Kategorie: Allgemein

Die Laubenpieperin

  Sie trägt die Bürde ihrer Jahre in einer Schürze aus Radieschen: grün ist der Saum, rot-schwarz die Frucht, die ihr der Laubenpieper übern Maschendraht hinweg am späten Abend reicht. Die Wurzeln ranken sich um ihre Hände, die erdig, rauchgeschwängert…

Wut

  Wütend geworden, weil er, den ich nicht kenne, dennoch bald beurteile (beurteilen muss, da ich doch ständig Orientierungspunkte brauche), weil er ihr nämlich auf offener Strasse ins Gesicht fährt. Er tut dies vermeintlich zärtlich. Das vermeintlich Zärtliche aber (und…

BOGENLAMPE

  Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.     *** Die Einbahnstraße ist eine entscheidende Gelenkstelle in Benjamins Gesamtwerk, in der Überlegungen des Frühwerks transformiert werden, um sie dann in späteren Arbeiten weiterzuführen. Dies veranschaulicht…

Eins vierundzwanzig

  Die wahren Wettrennen sind die gegen den inneren Schweinehund. Trotz des lausigen Wetters hatte sich Herr Nipp früh morgens zurechtgemacht, hatte die halbhohen Wanderschuhe angezogen und den leichten Rucksack gepackt. Ein Flasche Mineralwasser sollte reichen, man konnte ja problemlos…

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    Und was ist des Strebens wert, wenn es die Liebe nicht ist!       *** Heinrich von Kleist stand als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit […] jenseits der etablierten Lager“ und der Literaturepochen der Weimarer Klassik…

LICHTSPIELE

  Es kann an einem Kuss liegen. Oder an einem nicht gegebenen Kuss. Schwierig zu sagen. Das Leben ist unregelmäßig und unvorhersehbar. Wie eine gepanzerte Faust mit sentimentalen Anwandlungen. Eine Tüte Eis mit den Sorten Schokolade und Grapefruit. Der Anschein…

Zivilcourage

  Wo die Zivilcourage keine Heimstatt hat, reicht die Freiheit nicht weit.       Am 8. Oktober 1992 starb der große Staatsmann Willy Brandt in Unkel am Rhein. Der Friedensnobelpreisträger hinterlies einige geflügelte Worte, die man heute als Twitteratur…

Ein Drama von Poe entdeckt

  Vor wenigen Monaten hat sich in der Bibliothek Pierpont Morgan ein unbekanntes Manuskript von Poe gefunden. Es ist das Jugenddrama Politian, das damit im Entwürfe, über den es nie hinausgedeihen sollte, vorliegt. Von zwölf ausgeführten Szenen ist nur die…

Symbiose

  Wenn sich Arroganz und Hybris paaren, kommt gern ein Deutscher dabei heraus.     *** Von Herrn Nipp waren auf KUNO zwischen 1989 und 1994 Aperçus, Bonmots, und Sentenzen zu lesen. Eine Vorform der Twitteratur. Prägend für diesen Begriff…

Eine Erinnerung an Gottfried W. Stix

  Der jetzt älteste Schriftsteller, den ich kennengelernt habe, ist der Friedl Stix. Mit ihm habe ich gestern telefoniert. Der wird – „so Gott will“, hat er gesagt – im April dieses Jahres 98 Jahre alt, also fast ein Jahrhundert.…

Die Kiste X

  Auf den Küchentisch liegen ein dickes Brett mit Marzipanstollen, stehen einige Gläser, die schon gebraucht sind und eigentlich gespült werden müssten, ein Messer und ein alter, schöner Füller mit Goldfeder sind fernerhin zu finden. Er freut sich jedes Mal,…

countdown

  sonett in dem es nicht regnetsonett aus dem es nicht schneitsonett in dem niemand begegnetder swonnigen wirklichkeit sonett ohne blick in die fernesonett taublind ohne licht(verse – verfaßte euch gerneals gutegeistergedicht) sonett ohne beben und schwebenkein kanariengrüner reflexnein –…

POLIKLINIK

  Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas – die Linse, unter der er den Patienten vornimmt – nicht vor ihm steht. Dann packt er sein…

Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften

Parteigenossen und Parteigenossinnen! Werte Anwesende! Ich muß gestehen, daß ich nicht minder wie Sie überrascht war, als ich hier in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Metallarbeiterverbandes mehrere uniformierte Vertreter unserer Obrigkeit auf Erden erblickt habe. Ich habe erfahren, daß außer den…

