Über eine Kleinform der spanischen Literatur

 

Offenbar handelt es sich um Poesie

Das Pfeifen des Zuges dient nur dazu auf den Feldern Melancholie zu verbreiten. – Wie reagieren wir? Wir lächeln zustimmend, sind ›amüsiert‹, verstehen, was der Autor humorvoll (nicht humoristisch) ausdrücken wollte. Und das, weil wir Erinnerung besitzen an Pfeifen des Zuges, Felder und Melancholie. Der Aufbau des Satzes ist grammatisch und logisch vollkommen korrekt, klingt vertraut. Was verblüfft, ist das Neuartige (schon sind wir im Begriff das ›Phantasievolle‹ zu sagen), das Unerwartete, Überraschende der Wortverknüpfung und damit die Aussage des Satzes. Offenbar handelt es sich um Poesie.

Strickende Frauen im Bus

Der zitierte Satz ist ein Beispiel für die literarische Kleinform, die ihr Erfinder, der spanische Dichter Ramón Gómez de la Serna (1888–1963) GREGUERÌAS – Kauderwelsch – genannt hat. Die erste Sammlung von Greguerías erschien 1917, weitere Ausgaben folgten, bis zur letzten im Jahre 1962, die 13 000 Einträge enthält. Die formalen Merkmale der Greguería sind Prosaform, extreme Kürze, kontextuelle Unabhängigkeit sowie nichtdiskursive Aussage. Die beabsichtigte Wirkung einer Greguería besteht in der Vermittlung einer neuen, überraschenden Perspektive mit oft humorvoller Pointierung. Die Greguería changiert zwischen Aphorismus und Lyrik. Die Kurzformel, die Gómez de la Serna selbst zur Charakterisierung seiner Erfindung gewählt hat, lautet: Greguería = Humor + Metapher. – Man hat festgestellt, daß die Frauen, die im Bus stricken, dessen Geschwindigkeit herabsetzen.

In der Luft

Bisweilen scheinen poetische Entdeckungen gleichsam in der Luft zu liegen und kommen dann auf raum-zeitlich getrennten Schreibtischen nieder. In einer Greguería von Gómez de la Serna heißt es: Unser Schatten ist der Geigenkasten unserer Figur. Tomas Tranströmer schreibt im Gedicht April und Schweigen : In meinem Schatten werde ich getragen / wie eine Geige / in ihrem schwarzen Kasten. Aber nicht immer läßt sich die Wirkung einer Greguería oder einer Gedichtstrophe in einfacher Weise auf ihre Bestandteile und deren Verknüpfung zurückführen, sozusagen analytisch herleiten, meist auf Basis von Analogien. Den Sachverhalt hat Gerhard Falkner in sehr klarer Weise beschrieben: Es gibt Gedichte, die man erst begreift, wenn man sie nicht ganz versteht. Das Begreifen greift weiter, denn das Verstehen endet immer beim Verständlichen, nicht aber die Poesie. Jedenfalls nicht notwendigerweise. Restzweifel bleiben: Was liegt da vor, sagen wir: neurophysiologisch, wenn wir Textzeilen begreifen, ohne sie zu verstehen, ein Bild oder einen Sinn im Text sehen, aber weder uns noch anderen erklären können, wie Bild oder Sinn zustande kommen? Ist das ein C.-G.-Jung-Phänomen, basierend auf Archetypen? Oder eine bizarre Form von Selbsttäuschung? Vielleicht weil wir mittlerweile hoffnungslos Gläubige des ›Erweiterten Kunstbegriffs‹ sind? – Ein weites Feld.

Stimulanzien

Greguerías wachsen im Reich der Lyrik, und so ist es nicht überraschend, daß man häufig auf Gedichte stößt, die wie nahe Verwandte von Greguerías wirken. Im zuletzt erschienenen Heft der Literaturzeitschrift Ort der Augen (1/2012) steht ein Gedicht von Walle Sayer, das als Beispiel dienen soll:

Stimulanzien

Ein Fenster, das unsignierte Jahreszeiten rahmt.
Die tote Maus, die morgens vor der Haustür liegt.
Abgestandenes Gesöff aus Wahlbier, Messwein, Siegersekt.
Der Kinderblick, der Zirkuswägen nachsah.
In eine unreife Mostbirne beißen.

Wunderbar und faszinierend. Für jeden Leser? Das führt zu einer grundsätzlichen Frage:

Setzt das ›Funktionieren‹ von Greguerías (und generell von Poesie) einen bestimmten, ›geeigneten‹ Rezipiententyp voraus? Oder haben Greguerías die gleiche, erwartete Wirkung auf jeden Leser? Oder anders: Wie viele freiwillige Leser für Greguerías wird es heute in Deutschland geben? Von dem Physiker Paul Dirac stammt die Bemerkung: In der Physik versuchen wir, etwas, das vorher niemand gewußt hat, mit Zeichen zu sagen, die jeder versteht. In der Dichtung ist es genau umgekehrt. Viele – auch Nicht-Naturwissenschaftler – werden ihm wohl zustimmen.

 

 

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Das „Hungertuch“ von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

Weiterführend →

KUNO hat seit 2009 unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den Schlußpunkt.

Die in diesem Beitrag zitierten Beispiele für Greguerías in der Übersetzung von Rudolf Wittkopf stammen aus der zweisprachigen als Straelener Manuskript 4 erschienenen Publikation Ramón Gómez de la Serna, Greguerías – Die poetische Ader der Dinge, (Straelener Manuskripte Verlag, Straelen 1986). Die Sammlung enthält 458 Greguerías aus der Gesamtausgabe Total de Greguerías, Madrid (Aguilar) 1962.