjes selbst Gedichte und bekam so Kontakt mit der deutschsprachigen „Untergrundliteratur“ der 1960er Jahre, was ihn in seiner Motivation eine Informations- und Kommunikationszeitschrift zu gründen, bestärkte. Gemeinsam mit V.O. Stomps und Hadayatullah Hübsch bildet Wintjes die Trias der „nonkonformistischen“ Literatur der alten BRD. Diese Szene tendierte jedoch ganz offen in Richtung Wimmelbild, allzu Disparates, Gegensätzliches oder schlicht Nebeneinanderherlaufendes, lies sich nur additiv zum Sammelsurium Underground fügen. Dieses vielfältige Gewusel konnte man kaum in einem Text, einem Narrativ oder einem Gedicht einfangen.

Von Selbstzweifeln geplagt hörte Josef Wintjes früh damit auf, seine lyrischen Ambitionen in Verse umzusetzen… Er resignierte nicht einfach, sondern fand eine andere und wirksamere Methode literarischen Engagements: Er wurde Zeitschriftenhändler.

Helmut Loeven

Seit dem Mittelalter hat der vestische Hellweg die Verbindung zwischen den westfälischen Städten und den Rheinland hergestellt. „Biby“ Wintjes, der Zeitschriftenverleger der „Gegenkultur“-Szene der 1970er und 1980er Jahre, war die Schaltstelle der Szene, die sich seit 1968 mit der Kommune- und Frauenbewegung, aber auch mit Esoterik und Anarchie befaßte. Themen, die damals sonst nur sehr geringe Chancen auf Öffentlichkeit hatten. Die BRD der sechziger Jahre war unter anderem gekennzeichnet durch das Entstehen einer außerparlamentarischen Opposition. Literatur versteht sich in diesem Zusammenhang als Beitrag der forschenden Praktiker zu einer politischen Weltsicht, in der sich die Einheit von Technik und Natur durch Experiment, Kausalanalyse und quantitative Modellierung erschließt. Die Alternativbewegung setzt sich aus verschiedenen Strömungen und heterogenen Gruppierungen zusammen. Zu ihr gehören die neben Ökologisten, die Frauenbewegung, die Kernkraftgegner, autonome Gruppen, die Homosexuellenbefreiungsbewegung usw., Minderheiten und weitere Randgruppen, die sich in dieser Gesellschaft benachteiligt fühlen – und die Willens waren, dieser Benachteiligung entgegenzutreten. Ihr Widerstand gegen die Pressekonzentration, die daraus resultierende Bereitschaft Gegenöffentlichkeit herzustellen, und das Bestreben verschwiegene und unterbliebene Nachrichten publik zu machen, sind die Voraussetzung für das Entstehen einer sogenannten „Alternativpresse“. Auf die Literarische Alternativpresse folgte das Entstehen der Gegenbuchmesse und die Mainzer Minipressenmesse. Das Selbstverständnis dieser Presse, wie sie sich finanziert, ihr Verhältnis zur Werbung, der innere Aufbau und die äußere Gestaltung unterscheiden sie von der übrigen Presse.

Das analoge Internet ging von dort per Schneckenpost in die Vernetzung, seine Name: Ulcus Molle Info. Es wurde herausgegeben von Biby Wintjes… Und es war immer ein kleines Fest, wenn eine Ausgabe des Ulcus Molle Info im Briefkasten lag. So hatte man selbst in der tiefsten Provinz den Eindruck an eine Szene angeschlossen zu sein.