Lautlos

  Einmal trafen sich im gedämpften Raum die Stille und das Schweigen. Schön waren die beiden anzuschauen, wie sie klein und bescheiden nebeneinander kauerten, aus ihren großen Äuglein schwiegen und unmerklich doch friedlich ein- und ausatmeten. Die Stille war still…

KURZWAREN

  Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen. Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals ihre Legitimierung. Der Ernährer aller Menschen ist Gott und der Staat ihr…

Automatisches Schreiben

  Reiner psychologischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf irgendeine andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder moralischen Bedenken. André Breton     Ausgehend…

Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen

  Ich habe manchmal darüber nachgedacht, wenn ich Frau Claudia nach Jahren in dieser oder jener Weltstadt wiedersah, womit sich ihre Augen vergleichen ließen. Es machte mich oft in ihrer Nähe unruhig, daß ich keinen Maßstab für ihre Augen fand,…

Portbou 1940

    Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Holger Benkel mit einer Einführung.

Lichtspielhaus

  Die Kassiererin liest einen Arztroman. Ihre Seele mag Ursprung äusserer Regungen sein, doch gleichzeitig wirkt eine Bewegung nach innen, in die Tiefe ihrer Empfindung. Sie weiss nicht, ob ihr Körper das Gefängnis ihrer Seele ist oder die Seele eine…

Die Kiste IX

  So konnte es wohl gehen. Er hatte die Texte im Netz gefunden, beim Stöbern, wie immer ohne Ziel. Ein Wort hatte das nächste nach sich gezogen. Ganz nach dem Motto, wie viele Handdrücke bist du von einer bestimmten Person…

Als ich mir die Aufgabe stellte

  Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, ans Licht zu bringen, […] hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Sigmund Freud       Wer von der Moderne spreche, so der deutsche…

KRIEGERDENKMAL

  KARL KRAUS. Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner. Kein Name, der geziemender durch Schweigen geehrt würde. In einer uralten Rüstung, ingrimmig grinsend, ein chinesisches Idol, in beiden Händen die gezückten Schwerter schwingend, tanzt er den…

Tragische Ironie

  Nichts lässt mich jetzt, im vierten Akt meines Lebens, mehr erstaunen als der Prozess, in dem (meine) Ideen Wirklichkeit werden: die retardierenden Momente …       Weiterführend → Das erste Fazit von Ulrich Bergmann zur Twitteratur sieht eher…

Belletristische Werke

  Belletristische Werke existieren nur in der Reklame, die für sie gemacht wird, gelesen werden sie vermutlich nur von konzilianten Rezensenten und honorierten Wohltätern. Nach Jahren, wenn alles gut geht, treten die Dechiffriersyndikate der Germanisten auf den Plan und reden…

leute

  halten auch in dürenheute und in letzten tagenmorsche türen leere fenster sehr geschlossennoch wird · nicht einmal ·mit pfeffer · geschossen jedenfalls nicht hierdraußen im revier bei schneefall treiben wirzwischen eggen forken walzenliegt ein hase mit der nase fett…

Familienbande

  Theobald Ulbricht verlässt die Haftanstalt. Sieht sich nicht um. Achtet nicht auf den Gruss. Die gusseiserne Tür schlägt hinter ihm zu. Er ist resozialisiert. Fühlt sich frei. Geht ein paar federnde Schritte. Bleibt auf dem Bürgersteig stehen. Setzt den…

Kein Unsinn – denken möglich

Oder warum es nie gelang nicht unlogisch zu denken I. „Was willst du?“, rief sie mir im Vorbeigehen zu. Ich wusste es nicht, wusste nur, dass in Folge jegliche Ich-Perspektive aus der, besser meiner Literatur gestrichen werden müsste, gestrichen werden…

SPANNEN

    *** Weiterführend → Mehr über die Hungertuchpreisträgerin Katja Butt.

„AUGIAS“ AUTOMATISCHES RESTAURANT

  Dies ist der stärkste Einwand gegen die Lebeweise des Hagestolz: er nimmt einsam sein Essen. Einsam zu speisen macht leicht hart und roh. Wer es gewohnt ist, muß spartanisch leben, um nicht zu verkommen. Einsiedler haben, sei’s nur darum,…

things change

  t (stolpern zum ich) den sand hab ich in kleinen gläsern verwahrt. bald werde ich sie zu meiner sammlung stellen. sand hat alle farben . weiß wie schnee. rot wie blut. schwarz wie ebenholz. eine schneewittchensammlung. ich komme nach…

