Apocalypso

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Wir nutzen den Jahresrückblick auf KUNO um HEL in einem Briefwechsel mit Ulrich Bergmann näher vorzustellen.

HEL

HEL Ich habe immer experimentiert so weit als ich mich bemühe, keine 2 gleichen gedichte zu schreiben. Der bogen ist weit gespannt. Ich weiß im durcheinander auch nicht wo es hin läuft. Im moment wird ja nur revivelt, renaichangiert und neu aufgemischt. Fin de siècle sagen Sie. Die Gründerzeit ging ja nach hinten los. Wie war das doch? belle époque. Schön haben Sie’s gesagt: „Neben Apokalypse muß Calypso bestehn.“ Jetzt flattern mir aus allen ecken sonettisten zu. Einer heißt riha, karl, und das kommt echt ausm kindergarten. Hat alle zeichen auf seinem laptop genommen und aus jedem 1 sonett gemacht, auch eins mit ner maus und schweizer käse, oder mit ner richtigen puffpuff. Wenn Sie mal i-dötzjen zu unterrichten haben, nehmen Sie das als malbuch. Dem nachwort nach nimmt der das zeug 150% ernst!

UB Jedenfalls ist die künstlerische Qualität nicht nur per se ableitbar, sondern war und ist immer auch von konsensualen Prozessen abhängig.

HEL Aber nicht ‚Wunde der Schönheit’ und so ’n quatsch… Wir haben genug muße im nächsten millennium am fuß des Tien Shan, wenn wir uns nicht verteidigungskämpferisch die kehlen durchschneiden. Wer nicht dreck aufbereitet hat das system nicht verstanden. Unsere gute moderne bleibt wo sie Gaia bewußt arbeitet. Ich meine installationen, die spüren lassen, daß die erde ein gehirn ist. Beuys wird erst aus dem blickwinkel verstanden. … Aber das ist ein viel zu großes thema für nen armen belgier allein.

Ulrich Bergmann

UB Es fehlt eine neue Moral (Quasi-Religion), ein Halt; und gut möglich, daß so etwas grundsätzlich unmöglich geworden ist. Und deswegen sehe ich, leider, neuen finsteren Zeiten entgegen, in denen alte Strukturen neu sich formieren, subtiler jetzt als damals; das totalitaristische Sehnen wird neu entbrennen, ich weiß natürlich auch nicht wie. … Manchmal denke ich, unser Denken hat doch recht viel zu tun mit der Quantenmechanik. Wir kombinieren alle Möglichkeiten der sprachlichen Elemente – in einem logischen Grobrahmen, wo Freiheit Zufall ist oder Zufall Freiheit, und die Rückkoppelung (Reflexion) eine Ahnung vom Ganzen, eine Art Transzendenz by doing. Oder: Wir sind gar nicht im Käfig, sondern umgekehrt!

HEL Lieber UB, lassen Sie sich eine jahresendgeschichte mit flügeln erzählen… Martin Pohl war auf eine Literarische Tischservierung eingeladen. Ehrengast war jener Beckelmann, den angeblich Grass mit der Blechtrommel zuvorkommend in den ruin getrieben hat; Beckelmann hochprozentig und fern jeder positionsbestimmung. Norbert Adrian, der den literarischen tisch servierte, stellte Beckelmanns roman vor als unbekanntes meisterwerk auf einer höhe mit den Buddenbrooks oder Krieg und Frieden. Darauf ergriff höchsteigenschaftlich das wort Olaf Münzberg, Hauptvorstandssitzender der Neuen Gesellschaft für literatur und publizist von einigem reputat, und bemerkte: „Norbert, zwischen krieg und frieden mußt du schon differenzieren.“ Martin, von dem ich das stückchen habe, prustete ungeachtet servierter tische laut los und kriegte sich vor lachen nicht mehr ein. Bis die anderen verstanden hatten muß eine kultursekunde verstrichen sein. Dann aber krachte das Literaturhaus unter dem gelächter zusammen. Der tisch, von Beckelmanns hochalkoholik schon angeschlagen, war unservierbar geworden, die veranstaltung endete tumultuarisch. So erzählte es mir Martin. Dem ist nur noch hinzuzufügen: Da hat sich mal wieder 1 witz nach Berlin verirrt, und die kerls hätten ihn beinah wieder laufen lassen.

UB Vielleicht ist der am größten, der das Jahrhundertwerk nicht schreibt, obwohl er’s könnte. Und ist der groß, der auch seine Kleinheit als Größe wagt?

HEL Man sieht es im musikgeschäft wie schnell die leute ausgelaugt werden. Sogar Bob Dylan mit seiner lederhaut. Nie bestand größerer bedarf an verwertbarem genie. Das ist eigentlich ein widersspruch in sich: genie ist nicht verwertbar. Aber vielleicht gehört das zu meinen letzten illusionen.

Peter Hacks schrieb mir: „Die Moderne ist ja die Formlosigkeit selber; Ihre Welt indessen, wie sie so von Platen bis Hofmannsthal menschheitsdämmert, stellt und erfüllt formale Ansprüche äußerster Art… Auf Ehre, ich bin entzückt zu erfahren, daß gleich bei mir um die Ecke so ein Snob wohnt.“ Doppelbödig, nicht wahr? Ich bin mir des lobes nicht so sicher. Hacks ist ja selber gespalten, der gebrauchsdichter und librettist, und der formalismusverdächtigte. …

Der osten unterwandert den westen ohnehin, Rußland, mezzogiorno, der schlaf der Internationale – die Roten Schalmeien stehn um Jerichos mauern, falls Euch jemand fragen sollte. Wir berichten weiter von der Kamtschatkafront.