A.J. Weigoni

Von 1969 bis 1990 gab Wintjes erst monatlich, die längste Zeit dann jedoch zweimonatlich, die Zeitschrift Ulcus Molle Info heraus, die sich als Mitteilungsblatt und Diskussionsforum der literarischen, spirituellen und politischen Gegenkulturszene verstand. Zu Beginn der 1970ger Jahre wird ein Spielraum freigesetzt, den den das demokratische Deutschland moralisch benötigte, um mit dem Fortschritt loszulegen und im Ruhrgebiet befindet sich die Herzkammer dieser Bewegung. Die Bedeutung des Polit-Begriffs für die Literatur hatte sich angesichts der vorherschenden Zeitströmung entfaltet. Diese Texturen der Wirklichkeit waren in erster Linie Reflexionen über die Eigendynamik, die in jedem Akt des Lebens und Schreibens beziehungsweise des Erzählens von Geschichten fast wie zwangsläufig sich entwickelt, ein unaufhörliches Wechselspiel zwischen Sich-Einlassen auf die Welt und Distanz-Wahren zur Wirklichkeit. Die literarische Sprache degenerierte nach den 1960ger Jahren zum neuen Instrument der Wirklichkeitsbeschreibung, für die die beobachtbaren Phänomene nur noch angenäherte Fälle waren. Die erste Hälfte der 1970ger Jahre ist durchwirkt von Begriffen wie Wirkungsgeschichte, Toposforschung, Spätzeitbewusstsein, kulturelles Gedächtnis, Erinnerungskultur. Herausgekommen ist dabei lediglich „Halbzeugs“. Es ist bis zur Mitte der 1970er Jahre eine Wirklichkeit, die man als Kontrast statt Konsistenz benennen könnte, als das für das Subjekt Nicht-mehr-Verfügbare. Den Neckermann der Subkultur hat man Josef „Biby“ Wintjes scherzhaft genannt hat, er vertrieb die Zentralorgane des Undergrounds.

Im „Info“ schrieben Autoren auf der Höhe der Gegenwartsliteratur, subtil und maliziös zu gleichen Teilen.

In der sich als „Alternativ“ verstehenden Literaturszene der 1970er und 1980er Jahre galt Wintjes vielen als Integrationsfigur, bildete er doch mit seinem Versanddienst eine wichtige Anlaufstelle für ihre vielfältigen Angebote und großen Nachfragen. Daneben stemmte der unermüdliche Wintjes auch noch die Herausgabe verschiedener Anthologien zur Underground- und Alternativpresse der 1970er Jahre (Szene-Reader 1972 und folgende). Lesen wir diese Texte im Nachgang, so erfahren wir viel über das Verschwinden der alten BRD, das Verschwinden der Sprache und über das Verschwinden der Erinnerungen. Das Ulcus Molle Info verstand sich als Öffentlichkeits- und Publikationshilfe für junge Autoren und Kleinverlage. Die Zeitschrift wurde zu einem wichtigen Diskussionsforum der literarischen, spirituellen und politischen Gegenkultur. Wir werden zu Zeugen für die stattfindende Abwicklung vom Überkommenen. Im Ruhrgebiet wohnen wir einer tabula rasa bei, die vor dem Schönen und Erhabenen keinen Halt macht. Banalität und Barbarei, hier geistig-ästhetischer Natur, sind auf dem Vormarsch. Eine kleine Lust am Untergang bemächtigt sich der Einwohner, wenn sich Bergschäden bemerkbar machen. Wintjes versuchte den Lesern hier Identifikationsangebote machen würde. Das Gefühl der Freiheit, das die Menschen in jenen Tagen des Aufbruchs in eine neue, demokratische Epoche ergriff, verglühte jedoch schnell, spätestens nach dem Terroranschlag auf die israelische Mannschaft und dem jähen Ende der „heiteren Spiele von München“. Nach dem Verfliegen der politischen Utopie drohte ihnen nichts Schlimmeres als eine auseinanderdriftender Alltag. Der lange Marsch der Bohémiens war bereits lange vor TuNix „im Arsch“. Das Zeitungssterben, das in den 1980ger Jahre begann, ist auch an der Alternativpresse nicht spurlos vorbeigegangen. Die Ära Ulcus Molle-Info neigte sich dem Ende zu, ab 1987 legte Wintjes gemeinsam mit Bruno Runzheimer die ebenfalls zweimonatlich (später vierteljährlich) erscheinende Zeitschrift Impressum vor, die sich in erster Linie der Förderung von Nachwuchsautoren verschrieben hatte. Wo, wenn nicht hier, hatte die Unzeitgemäßheit in diesen Zeiten ihren Platz?

War das damals tatsächlich eine gravierende Umwälzung oder nur der übliche Aufstand der Jungen gegen die Alten beziehungsweise lediglich ein spontaner Aufbruch gegen den eingefahrenen Literatur-Betrieb?