Sofa

  Auf dem Sofa ist es wirklich bequem, ja, das kann er nicht verleugnen – Aber den gesamten Tag auf dem Sofa zu verbringen, kann er sich normalerweise nicht vorstellen – Abgesehen davon, dass es wirklich langweilig ist, verlässt ihn…

Lyrikgetwitter

  In unmittelbarer Folge lese ich innerhalb weniger Tage im September in einem weiteren Anfall berauschten Wahnsinns die frisch ins Haus gefallenen Sammelbände Versnetze_drei (die bislang abge­run­detste, frischeste, voll­mundigste unter den Versnetze-Antho­logien, über die Sie hier mehr er­fahren: Versnetze über…

Rückblick auf Chaplin

  Der »Zirkus« ist das erste Alterswerk der Filmkunst. Charlie ist älter ge­worden seit seinem letzten Film. Aber er spielt sich auch so. Und das Ergrei­fendste an diesem neuen Film ist, zu fühlen, daß Chaplin den Kreis seiner Wirkungsmöglichkeiten nun…

Frost

  Es ist kein Lager so hart, kein Frost so scharf, keine Not so bitter wie die Schande.       *** Für Theodor W. Adorno war Eichendorff „kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs im Sinne des Novalis, dem…

Unter Kanonverdacht

Um mit Gespenstern umzugehen, muss man sie ködern mit Fleisch der Gegenwart. Ruth Klüger Literatur ist in erster Linie frei, bestenfalls ist sie an ästhetische Regelsysteme gebunden, nicht aber an eine ausser­li­te­rarische Realität. Zudem ist es nicht üblich, Verantwortlichkeit für…

Leben in Möglichkeitsfloskeln XXVI

  Man muss die Schwächen umgarnen um das Wort zu umarmen.   Weiterführend → Lesen Sie auch den Nachruf über Peter Meilchens Lebenswerk und den Essay 50 Jahre Krumscheid / Meilchen über die Retrospektive im Kunstverein Linz und den Essay zum Buch…

Eine neue gnostische Liebesdichtung

  Es gibt Bücher, die dem Leser Gewalt antun. Und das sind nicht die sogenannten Tendenzromane, die im ganzen doch nur an denen ihre Wirkung bewähren, die ihnen zu willen sind. Dies neue Buch von Brust aber ließ mich nicht…

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  Zaghaftes Muster Firmament mit Sternen bespickt stickte früher ein Gott diese Löcher in sein Himmelszelt? Alles bloss Märchen! Schreit eine aufkommende Nacht     *** Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie…

Die Angestellten

  Die Zeiten, da es üblich gewesen ist, Untersuchungen »Zur Soziologie …« – der und der Gruppe, dieser und jener Erscheinung – zu überschreiben, werden noch in vieler Erinnerung sein. Damals hätte diese Schrift »Zur Soziologie des Angestellten« geheißen. Vielmehr,…

Waldidylle

Mit den Kindern durch einen sogenannten Wildwald zu gehen, ist abgesehen vom Eintrittspreis ein immer wieder tolles Erlebnis. Man sieht auf einen Schlag all die Wesen des Waldes, die einem sonst nur im Laufe seines gesamten Wandererlebens vor Augen kommen.…

VERGRÖSSERUNGEN

  LESENDES KIND. Aus der Schülerbibliothek bekommt man ein Buch. In den unteren Klassen wird ausgeteilt. Nur hin und wieder wagt man einen Wunsch. Oft sieht man neidisch ersehnte Bücher in andere Hände gelangen. Endlich bekam man das seine. Für…

lagos  altstadt

  für António Lobo Antunes häuserwände mauern blättern ein weltreich ab löchriger mörtel öffnet fragen raum der judaskuss oder anweisungen an die krokodile noch einmal gebietet man uns verwoben im text einblick in die hölle in die leidenschaften der seele…

Angriff

    Tücher Winken Flattern Knattern. Winde klatschen. Dein Lachen weht. Greifen Fassen Balgen Zwingen Kuß Umfangen Sinken Nichts.       *** Am 1. September 1915 ist August Stramm bei Horodec östlich Kobryn, in einem sinnlosen Krieg gestorben. Seine Texte fallen auf durch…

