Lyrik-Katalog Bundesrepublik

1. Das Buch

 

Im Jahre 1978 erschien im Goldmann-Verlag unter dem Titel Lyrik-Katalog Bundesrepublik eine Anthologie zeitgenössischer deutschsprachiger Dichtung, herausgegeben von dem Literaturwissenschaftler Jan Hans und den Schriftstellern Uwe Herms und Ralf Thenior. Der Band enthält ca. 280 Gedichte von 81 Lyrikern sowie Materialien zur zeitgenössischen deutschen Lyrik. Anlass der Publikation war das Erste Bundesdeutsche Lyrik-Festival, das im Juni 1977 in Hamburg stattfand.

Die jugendlich-kesse Bezeichnung »Katalog« für eine Lyrik-Anthologie entsprach dem immanent protestierenden Charakter der zu jener Zeit entstehenden Lyrik und dem nüchtern-sachlichen Umgang der jungen Dichter mit Sprache. Von den großen Vor- und Leitbildern der frühen Nachkriegslyrik – Benn, Brecht und Celan – spielte nur Brecht noch eine gewisse Rolle. Wichtiger waren R.D. Brinkmann und die US-amerikanischen Dichter der Moderne. So ist es nicht überraschend, dass man in den Gedichten viel von jener Neuen Sachlichkeit spürt, die in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg als Reaktion auf den Expressionismus entstand.

In einer Vorbemerkung  zu den Gedichten teilen die Herausgeber mit, dass der problematische Begriff der ›Qualität‹ nur eine untergeordnete Rolle (bei der Auswahl der Gedichte) spielen konnte. Es ist schwer zu entscheiden, ob das als »Zugeständnis« hinsichtlich des den Herausgebern zur Auswahl gestandenen Materials oder als Hinweis auf die prinzipiellen Schwierigkeiten der Definition intersubjektiv gültiger Qualitäts-Merkmale oder Kriterien für Gedichte zu verstehen ist. Berücksichtigen muss man auch, dass in Teilen der Lyrikszene der siebziger Jahre die »Form« von Gedichten bei ihrer Beurteilung nicht die gleiche bedeutende Rolle wie beute spielte; wichtiger als die Form waren für viele Autoren die »Echtheit«, der Wahrheitsgehalt und auch die politische Aussage der Gedichte.

Wenn man sie heute liest, stellt sich bei vielen Gedichten des »Katalogs« die früher vielleicht erlebte Faszination nicht mehr ein (jedenfalls nicht bei dem Schreiber dieser Zeilen). Manche Verse jedoch haben nichts von ihrer Verführungskraft verloren: die schön schwingenden Langzeilen von Christoph Meckel zum Beispiel oder die kunstvollen Anrichtungen von Elke Erb, Harry Oberländers zornige Zeilen, Klassiker von Peter Rühmkorf, das wunderbare Gedicht Im Postamt einen Fremden umarmen von Roman Ritter oder Jürgen Beckers Verse – ihr »Sound«, ihre Wahrheiten – seiner leisen Stimme zuzuhören, sagt Michael Krüger, ist tatsächlich (mit den Worten von Hugo von Hofmannsthal) ein ›Geschenk für die Seele‹. Andere Leser haben andere Vorlieben, das ist so. Fast alle Autoren des »Katalogs« von 1978 haben weitergearbeitet, Auszeichnungen und Ansehen gewonnen, sind mit wenigen Ausnahmen im »Conrady« vertreten, in vielen Fällen mit Gedichten, die weit stärker als ihre frühen Gedichte sind.