Um die großen fragen unserer epoche zu behandeln hätte Grass seinen Fonty nach Sibirien verbannen müssen. Wir sind nicht postmodern, wir sind präpazifisch. Standort Deutschland ist tiefste provinz; einziger lichtblick: Greenpeaces dreiliterauto. Wär das ein thema für Grass?

Standort Deutschland ist tiefste provinz, und ich hätte sie gern noch tiefer, das wäre eine chance. Wo der kapitalismus des 21. jahrhunderts gebraut wird, in Hongkong oder Singapur, da möchte ich nicht leben…

UB Es hat mich in diesen sympathischen Literaturbetrieb unterhalb der Opportunismusgrenze hinein gebracht, wo die Keime der Korruption noch niedlich sind, wie Mädchenaugen.

HEL Manchmal rächt sich der untergrund doch, oder das hirnunterholz, wenn Sie so wollen, wo es zu viel denkt und zu wenig lenkt. Jedes von den bildchen glaubt, unendlich zeit zu haben, das heißt die wissen nicht was zeit ist, die andern sind ja auch noch da. Das sind zeithasardeure, wenn sie mal wach sind. Aber ich sprach vom untergrund; ich geh eben nicht die doppl dipl tappl tour von prof. riha. Mein komfort ist, ich hab luft zum atmen, aber in der luft wuchern die luftwurzeln. Ich will zu viel als daß ich alles wollte. Ich wiege zu leicht für das nichts, ich wiege zu schwer für das gewicht der welt. – Schmus schmus ist alles gebilde aus vier uhr blues. Vergessen Sie’s. Jeder ist seiner tücke schmied. …

Ich erfinde nicht, ich schreibe immer nur ab, und bei bedarf wird das lied weitere strophen bekommen. Warum neue lieder bauen, wo die alten noch gut sind.

UB Dichten ist verbale Boulimie nach lexikalischem großem Fressen.

HEL Merkwürdig: Kotzen ist eine zentralaussage unserer zeit. Wer nicht bulimisch ist, ist nicht sublim.

UB Mir gefällt das Kommunikative, die Musik des Rap und der Fluss der metaphysisch hingerotzten Gedanken, jedenfalls dann, wenn sie nicht verlogen sind.

HEL Social Beat, ja ja, SB. Es ist in erster linie ein gefühl, ein lebensgefühl. Ich teile es nicht, aber wo es ist schwingt bei mir etwas mit. Gefühl ist alles; tao heißt vielleicht gefühl. Wenn Sie es auf den kern zurück führen, haben Sie immer ein – feeling. Der unterschied ist, ich finde es an stellen wo die SBs es nie suchen würden, ihr gesichtsfeld ist zu eng. Ich finde es bei Hüsnü Daglarca, bei Yunus Emre, bei Asik Veysel, um bei den türken zu bleiben. Es ist ja so alt wie die dichtung selbst. Was die SBs heut meinen, hat viel mit bier und noch ein paar ähnlich gelagerten dingen zu tun, die schwer faßbare melange aus rum hängen, getrieben sein, bier, punk … Sie wissen es selbst. Auch negative eitelkeit ist dabei, sorgsam ungepflegte kleinbürgerei, ein antihabitus mit engen grenzen, borniertheit auch; tief darunter sind sie wach, aber meist wahren sie sich vor zu vielen eindrücken, gleichzeitig muß lautstärke und monotonie stimmen. Stadtbewohner sind sie, auf ihrer weise lieben sie die stadt, den beton. Das alles macht sie aus, ist ihre gestalt, und das schreiben, gedankenlos, aber nicht automatisch, gehört dazu. Doch beat, sagte mal ein jazzmusiker fein, ist noch lange nicht takt, so weit davon entfernt wie social von anarchy.

UB In Deutschland hat man meist ein falsches Verhältnis zur Arbeit. In diesem Land mußte die kommunistische Idee geboren werden und hier muß sie auch immer scheitern – beides ist fast dasselbe.

HEL Auf der höhe bleiben, im urteil, in den mitteln, im sinn. Das ist nicht erklärbar, das ist ein gefühl. Da ist eine spur der man folgt, in einem riesigen netz, von dem teile dir gehören. Einige knoten haben mit dir zu tun, andere nicht. Das hörst du. Es läßt sich nicht sagen. Es ist die mitte. Es ist die milchstraße, der du auch nicht folgen kannst, die etwas anderes ist als was du siehst, aber sie ist deine koordinate. Die chaostheoretiker sagen chreode dazu, die taoisten tao. Es liegt in allem. Es sind nicht metren und reime, aber ohne sie ist die schale nicht ausgewischt. Experiment und handwerk fallen auch zusammen, im modell. Das ist, so banal es klingt, das glück der mitte.

UB Ich hätte von Straßenkindern mehr gelernt als in der Schule und im Elternhaus, das Phantasie und bestimmte Realitäten nicht zuließ. Die Mängel des breiten Bildungsbürgertums haben einen größeren Schaden in der Geschichte nicht nur des deutschen Volkes angerichtet, als man annimmt. Zu positiv wird selbst der Schatten puren Bildungswissens bis auf den heutigen Tag gesehen.

HEL Was das GUTE betrifft, hab ich einer freundin geschrieben: Bleib ä gudes ludr, abr werd kä gutmensch. …

Im übrigen sollte es zeit sein, europäisch zu denken, und zwar europäisch mit der großen lösung. Und mit denken meine ich nicht kapitalstrategisch, das geschieht ohnehin, sondern kulturell, sozial, politisch. Für mich gehört der Islam dazu, und es wird eine der großaufgaben sein, die halbzerstörte brücke wieder zu bauen.