Das Ruhrgebeat in der Gegenwartsliteratur bestand zwischen 1969 – 1990  eben nicht nur aus der drögen „Literatur der Arbeitswelt“. In der Abraumhalde finden sich nach wie vor Relikte einer verwehten Gegenwart, wie sie aus dem Trödelladen der alten BRD allzu bekannt sind: die Cranger Kirmes, synthetische Aromen, Cocktailkirschen. Über ganz bestimmte „Momente, die das Leben beherrschen“, schrieb der Dortmunder Hartmuth Malorny in seinen ersten Roman Die schwarze Ledertasche. Er schrieb damit die Coverversion des Trash-Klassikers Der Mann mit der Ledertasche von Charles Bukowski, der 1971 erschienen ist. Malorny arbeitet bei diesem Remake wie ein Sample-Spezialist, er sucht sich eine Reihe von charakteristischen Themen und Motiven und remixed sie so, daß ein spezieller Ruhrgebeat entsteht. Dieses Medley spielt am Schmutzrand der bürgerlichen Gesellschaft. Die Bildhauerin Pia Bohr aus Dortmund schält das Holz mit einem Stechbeitel, welcher auf direktem Wege das Geheimnis freilegt. Analog zu ihrer Arbeit als Musikerin lauscht sie in das Material hinein, als sei es ein Gefäß, in dem sich die Energien bereits gesammelt haben. Der Bottroper Thomas Nöske veröffentlichte zahlreiche Publikationen über Themen der Kunst, Popkultur, Alternativliteratur, kritischen Theorie, Niklas Luhmanns Systemtheorie und Science-Fiction. Der Duisburger Tom Liwa spielte sich mit seinen famousen Flowerpornoes in die Kritikerherzen, als die Begründer der so genannten Hamburger Schule noch im Kindergarten tobten. Der in „Bad“ Mülheim aufgewachsene Helge Schneider ist wahrscheinlich der bislang einzige Solo-Künstler, der gleich mit seiner ersten Platte den Titel Seine größten Erfolge gab. Begleitet wurde er bei den Aufnahmen durch Tonmeister Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Die KUNO-Redaktion verlieh Herrn Nipp aus Neheim an der Ruhr den Twitteraturpreis 2017. Der Name des Verlags, den der Gladbecker Dietmar Pokoyski und der Rheinhausener Enno Stahl 1988 begründeten, war Programm: KRASH. Seine Existenzberechtigung lag in einer konsequenten Fortführung der Moderne: von Dada und Surrealismus, den Experimenten von Laut- und visueller Poesie zur Postmoderne. Eva Kurowski aus Oberhausen-Eisenheim ist eine Kartographin des Ruhrgebiets, das sie so detailgetreu nachzeichnet, daß das Abbild mit der Wirklichkeit deckungsgleich wird, um alsbald in dieser zu zerfallen. Der Oberhausener Christoph Schlingensief war ein Visionär, dessen Hölle in Flammen stand, ein Polit-Clown den man gerne eingeladen hat, weil man wußte, dann passiert was und das ist irgendwie Unterhaltung. Aber er wurde nicht wirklich ernst genommen. Trash bezeichnet Phänomene und Objekte, die der ernsthaften Kunst quasi ein Schnippchen schlagen mit verspielten Formen und Verfahren. Nicht zu verwechseln Pop-Art, die sich ja quasi von oben herab mit populärer Kultur auseinandersetzt, indem sie profane Objekte der Alltagskultur kopiert oder ins Museum stellt, erwirkt sie eine Art ironischer Sakralisierung. Der Bottroper Wintjes lenkte sowohl den Blick in Richtung Regionalität als auch in Richtung „internationale Solidarität“ und stellt die Grenzen des für die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung so wichtigen Bezugsrahmens „Höhenkammliteratur“ völlig infrage, und zwar in territorialer ebenso wie in sprachlicher Hinsicht. Von „daheraus“ (Hub Stevens) muss eine künftige Literaturgeschichtsschreibung ihre Konzepte jenseits solcher profanen Binarismen wie Globalität versus Lokalität und Zentrum versus Peripherie entwickeln.

Für KUNO ist Josef „Biby“ Wintjes so bedeutungsvoll und überaus einprägsam, daß ihn die Redaktion auch nach 25 Jahren nicht vergessen hat.

 

 

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Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.