Die Herausgeber des »Katalogs« hatten die Autoren auch um Poetologische Statements gebeten. Viele folgten der Einladung. Einige (sehr subjektiv ausgewählte) Passagen seien hier zitiert: Warum schreibe ich Lyrik? fragt sich Hans Eppendörfer, und antwortet: Weil ich die Lyrik von Marie Luise K. nicht mochte, weil ich mit den Texten von Gottfried B. nichts anfangen konnte, weil mir die Wald- und Wiesen-Flurschäden von Herrn L., die ich in der Penne bis zur Maulsperre pauken musste, stanken … Ich sehe keinen Sinn mehr, schreibt Hannelies Tachau, in einer experimentellen Literatur, die der Sprache ein Primat vor der materiellen Wirklichkeit einräumt … Im Arbeitsprozess für einen winzigen Augenblick die Selbstentfremdung aufgeben, notiert Ralf Thenior, und: Maßstab für das Gelingen ist der Atem der gesprochenen Sprache … Auch Uwe Herms erinnert an Vorbilder: Die Schwierigkeit der schriftstellerischen Arbeit besteht darin, Epiphanien (im Sinne von James Joyce) zu erlangen und sie so niederzuschreiben, dass sie dem Leser zu Epiphanien werden können … Wenn ich einen Text laut von Anfang bis Ende und mit Betonung einem andern vortragen konnte, ohne mich vor mir zu genieren, halte ich ihn für vorläufig vollendet, notiert Elke Erb, und Peter Rühmkorf schließt seinen Beitrag mit einem ironischen Hinweis auf sein Selbstverständnis: Wenn die Menschheit einmal wirklich in ihrer Qual verstummt und sich vor lauter verbaler Kommunikation und Soziolinguistik nichts mehr zu sagen hat, gibt ihr vielleicht ein Satyr, zu sagen, was sie leidet.

2. Der Anlass

 

Das »Erste Bundesdeutsche Lyrik–Festival« war Anlass und Materialgrundlage zu diesem Katalog, schreiben die Herausgeber in der Vorbemerkung. Die dreitägige Veranstaltung  fand im Juni 1977 im Hamburger Winterhuder Fährhaus statt. Etwa 30 Lyriker gaben Lesungen und führten Podiumsdiskussionen. Viele bekannte Namen. Überwiegend jüngere Autoren, aber auch »Altmeister« nahmen teil, u.a. Erich Fried und Ernst Meister. Das Festival fand viel Interesse beim Publikum. Zu den einzelnen Veranstaltungen kamen bis zu 700 Besucher. Auch das Presseecho war erheblich. Etwa 100 bundesdeutsche Zeitungen berichteten über das Festival und zwar überwiegend positiv. Lediglich Die Welt, Organ der »Springer-Presse«,  publizierte zwei krass abwertende Artikel.

Intentionen, Theorien und Ergebnisse der deutschsprachigen Lyrik der siebziger Jahre waren 1977 Gegenstand einiger Aufsätze von Literaturkritikern und Lyrikern in den Akzenten (Heft 1 und folgende). Da die Aufsätze in Beziehung zu der beim Festival vorgestellten Lyrik standen, wurden sie im »Katalog« nachgedruckt. Zentrale Themen der Aufsätze waren die sog. Neue Subjektivität oder Neue Innerlichkeit und der den Lyrikern gemachte Vorwurf des Mangels an Formbewusstsein und Genauigkeit im Denken und Schreiben. Es gab zwar eine »Klärung der Fronten« aber keine Siegermeldungen. Die Sicht vieler Lyriker damals, nicht aller, erhellt ein Satz von Jürgen Theobaldy: Gedichte werden heute nicht aus Verzweiflung vor der Unzulänglichkeit der Sprache geschrieben, sondern vor der Unzulänglichkeit der Welt. Der Umgang der Kritiker mit den Lyrikern und umgekehrt war schnörkellos, die Debatte auch für Lyrikleser interessant und lehrreich.

 

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J. Hans, U. Harms, R. Thenior (Hg.), Lyrik-Katalog Bundesrepublik, Goldmann, München 1978.

Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander hat seit Mitte der 1990er-Jahre veröffentlichte. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend →

Lesen Sie auch seinen Essay über Lyrik. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.