Lost Books – next Generation

Avantgarde macht Spaß

Die Arbeiten des Künstlers Dietmar Pokoyski sind der Beweis dafür, daß Avantgarde auch Spaß machen kann. Seine Bücher kann man als Skulptur betrachten, eingebunden in eine Multi-Media-Show. Dieser Artist gestattet sich einen spielerischen Umgang mit Büchern, jenseits der herkömmlichen Grenzen zwischen bildender Kunst und Literatur. Diese führte ihn gemeinsam mit Enno Stahl zur Gründung eines Verlags, bei dem der Name Programm wurde: KRASH. Diese Edition ist deshalb literaturgeschichtlich relevant, weil sich die Aktivisten einer allzu leichten Vernutzung widersetzten, die dem Wissen um die Form-Scharmützel der letzten Dekaden bereits in der Oberflächenstruktur Rechnung trägt.

Karteikartenkrimi

KRASH-Bücher sind daher nicht immer Bücher im herkömmlichen Sinne: Es gibt 3-D-Lit., einen Karteikartenkrimi, Kartonromane oder den 1. Stein als Buch mit einer ISBN, ein Putzlappenbuch. Oder aber tEXtile tEXte: Literatur auf Stoff, Kopfkissen–Kurzkrimis und literarische Sentenzen auf T–Shirts, Unterwäsche, Jacken, Socken, Teppichen: bedruckt, aufkopiert, bestempelt, handgeschrieben, beflockt. Ein weiteres KRASH-Produkt ist die Gossenheft-Reihe, noch eine wunderbare Fälschung: Die Leute denken, es ist Jerry Cotton, und merken dann, daß man ihnen Literatur angedreht hat. (WDR · Aktuelle Stunde).

Die Existenzberechtigung für das KRASH-Programm liegt in einer konsequenten Fortführung der Moderne: von Dada und Surrealismus, den Experimenten von Laut- und gerade auch visueller Poesie zur Postmoderne: ein Konzept, das nicht nur das Gewesene, sondern etwas von der Möglichkeit der Aktualisierung und eines in diesem Sinne Darüber-Hinaus beinhaltet, wie Karl Riha über die kollisionsfreudigen Krachmacher aus dem Rheinland bemerkte. Eine Tradition, die von KRASH NEUE EDITION in sozial-realistischer Manier fortgeführt wird.

Das ist Stahl

Als sozial-realistischer Romanautor versucht Enno Stahl aus dem Kanon unserer kulturellen Denk- und Handlungsmuster, die sich vom Kapitalismus herleiten, erneut einen Skandal zu machen. Er gibt dem Zweifel und dem Fremden in der Welt eine Stimme, will nicht einfach das Bekannte und Erwünschte handwerklich kompetent verschachteln. Stahl ist ein Erzähler von wildbachähnlicher Eloquenz. Bekenntnis und Befund scheinen anekdotisch, sind aber elementar. Seine Prosa lebt von einer erstaunlichen Schärfe der Wahrnehmung, gleichzeitig von einer ebenso erstaunlichen Ichbezogenheit. Stahl analysiert die Mittelstandsdeutschen (neudeutsch: ›Wutbürger‹!) in ihrer unüberbietbaren Mediokrität und präsentiert eine Kunstsprache mit teilweise abgehackten, repetitiven Stummelsätzen mit einer souveränen Nonchalance. Diese Literatur kann man als eine Art Geigerzähler zu betrachten, die die psychischen Strahlungen in einer endsolidarisierten Gesellschaft registriert. Stahl schildert mit analytischem Blick die entleerte Postmoderne, in der sich Anstößiges mit Visionärem vermengt, die Banalität mit der Schwermut. Sie ist bevölkert von Egomanen ohne Ego, von Erotomanen ohne Eros. Dabei beschreibt er die Lebenswelt am ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert mit einer klinischen Kühle und Sterilität, als operiere er den Patienten am offenen Herzen. Stahl konstatiert, daß die Folgen der sogenannten Globalisierung auch in der rheinischen Bucht angekommen sind. Hier leben Menschen an denen alles abperlt: die Natur, Mitgefühl, Sympathie, Moral, die skrupellosen Umstände, unter denen ihr Reichtum entstanden ist. Diese Haltung kritisiert er. Als sozial-realistischer Romanautor will Stahl den Glauben an die Veränderbarkeit einer schlecht eingerichteten Welt befördern.

 

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Lost Books – next Generation mit Dietmar Pokoyski & Enno Stahl

Rheintor, Linz – Anno Domini 2011, Edition Das Labor 2011. – Limitierte und handsignierte Auflage von 100 Exemplaren. – Dem Exemplar 1 – 50 liegt ein Holzschnitt von Haimo Hieronymus bei.

Rheintor, Photo: Klaus Krumscheid

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