Twitteratur

Zum Welttag der Poesie präsentiert KUNO eine neue Form für ein Erzählen in Zeiten flüchtiger Kommunikation.

Am 21. März 2006 verschickte Jack Dorsey den erste „Tweet“ mit dem Inhalt „just setting up my twttr.“. Drei Jahre später erscheint die Textsammlung: Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin, das in diesem Jahr erschienen ist. Die Sammlung enthält Palimpseste einiger Werke der Weltliteratur in netzaffiner Jugendsprache.

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

Roland Barthes

Johann Wolfgang Goethe hat erklärt (und Generationen von Germanisten sind ihm willfährig darin gefolgt), dass es „nur drei echte Naturformen der Poesie“ gebe, nämlich „Epos, Lyrik und Drama“ (WA I/7, S. 118). KUNO hat Interesse am Mikroskopischen, am Outrierten, am Abseitigen. Technische Neuerungen sind eine Chance für überholte literarische Formen. Bisher bilden die Mikrolithen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Bedeutet die Feststellung Existenzminimum, daß man seine Existenzberechtigung verloren hat, sobald man darunter liegt?

Twitteratur ist die Folge eines martialischen Aktes, sie verbleibt aber bei allem emanzipatorischen Furor auch ein Bekenntnis zur Abhängigkeit vom Vorbild des Dichters, dessen Schöpfungen intertextuell weitergeführt werden. Die Produktion von Ambiguität – was Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen. Die retardierende Unterbrechung, führt zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, daß erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Hypertext bietet eine Erweiterung:

Online-Sein heißt Verflüchti­gung, und im Glauben, alles zu erfassen, kann selbst der interessierte Leser doch nur seine Ohnmacht ange­sichts der Zeichenschwemme einge­stehen. Der se­man­tisch entris­sene Text tritt als Fließtext in Kon­kurrenz zu anderen Texten und Bildern, die immer auch auf den eigent­lichen Text als Diskurs­produkt zurückwirken. Auch die Text­intention ändert sich durch die mediale Verschiebung, sodaß die Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit wird. Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird.

Die Aufgabe von Twitteratur:

• hat Haltung und kann auf die Frage „Wozu“ in einem Satz antworten.

• ist die Haltung der digitalen Naissance

• versteht digitale Technologie als künstlerische Möglichkeit

• versteht sich als Teil der Netzgesellschaft

• ist wagemutig, neugierig, provozierend

• versichert sich reflektierend der Themen der Gesellschaft

• ist vielformatig und lässt sich von neuen Formen inspirieren

• kann Komplexes komplex erzählen

• verwandelt sich vom Industrieliteratur zur fluiden Poesie

• ist kollaborativ und kooperativ, bindet jeden Mitarbeiter künstlerisch ein

• vernetzt sich mit der Welt und ist Zentrum eines künstlerischen Netzwerks

• macht die Organisation des Online-Archivs zu einem künstlerischen Gebilde

Die Kulturnotizen verstehen sich als Ort der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. In dem die Themen behandelt werden, die die Menschen und die Gesellschaft bewegen und zwar mit maximaler formaler Freiheit. Die Themen, die die Menschen zum Lesen bewegen. In der Semantik des paradoxen Humors lehnt sich KUNO gegen die Zumutungen des Daseins auf. Twitteratur ist im Fluß, hier die Hochkultur, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – dies ist kein Gegensatz, sondern der Beweis für das Langlebige und Überzeitliche der Poesie.

 

 

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Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin, Penguin Books 2009

Weiterführend →

Ein einführender Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. KUNO hat Autoren zu einem Exkurs zur Twitteratur gebeten, ihre Antworten sind so vielfältig, wie ihre Arbeiten. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den Schlußpunkt.