Und die Özdamarn ist wirklich so gut. Bei ihr hab ich gespürt was wäre wenn wir unsere nasen nicht mehr nach Amerika hielten. Was für ein kräftiger pollengeladener nährwind weht da vom balkan herauf, was für ein himmelsplankton uns ins maul! wie der geist der indianer auf die amerikaner, wird der geist der türken auf uns übergehn, wir sind dabei, eine türkisierte gesellschaft zu werden. Das ist eine frage der chemie, nicht der politik. So wurde Amerika schwarz und wird hispanisch. Europa wird slawisch und orientalisch, und nicht zu seinem nachteil. Sevgi Özdamar gibt einen vorgeschmack.

UB Die Türken ersetzen uns die Juden – Allah sei Dank!

Ob wir mit dem Islam und ob der mit uns? Schwierig. Aber eine gute Herausforderung: da brauchen wir viel Geduld und dürfen nicht zu viel erwarten. Appeasement ist gegenüber dem islamischen Fundamentalismus der falsche Weg. Unser Land verlor schon, bevor die Türken kamen, immer mehr seine christlichen Fundamente. Im Grunde gut so, denn es bedeutet Selbstbefreiung von unterdrückender Kultur, die faschistische Phase eingeschlossen. Schlimm nur, was da an Glaubensersatz – esoterische Idiotien und unreflektierte multikulturelle Verbaltoleranz – an die Stelle des Kulturchristentums tritt. Ich vermute, daß tief in unserem europäischen Bewußtsein ein fundamentalistischer Restglaube sitzt. Der müßte sich eigentlich mit dem Islamismus treffen, tut es aber nicht. Warum? Der Imperialismus der weißen Rasse ist noch nicht am Ende. Der Kapitalismus ist da zwar freier, hat aber seinen eigenen, ihm immanenten Faschismus.

HEL Sie werden mich für verrückt halten, aber armut, keuschheit und gehorsam sind’s immer noch, und Sie wissen daß ich von der k’kirche kein stück brot annehme; siehe ihr neuestes weihgas. Sie können auch bedürfnislosigkeit, konzentration und Brechtsches einverständnis, einverstehen dazu sagen, es bleibt sinequanon.

UB Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins.

HEL „Babylonik“, wieder haben Sie ein stichwort gesagt… man könnte vieles so interpretieren. Strophik, enzyklopädik, babylonik, die motive der scribik, für die schwerlich näher hergeholte anzugeben sind, wenn man nicht einfach sagt, ich muß; aber ich muß gar nicht. Ich hab nur alle andern brücken hinter mir verbrannt, keine ausbildung, keine sicherheit, nur das kleine feuer, auf dem die wassersuppe kocht. … Ich stehe jeden tag vor der aporie, die zeit nutzen oder sie als unnutzbar erkennen, für beliebig erklären. Es ist das zeitparadox, aus dem ich manchmal gedichte schleudere, in dem ich manchmal nur meine hirnhälfte mit bildmustern bestücke. …

UB Das Quantensystem reflektiert sich nun selbst, es würfelt sich selbst und wird umgekehrte Messapparatur, es existiert also durch sich selbst, es ist sich selbst transzendent, könnte man sagen, und solche Absurdität von Autopoiesis ironisiere ich. Was die Mixtur der Künste angeht, so ist jedes Gesamtkunstwerk-Streben und jedes Teilkunstwerk-Experiment in Ordnung. Aber ich befürchte, so mancher allzu platte Teil und die alles rettende und fliehende Ironie, dieser ganze nach innen umgestülpte Hedonismus-Krampf, führen dazu, dass die Programme viel besser sind als ihre Inhalte, dass oft das Programm schon der ganze Inhalt ist, also kein Inhalt.

HEL Mit der „alles rettenden und flüchtenden“ ironie haben Sie recht. … witz ist auch vorwärtsverteidigung, gerade der humorlose wappnet sich mit witz. Wer spürt daß seine vorstellung mäßig ist, peppt sie mit dem gestus auf: das gegenteil oder fast das gegenteil ist gemeint. Das ist der mißbrauch nobler oberfläche. Denn den eingefleischten humor, die ironie, die sich nicht dumm stellen muß, findet man selten. Meistens findet man den, der nur eins kann: dem nichtskönnen einen anstrich von parodie geben.

UB Ist es die Rührung, die uns ergreift, wenn das modistische Kunstgewerbe auf dem Laufsteg die große Welt parodiert ohne es zu wissen?

Nicht so leicht heute in der neuen Geniezeit aufzutauchen und nicht gleich wieder unterzugehen. Wer heute etwas sein will, muss schon als Legende anfangen, und die Legende muss sich bei näherer Betrachtung als rostfreier Stahl erweisen.

HEL Der kapitalismus hatte seine vorläufer in den italienischen stadtstaaten. Mann, UB, wir leben in einem land, das beide systeme gekannt hat, was für eine chance könnte das sein! denn wir haben auch den faschismus + Hitlerwahn bis zur neige getrunken. Das experiment sozialismus ist doch nicht gescheitert, sondern abgebrochen. … Aber verdammt noch mal, ich laß mir die utopie nicht vom brot nehmen. Vergesellschaftung, das ist es immer noch, das schließt gerechtigkeit, demokratie, all die beschworenen werte ein.

UB Ein neuer Sozialismus, der das Grundgesetz ändern will, weil muss, ist andererseits erforderlich… Aber ich misstraue der Revolution, weil der Mensch so was nicht konsequent durchhält… Wir Deutschen sind für die Weltveränderung völlig ungeeignet. Ich will weder eine Bewegung à la Hitler noch diese langweilige, unsinnliche Stagnationsscheiße à la Ulbricht und Honecker. (Gysi hat ein charmantes Köpfchen, aber das genügt nicht.)

