Das sich erklärende Wort

Die Poesie ist ein Versuch, der Wirklichkeit auf nichtbegriffliche Weise zu begegnen

Yves Bonnefoy

Lyriker haben keine schlichten Vokabeln, weder im Leben noch in der Dichtung. Selbst Jugendgedichte verdeutlichen das Umkreisende, das eine Suche nach Identität birgt: loslassen, sich selbst finden, akzeptiert werden. Es ist der Versuch eine Form für diese die zerbrochene Welt zu finden. Bei allem Zweifel vertraut die Lyrikerin Sophie Reyer auf die Kraft des geschriebenen Wortes, auf Einsicht durch menschliche Vernunft.

Nach all dem was in diesem Annus Mirabilis zur Verfügung stand, hat KUNO die Stunde Null im Jahr 1989 angesetzt. Seit der Gründung des Projekts Das Labor geht es um die Frage der poetischen Produktion. Sprache mag dehnbar sein, grenzenlos ist sie nicht. Daher untersucht die Redaktion die Lebendigkeit des Sprachmaterials. KUNO spießt Wörter auf, neue ebenso wie alte aus der Erinnerung, wie einen seltenen Schmetterling und betrachtet diese Falter distanziert von allen Seiten. Es entstehen neue Textformen, mit denen die Gesellschaft sich von sich selbst erzählt: Soziale Poetik, Sound-Poetik und Social Reading.

Angelika Janz hat eine Kunstform begründet, bei der Textausschnitte im Sinne der Autorin so erweitert werden, daß aus Einzelteilen ein gänzlich neuer literarischer Text entsteht, die Ausrisse und Schnitte gleichwohl sichtbar bleiben

Dass moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Die Fragmenttexte von Angelika Janz haben als Bild einen ästhetischen Wert, wenn auch einen eher abstrakten oder autonomen. Es gibt Papierschnitte und Collagen, wo Bild und Text, Bildsprache und Wortsprache miteinander korrespondieren oder gleichsam zusammengetackert sind. Wobei der Text bei dieser ästhetischen Prothetik niemals das Bild und das Bild an keiner Stelle den Text illustriert, sondern eine gegenseitige Erweiterung von Bild und Text stattfindet.

Manchmal rächt sich der untergrund doch, oder das hirnunterholz… wo es zu viel denkt und zu wenig lenkt.

HEL

Die Zeitgefährten sind zwischen 1977 – 2008 entstanden, es sind Gedichte für Einzelne, Kopf-, Brust- und Kniestücke, Porträts von Freunden, Kollegen, gereimte Rezensionen, Liebesgedichte, Minnesang und Totenreden, aus 33 Jahren und 7 Städten. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Der Bonner Dichter Ulrich Bergmann ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben.

Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier.

Erst im Sprechen entsteht überhaupt so etwas wie Welt. Und damit die Sprache nicht gleich wieder fest wird und neue Zuschreibungen bildet, versucht der Schreibende niemals stehenzubleiben, wünscht sich fortwährende Verwandlung. Der Lyriker sieht den Logos als Urgrund der Welt, aber nun nicht unpersönlich wie in der antiken Philosophie, sondern Person, eine Vernunft, die zugleich Liebe ist – schöner und klarer lässt sich das Wesen des Poesie, seine Anknüpfung an vorher Gedachtes und der entscheidende Schritt darüber hinaus kaum fassen. Die Sprachbilder, die Holger Benkel ersinnt, bewahren bei aller artifiziellen Konstruktion eine überzeugende Natürlichkeit. Diese ist selbst dann zu finden, wenn er ganz zwanglos Verknüpfungspunkte der damaligen Mentalität mit der heutigen sucht. Ein solcher Rückgriff auf Bildungsgut ist mitnichten Selbstzweck, stilistischer Schmuck, auch wenn er manchmal für die Überraschung der eher oberflächlichen Koinzidenz dient. Die Zentralfigur der europäischen Lyrik ist das entfremdete Individuum, das gerade aufgrund seiner Entfremdung immer weniger einem Kanon der Überlieferung folgen kann oder will. Holger Benkel sieht die Gefahr, dass geistig ideelle Prozesse den technologischen nicht mehr nachfolgen und dadurch letztere unkalkulierbare Wirkungen produzieren. Eine Alternative ist für ihn immer wieder die Rückbesinnung, die auch Gegenwärtiges in einem anderen Licht erscheinen lässt. Er dringt in die Gedärme der Sprache ein und lässt die Geistesgeschichte des deutschen Idealismus leuchten wie einen Leib in Verwesung. Seine utopischen und apokalyptischen Gedanken – und beides scheint ja zusammenzugehören – sind aus antiken und jüdischen Quellen gespeist. Expressionistische Dichter, die ihn früh anregten, haben im 20. Jahrhundert die bildungsbürgerliche Denkwelt und Ästhetik demontiert und zertrümmert.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 mit Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Diese Titelgebung ist selbstverständlich reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. 1995 begann die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger, die (Spoiler) mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluß finden wird

Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

 

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer.

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