Die Lyrikerin Ines Hagemeyer

 

Ines Hagemeyers ist in der Hauptsache Lyrikerin. Sie veröffentlichte im Dichtungsring nur selten andere Texte, etwa eine Rezension oder ein persönliches Statement zur Zukunft unserer Zeitschrift. Der Dichtungsring ist für sie eine wichtige Sache, sowohl die Autorengruppe als auch die Mitarbeit an der Zeitschrift. Das sind die etwa monatlichen Redaktionssitzungen, die Stunden dauern können, in denen viele organisatorische Dinge besprochen werden, aber auch literarische Diskussionen stattfinden über eingesandte Texte und Themen unserer Ausgaben.

Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass sie unsere treueste Dichtungsringerin ist. Meines Wissens hat sie nie bei einer Veranstaltung des Dichtungsrings gefehlt (Präsentation neuer Ausgaben, Jubiläen, Lesungen mit Beteiligung von Dichtungsringern etc.). Über Literatur und ihre ästhetischen und gesellschaftlichen Funktionen diskutiert sie leidenschaftlich gern. Und das oft mit einigem Humor. In den Redaktionssitzungen und in persönlichen Angelegenheiten unserer Autorengruppe ist sie eine hervorragende Vermittlerin in sachlichen und persönlichen Auseinandersetzungen.

Ines Hagemeyer, Sprachlehrerin und Übersetzerin – zuletzt am Goethe-Institut in Bonn-Bad Godesberg –, stammt aus Montevideo in Uruguay; sie ist aber noch in Berlin geboren, kurz bevor ihre Eltern Deutschland verließen, um der lebensbedrohenden Verfolgung zu entgehen. So spricht und schreibt sie Spanisch wie die deutsche Muttersprache. Die südamerikanische Mentalität hat sichtbar abgefärbt auf sie. Durch ihre Arbeit kam sie nach Spanien und Deutschland. Ihren westfälischen Mann lernte sie in Montevideo kennen. Sie heiratete ihn, wurde in Bonn-Holzlar sesshaft und gründete mit ihm eine Familie. Und schloss sich dem Dichtungsring an.

Als eine Mehrheit der Dichtungsringer sich eine demokratische Verfassung geben wollte, kam es zur Gründung des Dichtungsring e. V. am 8.3.1992 in Bonn bei eje winter (d. i. Elke Trefz-Winter). Die Gründungsmitglieder waren: Ingo Kottmayr, Dieter Pougin, Elke Trefz-Winter, Ines Hagemeyer, Irmtraut Petersson, Barbara Dunkel (alias Barbara Musial), Ulrich Bergmann, Alfons Knauth, Gisela Zimmer, und Gerd Willée als Versammlungsleiter. 

Ines ist seit vielen Jahren unsere Pressechefin, im Vorstand war sie 1992-94 (als Schatzmeisterin) und seit Januar 2015 ist sie erneut im dreiköpfigen Vorstand. Sie wird auch in ihrem neunten Lebensjahrzehnt, das sie nun beginnt, im Vorstand mitarbeiten. 

Sie war auch dabei, als die Dichtungsringer im April 1993 die ostbelgische Literaturzeitschrift Krautgarten in St. Vith besuchten. Und im Oktober 2006 kamen die ostbelgischen  Freunde, Bruno Kartheuser, Leo Gillessen und Robert Schaus als Spitze des Krautgartens zum 25-jährigen Jubliäum des Dichtungsrings nach Bonn. Mit Ines fuhr ich mehrmals zu Sommerfesten des Krautgartens, zuletzt ein Jahr vor dem bedauerlichen Ende des Krautgartens im Jahre  2017.

In den Gedichten Ines Hagemeyers geht es oft um Lebensrückblick, Lebenssumme, Erinnerungen, Schmerz, Überwindung, Verdrängung, und alle diese schweren Dinge. Auch Selbstdeutung. Aber es steht in einem der Gedichte (irreal):