Also: Ein neuer Sozialismus muss her, ein ganz neuer, raffinierter, sinnlicher, und ich bin optimistisch, dass so etwas in ein oder zwei Jahrzehnten wenigstens elementar-ideologisch heranreift.

Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte ich schon eher. In dieser schrecklichen Wahrheit richte ich mein Leben ein als Traum oder Lüge in meinem kleinen Glück. Aber relative Solidarität ist lebensnotwendig – hier fehlt ein pragmatischer politischer Weg.

Die Reichsidee … erst durch Bismarck ist sie verhunzt, die Ottonische Renovatio Imperii war schon was, gegen das die derzeitige kleineuropäische Lösung mickrig wirkt.

Politik soll Dichtung sein. Dichtung teilt mit, schildert, beschreibt genau, klagt, klagt an, ist Werk, ist Kunst, ist Kosmos im Kleinen. Dichtung führt zur Imagination neuer Bilder, Gedanken, Denkweisen, insofern ist sie auch lehrhaft, sie schreit, singt, weint, sie schweigt sogar manchmal, in subtiler Weise erzeugt und verstärkt sie die Solidarität unter den Menschen, begleitet moralische Wandlungen im historischen Wandel und gibt, aber nicht als billiges Opium fürs Volk, Trost und Hoffnung, deutet Lebenssinn und gesellschaftliches Sein, ergreift Partei und setzt immer die Freiheit des Andersdenkenden voraus. Dichtung verändert indirekt, oft heimlich und unbewusst, getragen von einer (moralischen) Idee, aber in Bildern, die dem Leser Freiheit lassen, sie wirkt abseits der politischen Kommunikation und der ihr immanenten agitatorischen Literatur.

HEL Provinziell … ist vielleicht der megatrend, die großtendenz, der gemeinsame nenner unseres geisteszustands, provinz wohlgemerkt im guten wie im schlechten. Kein St John Perse hat hier die kraft, die erde zu preisen. wir leben in unseren tälern, im nebental, das sind ganz andere menschen. wir haben literarische landesfürsten, alles mittelbau, ein Neruda ist nich dabei… Europa wird zur provinz, und ich seh dem mit gemischten gefühlen entgegen, wie Heine dem proletariat.

© Urban 2005

UB Hauptreligionen: Die absoluten Haupt-Tempel sind die Börsen. Dann kommen die naturwissenschaftlichen Labors. Dann die Sportarenen (wie schon in der Hochzeit der Antike). Die Sportarenen sind vollkommen vernetzt mit den Sponsoren der Wirtschaft und mit der Wissenschaft. Der angelsächsische Glaube: Alles ist durch Training machbar. Diese Philosophie regiert die Welt. Ich beginne zu glauben, dass auch Asien von diesem Denken immer mehr beherrscht wird, so dass am Ende, wenn Asien herrscht, der Kapitalismus nur eine neue Fratze hat.

Die sozial Schwächeren werden notdürftig in Hauptschulen und total mies organisierten Gesamtschulen abgespeist. Eltern erziehen – aus vielen Gründen – zu wenig. Falsche und falsch verstandene pädagogische Lehren werden praktiziert. Egoismus und übler Vulgärhedonismus kommen hinzu. Wirtschaft ist alles. Ein Volk von Krämern und Geldhaien sind wir. Was früher den Juden vorgeworfen wurde, realisieren wir und überbieten uns dabei. Wer den Staat und jeden Mitmenschen nicht bescheißt, gilt als dumm und naiv. Wer Gedichte liest oder den „Zauberberg“, tickt nicht richtig im Kopf. Bildung is fürn Arsch. Sex über alles. Schein und Show. Design und feine Klamotten. Spaß und Fun. Die Malediven, Bier und Hasch. Feten. Das zählt. Okay, das zählte immer schon. Aber jetzt stehen wir vor den sichtbaren Konsequenzen dieser Wertschätzungen, bald auch vor dem national-wirtschaftlichen Abstieg, weil die Kultur intelligenter und innovativer Handlungen zurückgeht.

HEL … lesen Sie Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Wagenbach 2001: mann, das ist doch alles noch da! DAS hat 68, von manchen als zweitgründung der BRD bezeichnet, nicht geändert, nur gemildert. Meinhofs analysen stimmen bis heute: äußere wie innere verelendung und die krankheiten daraus, von straßenkindern schleppe genannt; wir haben die Auschwitzimaschleppe: das ist ein krater, den man noch in einer million jahren vom weltall aus sehn wird, wie das Nördlinger Ries, und wir gehn auf dünner lavakruste .. na Sie verstehn schon: Köln mag einen schuß zivilisierter sein aus römischer zeit, luperkalisch, ubisch, druidisch, dafür hat’s 2000 jahre katholenterror aufm buckel .. wovon reden wir hier eigentlich? … streiten kann man über Stalins rolle, und über das verhältnis anarchismus / sozialismus – antagon oder graduell. Aber haben wir Adlonverpopten alles vergessen womit wir aufgebrochen sind? … Viva la revolucion!

