Miniaturen I-III

Abstrakte Sprache ist Leistung der Kultur, konkrete Sprache des Erlebens.

Herr Nipp

Die Miniatur bezeichnet als Gattung in der Literatur ganz allgemein einen sehr kurzen Text, und wird – undifferenziert und je nach thematischem Zusammenhang – als Synonym für Begriffe wie Kurzgeschichte, Novelle, Fragment, Anekdote, Vignette, Microfiction, Nanofiction, Short-Short oder LiteraturClip verwendet.

Die literarisch präzisere Definition von Miniatur – der Begriff wurde, wie auch Vignette, analog zu dem Begriff in der Malerei gewählt – ist „bildhafte Beschreibung, kurzer Text mit zahlreichen, mit Wörtern gemalten Bildern“.

Die Miniatur ist bis auf die relative Kürze des Textes nicht einheitlich definiert. Eine sehr allgemeine Definition versteht Miniatur aufgrund der Kürze als Synonym von Kurzgeschichte, Novelle, Fragment, Anekdote, Vignette, Microfiction, Nanofiction und Flash Fiction.

Eine weitere Definition bezieht sich auf die Analogie des Begriffs zur Malerei, wobei die literarische Miniatur mit Worten ein Bild zeichnet.

 

Betrachtungsfeld I: Prosa-Miniaturen

„Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos.“ Franz Kafka

Die Prosa-Miniatur ist eine literarische Gattung der Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die besonders mit bildhafter Beschreibung arbeitet: „Texte, die sich zahlreicher – mit Wörtern gemalter – Bilder bedienen“. In dieser Bedeutung verwendet Christina Niem den Begriff: „Indem Tetzner Miniaturen gesellschaftlicher Zustände der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der Wirtschaftskrise und Inflation zu Beginn der Weimarer Republik zeichnete, führte sie ganz unprätentiös und ohne besondere Kommentierung soziale Realität vor.“

Stefan Zweig (1881–1942) spezifizierte sein 1927 erschienenes Werk Sternstunden der Menschheit mit dem erklärenden Zusatz Vierzehn historische Miniaturen und zeichnet darin 14 Geschichtsbilder aus seiner ganz persönlichen Sicht.

Weitere Prosa-Miniaturen finden sich in den Werken von Robert Walser (1878–1956), Franz Kafka (1883–1924),  Robert Musil (1880–1942) und Paul Celans Mikrolithen (1920 – 19709 und werden aufgrund ihrer Kürze und Intensität als von „großer poetischer Kraft und Konzentration“ wahrgenommen.

 

Betrachtungsfeld II: Lyrische Miniaturen

Bekannte Formen lyrischer Miniaturen sind Haiku (jap. 俳句;), japanischen Kurzgedichte, und Haiku enthaltende Haibun (jap. 俳文 für possenhafte Schilderung), sowie sich an Haiku orientierende kurze Gedichte wie das oft zitierte In a Station of the Metro (In einer Station der Metro) von Ezra Pound (1885–1972), das ausschließlich „ein Bild“ hervorruft und „keine Handlung“ (kein Verb) hat:

“The apparition of these faces in the crowd:
Petals on a wet, black bough.”

„Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge:
Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast.“

Top 100, der Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur.

Zu den lyrischen Miniaturen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts werden Gedichte von Erich Kästner (1899–1974) und Kurt Tucholsky (1890–1935) gezählt: „Die lyrische Miniatur, das schnell zu konsumierende, leicht zu verstehende Gedicht war durch Erich Kästner und Kurt Tucholsky zum zeittypischen Muster geworden…“, sowie Werke der späten Lyrik Bertolt Brechts (1898–1956) und die des Mongolen Daschdordschiin Natsagdordsch (1906–1937), des „Meisters der lyrischen Miniatur“.

Eine Weiterentwicklung erkennen wir mit den LiteraturClips von A.J. Weigoni. Die Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur.

 

Betrachtungsfeld III:Twitteratur

Herr Nipp, Holzschnitt von Haimo Hieronymus

Bereits nachdem Jack Dorsey den ersten Tweet am 21. März 2006 verschickt hatte, war Herrn Nipp klar, das hier etwas Neues entsteht. Von Herrn Nipp waren auf KUNO zwischen 1989 und 1994 Aperçus, Bonmots, und Sentenzen zu lesen. Seine Miniaturen kippen zwischen Schwank und Philosophie, zwischen ernsthafter Weltbeschreibung und banaler Posse.

Jeder Medienwandel steht in einem engen Zusammenhang mit neuen Formen von Literatur, die sich gegenüber den tradierten beweisen müssen. Bisher bilden die kleinen Formen in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der althergebrachte Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Twitteratur ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt (siehe oben), sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Mikrogramme sind eine kleine literarische Form, sie dienen als sicheres Versteck für große Wahrheiten.

 

 

***

Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor (Überarbeitete Ausgabe 2019).

Weiterführend →

Das erste Twitter-Logo ist ein Design-Klassiker: Der blaue Vogel „Larry“.

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt.

Post navigation