fänd ich den Zauberweg
dahin


zu dem der ich mal war


trieb ich die Unrast aus


wodurch ich eiligst wuchs

verworfen hätt ich längst den Alp

der sich in mir vergrub     

löste den Knoten   

der mich zum Schweigen zwang

und würde sprechen

Es ist das ganze Leben, nicht nur ein erlebter Teil, nicht nur die politische Vergangenheit und der Tod, der Meister aus Deutschland, ist das Thema … Flucht: „aus der Wiege gespült | an einen weißen Strand …“ und zweisprachige Kindheit: das familiäre Deutsch einerseits, Spanisch in Uruguay andererseits: „bezweifelte Einwurzelung“ (Rückblende). So wird die Sprache die eigentliche Heimat, obwohl auch immer wieder ein „Absturz der Worte“ (inhärent) droht – das Nichtbegreifenkönnen des erfahrenen Grauens. Nichts aber wäre das Leben ohne das Suchen nach Worten und Sätzen, um die eigene Existenz und die Fremde zu begreifen, die uns umgibt, und die „Erschütterung | die dich zwischen Tür & Angel | kalt erwischt hat“ … „die ererbte Asche | aus heiterem Himmel“. Asche und Sand … sind nicht zu tragen ohne Hoffnung: „die Last deiner Väter | gebeugt zu tragen | brauchst du nicht mehr“ (Vision II). Aber quälend vertraut bleiben die „langen Schatten der Mythen“ – und der eigene Tod am Ende des Lebens. 

Es liegt manchmal eine Melancholie in den Versen, deren Schönheit bedrohlich gleißt und in die Augen brennt. Schmerzende Wahrheit: homo homini lupus. Und doch – die Kindheit war „nicht nur Schatten und Alb“, es gab „bunte Blätter“ und duftende Erde (Herbst). Und es gibt die Poesie der Sprache! Im „Lied für Gitarre“ heißt es: „was das Gedicht sagt | wenn es schweigt | hüllt sich in Stille | ohne zu verstummen“. Also gibt es doch Hoffnung auf Sagbares und auf Verstehen, auf Übersetzung der Stille in Wissen und Antwort. In einem der schönsten Gedichte, „Lied für Madrid“, scheint das Leben hart und starr und leblos, und doch gibt es

in meinem Wald aus Stein

benetzte Utopie

weht sanft eine Brise

trägt meine Haut ein Lied

Es geht um die großen Fragen im Leben: wie kann ich überhaupt etwas erkennen, warum lebe ich, was bedeuten meine Träume, was bedeuten die Schatten in meinem Herzen, in meinem Gehirn, in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meiner Erinnerung … 

Auch das Schreiben und die Literatur ist ein Thema in den Gedichten. Die Poesie ist ein Erkenntnismittel. Sie hilft, mit dem Leben konstruktiv fertig zu werden oder es wenigstens auszuhalten. Ja, manchmal erschaffen die Worte das Leben, oder sie machen es farbiger, wertvoller. Keine fragwürdige Verdrängung ist gemeint, sondern Bewusstwerdung in der Schönheit von Form und Bild, also der Wahrheit, so gut sie der Schreibende und der Lesende zu verstehen vermag.

Noch wichtiger als Schreiben und Lesen ist die tätige Poesie der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie kann, sie soll auch zur großen sozialen Liebe für alle werden. Politik als Poesie! (So sieht es der Philosoph Richard Rorty.) Mit der Liebe im Kleinen müssen wir beginnen. Sie rettet uns als Einzelne, trotz aller Schwierigkeiten und allen Scheiterns.

Sanft deutet das ein und andere Gedicht auf die Möglichkeit einer besseren Welt hin: „Gewehre krümmen sich … Ophelia steigt aus dem Wasser … & fällt mir in die Arme“. Deswegen gilt:

brich dein Schweigen

wirf ein Wort in den Ring

und bring dich in Stellung

Und der eigene Tod? In einigen Gedichten taucht die Nähe des Todes auf. Er kann nur überdauert werden durch das Werk, durch das Geschriebene, durch die Verse, die Gedichte, die Gedanken, die Ideen … vielleicht auch durch die Liebe, die einem anderen gegeben wird, die nun weiter wirkt im anderen. Oder … wenns zu weit kommt, so heißt es augenzwinkernd

& meditierend

wird der Tag kommen

an dem hinter dem Wort

Wärme & Brise

mich heimlich davontragen

& wenns zu weit kommt

werd ich das Schweigen

übersetzen

Solche Gedichte können in einem Atemzug genannt werden mit der Poesie von Nelly Sachs.

Alles gelingt so großartig in den Bildern, in der Sprache, in den Gedanken!

 

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Dichtungsring, eine Sondernummer für Ines Hagemeyer, Bonn, 2018

„Mit dem Geburtsort wird auch die Muttersprache als Ursprung und Wiege des Ich gesucht, aber nur als eine ihm fremde gefunden. Letztendlich wird die gemeinsame Fremdheit von Fremd- und Muttersprache zu einer ausgewogenen – indes labilen – Vertrautheit. So wie das Findel in dem gleichnamigen Gedicht, ohne festen Boden unter den Füßen zu haben, „das Gleichgewicht zwischen den Lauten“ sucht. Anders gesagt: Das Leben wiegt schwer – die Dichtung wiegt es leicht. Im Sprachenmeer.“

Alfons Knauth

Weiterführend →

Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck.

Ein Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Bruno Kartheuser finden Sie hier.