UB Deutschland ist kalt, es ist ein schwieriges, ein schweres Land. Nicht alle sind so schwer, aber viele, viel zu viele. Wir bleiben, was wir immer waren: Ziemlich grob, jeder lebt allein für sich, seelisch zermürbt und krank von der harten Arbeit, vom Ehrgeiz nach Status und Konsum. Immer materialistischer wird die deutsche Welt, immer imitierter, immer amerikanischer, immer fremder. Wir haben zwar die besten Autobauer, fleißige Ingenieure auf vielen Gebieten, profitgierige Betriebswirtschaftler (immer mehr nach angelsächsischem Muster), aber nur wenige Lebenskünstler. Wer seine Arbeit nicht auf Händen vor sich herträgt, gilt schon als faul. Wer anerkannt werden will, klagt, so oft er kann über sein Leid und seine Opfer, die er für die Gemeinschaft bringt. Wir kultivieren, wenns hoch kommt, die deutschen Tugenden, tun also Sachen um ihrer selbst willen. Nicht alle sind so, aber viele, viel zu viele. Wir Deutschen lieben uns selbst nicht. Das ist nicht gut. Das schmerzt mich oft. Denn ich liebe das Land sehr, in dem ich lebe, und ich bin gern ein Deutscher, weil ich die Sprache liebe und die reiche Literatur und Philosophie (auch nach 1945!), die Musik und die Kunst. Wenn nur diese schwere deutsche Mentalität nicht wäre! Das Grübeln, die dumpfe Bierseligkeit, das Biedere, die elende Vereinsmeierei, die bis in die Politik hineinwirkt, die elende Gartenzwergigkeit, das Pedantische, das bis in die Spitze der Intellektuellen den Oberlehrer von einst widerspiegelt! Und die schwere Last unserer schlimmen Geschichte, die viele von uns entweder hemmt oder zur Fortsetzung mit anderen Mitteln verleitet. Wir haben in der Gebrochenheit unserer nationalen Identität nicht nur lähmende Wunden, sondern die Voraussetzungen für die neue Identität als Europäer und Weltbürger, die nötig ist, um auf dieser Erde zu bestehen. Immer noch stark ist der kulturelle Sektor: Das städtische Theaterwesen, die staatlichen Orchester, die Museen, die Kunst, das Übersetzer- und Buchwesen, auch das literarische Leben, vielleicht zunehmend wieder der Film.

Ich sehe, je älter ich werde, immer klarer: Das kapitalistisch organisierte Leben ist falsch, die Entfremdung macht uns alle krank. Ein neuer, besserer Sozialismus muss versucht werden. Aber ich weiß, gerade in Deutschland gelingt das nicht. Lenin hat es dunkel geahnt, wenn er erkannte: Wenn der Marxismus in Deutschland siegt, dann siegt er in der ganzen Welt – Marx hoffte das, als aufgeklärter Idealist, auch, aber Deutschland ist ein konservatives Land mit einem sozialdemokratischen Gewissen als Motor – mehr nicht.

HEL TÜRKEI: Wie schreibt Necati so schön: früher hatten se’s mit der türkengefahr, jetzt sind se Europa am altneubestimmen. Und natürlich paßt die Türkei nicht in dieses europa. Da paßt gar nix. Dies Europa paßt nicht in sich selbst. In seinem wirtschaftswahn hab ich mit diesem oder jedem anderen Europa nix am hut; sagste richtig. Aus der Türkei beziehn wir mehr Provencekräuter als aus der Provence, mehr tomaten als aus Holland, was soll die depolonisierung der landwirtschaft dort; Polen wird sich auch umgucken. Kaffeehausgeistig gesehn ist mir Konya der Sufivatikan näher als zb Wolfsburg, auf der türkischen plattentektonik liegt Trojatlantis, scheiß auf Europa; soll sich wieder dahin verpfeifen marenostrum schlürfen statt latte macchiato falsch ausgesprochen, dann wird’s wieder. Und bedecken sollen sie das haupt.

… wir sind immer allein, auch wenn wir uns zu haben glauben. Und ich fürchte schlimmeres; neumodisch gesprochen: wir halten beziehungen brüchiger als sie sein könnten, wir schätzen nicht was wir haben, wir nutzen nicht genug die möglichkeiten zu lieben… Das ist das fegefeuer.

UB Ja, wir sind immer allein. Das wusste ich immer.

HEL … schau mal, bei den dichtern ist das so: du kannst dichten oder schlurpsen, und ein dichter kann beides. Shelley zb schlurpst auf höchstem niveau, Heine, Brecht. Aber bei den nieschlurpsern gibt es mehrere sorten, die die es nicht tun, und die die es nicht können. Und nicht schlurpsen können heißt auch nicht richtig dichten können. So viel zum schlurpsfaktor.

 UB Dein Denkbericht zeigt dich in dem Stationendrama deines Lebens in einem mittleren Bild – und du weißt nicht, wie die nächsten Szenen aussehen. Nach der Theater- und Lebensauffassung Brechts gibt es Sprünge in der Entwicklung… aber inwieweit können wir selber Autoren oder Regisseure unseres Lebens sein? Ich weiß es auch nicht. Du ruhst dich aus, obwohl du neben deiner melancholischen Interimslethargie wahrscheinlich genau wie ich eine permanente innere Unruhe hast, die dich dann doch wieder antreibt… aber du wirst weiter schreiben, weil du nicht anders kannst, du musst briefeln und stropheln, da hilft nix, auch wenn dir der Boden unter den schreibenden Füßen wie weggezogen erscheint. Im Dauerspagat deines Lebens rutschst du immer wieder – wie ich – mit dem Arsch zu Boden, und schreibst mit dem Schwanz, und mit Händen und Füßen weiter, angesichts einer untergehenden Welt, in der Hölderlins Sehnsucht nach  Ruhm, nach Weiterleben im Gedicht, längst verloren gegangen ist. Ich lese meine süße Freundin, entziffere sie von unten nach oben tastend und versteh nicht jedes Kapitel, in das ich hineinblättere, es kommt ja mehr darauf an, die eigene Interpretation zu begreifen. Das Gefühl, da kommt nichts mehr, rührt sich in uns immer wieder als Gegenwunsch zur Kreation, zum Schöpferwillen, weil wir zum Augenblicke sagen wollen, verweile doch –

Die Frage Was habe ich geleistet? kommt immer zu früh oder zu spät. Die höheren Zwecke sehe ich nicht. Ich habe einen Sohn – höherer Zweck? Ich liebe ihn wie ein Vater seinen Sohn liebt. Meine schulische Arbeit – Lebenserhaltungsleben… Sisyphosarbeit ohne Ende. Was bleibt? Der ein oder andere Text – verloren verschollen schon im Jetzt, das bald vergessene Vergangenheit sein wird. Du wirst das Leben weiter lieben, weil du nicht anders kannst, wirst dich wieder verlieben, lieben, leben, schreiben, essen und trinken – du fühlst dich als perpetuum mobile – bis zum Tod… Wer jetzt kein Ziel hat, wird sich keins mehr setzen, denkst du. Dein Ziel ist prozesshaft, das Schreiben als Bewegung. Die wenigsten wissen, wie sie das Bisschen Zeit, das sie haben, umbringen. Machs gut, Bruder, ververs dich wieder, worthäkle weiter, sonettiere und verliedere so gut du kannst!

HEL Du schreibst, Du liest in Deiner Freundin: da seh ich land, nämlich im Erweiterten Schreibbegriff… Es gibt die theorie, wir konnten lesen eh wir schreiben konnten: wir lesen wahrscheinlich mehr als wir denken … Das heißt, man MACHT etwas auch zur schrift, indem man es wie schrift behandelt, das heißt liest, et vice versa. DEN rückbezug auszutrudeln – hoc est.

UB Habe ich einen neuen Ton? Jedenfalls analysierst du mich gut.

Ich bin nun mal ein Liebhaber des Lebens und der Sprache, bin in der Sprache und kaum außer ihr, bewege mich spielend in den Chomskyschen Kategorien mit fließenden Übergängen, bin Spieler, Lebensspieler, Sprach- und Sprechspieler… flatterhaft wie ein Kind erhebe ich mich manchmal wie ein Schmetterling in die blaue Luft, ein Phönix, der aus seiner Asche aufsteigt wie aus einem Ernteboden – nicht innewerdend des schwarzen Vogels, der mich bald frisst.

Es ist dieser (dieser) Moment des Schreibens, der mir gefällt wie das Paradies, das immer schon in mir war. Ich las in Locarno am Seeufer die Titel der Arp-Skulpturen und schrieb sie mir auf: Larme de galaxie, Torse de géant, Fruit d’une pierre … wie sehr sich Wort und Materie verstärken! – in unserer Vorstellung verwandelt sich alles.

Wie und was in meinem Gehirn spielt, wenn ich das Spiel zulasse, das interessiert mich als Schreibender. Ich spüre, wie ich einer universellen Grammatik nahe bin, wie ich im Schreiben Kontexte betrete, verlasse, mische, wie sich allgemeinere Symbole mir aufdrängen – bis hin zu unbewussten Ahnungen. Manchmal schrieb ich Dinge, die ich erst rückblickend verstehe: Als ich 1996 meine Schlangegeschichten schrieb, ließ ich Schlange, meine Geliebte, meine Frau, schon in der Mitte der vierzehn Geschichten sterben. Mir war meine Frau eine historische Erscheinung, als sie noch gesund war. Ich war ihr immer schon zugleich so fern wie nah. Ich liebte sie, aber ich stand oft, im Gegensatz zum Schreiben, beobachtend neben mir, neben uns. Mir gefällt, wie Chomsky von den mysteries spricht. Ich lebe fraglos in diesem offenen Kosmos, ein Ergebnis unendlicher Zufälle ohne Gott – es sei denn, ich selbst bin Gott. Ich bin der Gott meiner Welt, so gut ich kann, ein Gott neben Göttern, die alle scheitern, auch an sich selbst.

HEL Chomsky hat was für sich, weil er reziprok denkt. Das worum es geht liegt irgendwo zwischen zufall und schicksal, eine welt aus zufällen wär mir zu zufällig.

Sagen wir für schicksal entelechie, denn was einem geschieht, geschieht ihm auf seine art, und seine ist zweibezüglich.

Aber das schöne ist, es reden immer beide, du und das gegenüber. Ist das banal? es wird zu selten bewußt.

 Meine katze redet natürlich mit anderen teilen als ich, aber ich muß LESEN, nicht nur horchen & gucken, sonst versteh ich noch weniger.

Wer aber lesen kann und nicht sehn, der hat, wie der yankee sagt, ein problem; nichts wo ein schuß liebe nicht hülfe.

Aber auch liebe kann anscheinend nicht verhindern was Du beschreibst: sie lebend zu mumifizieren.

Und wenn das stimmt mit der reziprozität, machen wir uns damit zur spiegelmumie, und auch so was in der art steht in Deinen geschichten.

Tja, und so laufen wir dann. Vielleicht ist das mit karma gemeint. Aber ’s gibt auch Merse- / burger zauberverse (Rühmkorff)

Es ist ja das schlechte gewissen daß wir spielen dürfen: verlängerte jugend, gesundes alter, verminderte arbeit, elektronisches weltgespräch .. Genügt es, das zu verteidigen?

Müssen wir in die wildnis? hat sich die wildnis gelichtet? stimmt unser wildnisbegriff nicht?

Sind wir in grundlegend neuer zone, in fundamental anderem prozeß? oder verfeinert sich nur was seit anbeginn geschieht? oder ist es beides?

Aufgabe ist nicht mehr, stattdessen: geh bewußt so wie du bewußt atmest, achte auf den weg und stolper nicht über die füße.

Oder vielmehr: da ist kein weg so wie wir ihn kennen. Tao heißt tiefer, manchmal das gute gefühl, es verhandelt sich in der mitte, es kommt sich auf halbem weg entgegen und teilt sich die kräfte.

UB Ich lebe wieder gern. Aber du meinst, das halte nicht an, wir mumifizieren uns bei lebendigem Leib in dem, was wir für Liebe halten. Und in meinen Geschichten schimmere das durch, sagst du. Ja, was ich weiß, lebe ich nicht. Ich habe nichts Besseres als diese Liebe, die im Werden schon wieder stirbt. „Tja, und so laufen wir dann. … verlängerte jugend, gesundes alter, verminderte arbeit, elektronisches weltgespräch,.. Genügt es, das zu verteidigen?“, fragst du. Ich weiß es nicht. Wir haben nichts Besseres.  Ich vermute, dass wir im Wesentlichen nicht viel anders leben als unsere Vorgänger, allerdings verfeinert, aber Sinnsuche und –findung ist wie eh und je. Wildnis nimmt ab. Das Neue wird immer langweiliger. Es geht in der akzelerierten und immer massierteren Quantität unter, während Qualität stagniert. Glaube und Hoffnung auf echte (humanistische) Forschritte nimmt immer mehr ab – eine gute Voraussetzung allerdings für das SAPERE AUDE und die Umsetzung des Lebens in eine neue Bescheidenheit, vielleicht gelingt uns dann doch noch (List der Geschichte, List der Dialektik) eine bessere Welt, die sich jeder selbst setzt, so gut er kann – allerdings wird das bei Zunahme sozialmaterieller Unterschiede nicht gelingen.

HEL … Und reziprok wieder so wie Du den Arthur schreibst und der Arthur Dich: Wie gehn die „akzelerierten Quantitäten“ um mit uns? das sind ja dauertsunamis.

Modern bin ich wider willen, zumal ich gar nicht weiß auf was für ne moderne ich gesetzt bin: wer in der postmoderne moderne spielt, was für ne epoche vertritt der wohl? und von der postmoderne sieht man ja auch schon wieder die staubwolke, und bei der staubwolke weißt du nie ob’s was wird oder ob’s das war, mit sturm über Zipfelasien. Ich will nicht bausklave an der Chinamauer, ich will mein Kakanien wieder, provinz Belgica, druide, wenn auch nichtapprobiert, also der schweigepflicht entbunden. Vielleicht heißt „größer“ einfach: der saß nicht auf planstelle, der schuf sie: Shakespeare und so.

UB Ich gebe zu, dass es größere und kleinere Epochen gab. Thomas Mann hatte das Glück, dass er sich mit seinen Romanen noch an den poetischen Realismus eines Fontane dranhängen konnte, vielleicht war er sogar der Vollender des Realismus in einer schon ganz anderen Zeit. Thomas Mann implantierte in das realistische Erzählen die Methode der Montage und gab seinen Romanen den Aspekt einer Großmetapher. Seine polyphone Ironie ist ein Erzählstil für die größten Gebäude – nämlich die Innenwelten seiner Romanhelden. In der Erfindung und im Erzählen (Ton und Ausgestaltung des Stoffs) ist Thomas Mann Fontane ebenbürtig, in der verknappenden Verdichtung ist Fontane stärker. Mann stopft teils zuviel Bildung in seine Romane, propft ihnen zu viele Anspielungen auf, vernetzt zuviel Welt und Geist. Vielleicht sind beide gleich große Giganten. Beide knüpfen an bedeutende Vorgänger an und gipfeln sie auf.

Ich habe für das Schreiben sehr verschiedene Motive. Teils ist es reine Lust an der Sprache – oder Spiellust. Teils verarbeite ich Dinge, die in mir sind. So gesehen sind manche meiner Erzählungen auch Zweitträume oder Tagträume, oder Erkenntnisvorgänge, die im Rahmen eines Kunstwerks ins Allgemeine erhoben werden, wenn sie mir gelingen. Und mich treibt die Lust an der Erschaffung einer verbalen Wirklichkeit an, die einen Erkenntnisprozess enthält und beim Leser (in seiner Deutung, falls er sie leistet) evoziert. Was die Wahrheit angeht, so finde ich den Gedanken, dass der Dichter wie der Mathematiker jeweils seine Sprache als Erkenntnisinstrument benutzt, überzeugend. Ich habe schon oft gedacht: Ein erzählerisches Kunstwerk hat viel mit den Tautologien zu tun, die die ganze Mathematik ausmachen – Russell und Whitehead zeigen das für die Aussagenlogik in ihrem Buch „Principia Mathematica“, und Ludwig Wittgenstein scheitert in seiner Sprachphilosophie an der Beschreibung der Welt durch Sätze – zuletzt ist auch das Nichtwissenkönnen ein tautologisches System auf der Grundlage von (nicht hinterfragbaren) Axiomen – wie sämtliche Sätze irgendeiner Mathematik.

Der Zauberberg und die Zeit – das ist ein Spiel, ein Spiel mit dem Leben des Protagonisten, der seine Zeit verliert an seine bewusste Suche nach Lebenssinn, den Castorp im Schnee-Kapitel findet („Du sollst dem Tod keine Macht einräumen über das Leben“) und sogleich wieder vergisst. Castorp will lieben, liebt aber nur platonisch, noch nicht einmal sich selbst, er findet nicht den Weg zum begehrten Körper (Madame Chauchat) – und so wird der Roman zur Großmetapher, die wir wie einen Mythos verstehen können, der auch unser heutiges Leben beherrscht, wenn wir ihn nicht brechen. Wie Derrida ist Thomas Mann ein Mythenbrecher, als Erzähler und didaktischer Wiederverwender alter Mythen. Man(n) kann die Mythen nur mit den Mythen zerstören. Anders gesagt: Die Mythen (ver)wandeln sich nur, eigentlich bleiben sie bestehen, sie zerbrechen heißt also nur, sie zu erkennen. Vielleicht kann man einen Mythos (im Sinne archetypischen Seins) nur durch einen anderen Mythos, den wir drüber stülpen, aufheben, ganz im Sinne Hegels, also dialektisch. Nur in der Bewusstwerdung sind wir gottähnlich. Ich denke, der biblische Schöpfungsbericht kann in dieser Weise gedeutet werden.

HEL Ich habe Ihren ausspruch, es komme auf den menschen an und nicht auf die struktur, meiner nichte überliefert; die will nämlich ins lehramt, alte sprachen und spanisch! Sie weiß jetzt schon von den hürden, läßt sich aber nich abbringen, nicht von der widersinnigen deutschen schulbürokratie, und nicht von horrorstudien des SPIEGEL über ausgebrannte lehrer und schulen im belagerungszustand. Und das besagt noch nichts über den erhalt des gymnasiums, denn wenn Die das system umkrempeln, wer weiß ob wir es und Es nicht zurückwünschen. Aber wieder: wer ist WIR, und wer fragt die schüler? und mit schulrecht statt schulpflicht ist es auch nicht getan. Die schulbürokratie hat auch mit den landesverfassungen zu tun, aber zentralisieren ist nicht die lösung. Schulen autonom? wehe, in einer schule bekommen faschos die oberhand! Sudbury hat das durchgespielt, de jure ist es handhabbar, aber gruppendynamik ist schwer zu knacken —–

Schulischkeit ist ja ein elfdimensionenkreuz.

Eins: Was wär ich ohne altgriechisch! weniger hochmütig vielleicht. Todsünde ja/nein? firmunterricht geschwänzt um Artemis willen.

Zwei: Wogegen rebellierte 68? und tat aus falschen/richtigen gründen das falsche/richtige und/oder des guten zuviel/-wenig? und auch da: 3 Rudis, 2 meinungen oder andersrum.

Drei: Humboldtn mußte ich mir trotz gymnasium eigens aneignen. Oder war das richtig so von weng wissen wo steht?

Vier: Hätte mir lehre oder bankboterei das schreiben zerkloppt oder bodenbehaftet?

Fünf: LEHRER war mein klassenkamerad Peter Bahnen, der mich auf alles stieß von Tucholsky bis Schmitt, von Dvorak bis Penderecki, von Peter Paul Zahl bis Durs Grünbein, monatlich eine insel, ein kontinent jährlich. Sogar reimen kann er…

Sechs: War es gut, mit 10 aus volksschule? „In der Pause werdet ihr Hausaufgaben vergleichen!“ warnte meine mutter. Nixda, auch ich war unterfordert hochbegabt, aber nur deswegen eliteschule propagieren?

Sieben: Ich hatte meine fragen, zb ob Goethe sklaven hielt oder bananen aß, und das wußten die einfach nicht; ein paar davon hab ich immer noch auf der liste, leben zur antwort auf sachfragen, philoetymeia.

Acht: Die Große Arbeit tut sich selber doch / es hängt auch am geschick von hur und koch. (Geschichte und Eigensinn)

Neun: Aber eben, die haben mir auch das erzählen versaut. Es dampft immer zu theorie ein. Schreibende arbeiter! aber es war ja Halle, ich machte nicht rüber, Kraft und Schernikau nach, selbst in schuld, reime sind handschellen, wer nie im karzer saß, der baut sich einen.

Zehn: Auch hielt mich das gymnasium von der straße; gut o schlecht? bleibt eins kehrdumm ohne Gorkijs fakultäten?

Elf: Mein vater, 8 schuljahre, dann mit den brüdern in den wald, akkordholzen, hatte einen rechenlehrer, der zog das pensum ein halbes jahr früher durch, und dann hieß es: kür, sie lösten denksportaufgaben und er führte sie an berühmte vermutungen heran, primzahlenprobleme, das neunerwunder, zwölfersystem — Mein mathematiklehrer kapitulierte vor diesen fragen. No wos is, schlechtes gymnasium / gute volksschule, oder wenigstens 1 guter lehrer? menschen sind wir beide geworden, aber mein vater, kreuz kaputt vom waldarbeiten und rheuma vom rangieren, hatte Einen schüler, mich, und wäre, bürgerlich, ein guter matheprof geworden. Eine zeichenmappe schenkte er mir zum geburtstag, ich hüte sie heute noch.

 Und nun sag, sind’s nicht die barfußlehrer? und ist nicht mehr kaputt als ein vernachlässigtes bildungswesen?

 … ein unpassendes wort kann mich wild machen, nach jahren geh ich mit tippex bei. Und freuen kann ich mich über ein weiteres wortfeld, von sitzen bis hodos, suomi und türk su: alles eine semantik. Das ist mein adlerhorst, und da zwinkert mir der alte Humboldt zu.

GÖÖGLMÖÖSCH ist so entstanden: ungefähr jeden tag eine strophe, und hinein was gerade anlag, zb … reimnis/keimnis, und dann statt geheimnis schleimnis, oder Billy Childish, ein singuläres popphänomen in 72 ua. Ein minimum an handlung trägt einen rückenkamm an assoziaten, wie ein kaum sichtbarer pfad im djungel. Sowas kommt von sowas, und man sollte preisen die kraft und herrlichkeit des auswurfs. Der allerdings, nach dem vorabdruck zu urteilen, kommt eher kleckerweise, pseudosensibel, scheindurchnwind, es treibt sich nicht voran, es liegt

 umanand.

ich hab von jedem brief eine durchschrift…

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Weiterführend →

Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.