Ein Land, in dem es selbstverständlich ist mit den Mitmenschen Sachen auszutauschen:

  Sie haben aber eine schöne Strickjacke! Darf ich Ihnen hierfür meine Tasche anbieten? Oh, welch wunderbaren Früchte ich in Ihrer Tasche sehe! Ich hätte als Gegenzug dieses Buch, das ich eben gelesen habe und kann es Ihnen wärmstens empfehlen…

Dichtung und Wahrheit

    Nirgends wird das Unglaubliche so rasch zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit so eilig zur üppigen Legende wie dort. Es liegt offenbar in der Natur der Berge, die trockene Wirklichkeit, die einfache Tatsache in ein phantastisches Märchen zu verwandeln,…

Die Kurzsichtige und der Komet

  Es war in einem Winter, als die Astronomen von Europa einen bisher unbekannt gewesenen kleinen Kometen entdeckt hatten, der kurz nach Sonnenuntergang am Abendhimmel mit bloßen Augen zu sehen sein sollte, später in der Nacht aber hinterm Horizont verschwand.…

Verse und Reime machen

  Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist aber…

Der Mensch wird mit allen Mitteln der Technik zerstreut

  Der Mensch wird mit allen Mitteln der Technik zerstreut und sich selbst und seinen Vorlieben entzogen. Eine solche systematische Zerstreuung war in der Weltgeschichte noch nie da. Ernst Jünger     Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur,…

Erwachen

  Wo das Leben beginnt, entscheidet sich am Tag nach dem Suff.     *** Von Herrn Nipp waren auf KUNO zwischen 1989 und 1994 Aperçus, Bonmots, und Sentenzen zu lesen. Eine Vorform der Twitteratur. Prägend für diesen Begriff ist…

Nietzsche und das Archiv seiner Schwester

  Der Baron Friedrich von Schennis, den Else Lasker-Schüler in den »Gesichten« so unvergeßlich beschrieben hat, gab hin und wieder eine Geschichte zum besten, die gewiß nicht als verbürgt gelten darf, aber selbst wenn sie erfunden sein sollte, das Grauen…

Das Buch

  Von allen Werkzeugen, die der Mensch besitzt, ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind nur verlängerte Werkzeuge seines Körpers: Mikroskope, Teleskope sind eine Verlängerung seiner Sicht; das Telefon ist die Verlängerung seiner Stimme; dann gibt es da…

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fremd diese Hände an dir der Leberfleck ein Schmutzrest einer vergangenen Zeit Stichwort Demenz Stichhaltiges Nichts *** Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende…

Ornament ist vergeudete arbeitskraft

  Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit … Heute bedeutet es auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital … Der moderne mensch, der mensch mit den modernen nerven, braucht das ornament nicht, er verabscheut es.     *** Adolf…

Warten

  Die in der Sehnsucht warten, wachsen zu Riesen.       Weiterführend → Die von Farben und Tönen bestimmte ungebundene und rhythmische Lyrik machte Dauthendey zu einem der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus in Deutschland. Seine Werke sind bestimmt von…

Die Kiste VIII

  In diese ernsthaften und schönen Augen hatte er geblickt, hatte sich mal wieder für Momente hoffnungslos verloren, sich in einem Zustand wiedergefunden, der ihm selber unangenehm war. Äußerst unangenehm. Weil er sich so wohl fühlte. Sie waren vor ihm…

Sophisticated

Manchmal erscheinen Bücher mit einem Titel, bei denen man sich wundert, daß es sie noch nicht gibt. Mit ihren »Sexophismen« meldet sich eine kühne Stimme in der deutschsprachigen Lyrik zu Wort. Swantje Lichtensteins Verse sind ausdrucksstark; sie zeichnet mit Metaphern…

Das Dom–Jubiläum

  Seine Stimme ist überzeugend, tief und erfahren, so dass die Jahre von ihm abfallen, wie Firnis von einem alten Bild abblättert. Er hat die chamäleonhafte Begabung, sich immer wieder neu zu erfinden und sich dabei doch treu zu bleiben.…

things change

  h (aufwärts fallen) nach dem tod meines großvaters traf ich laura wieder. an bornholms südspitze nahmen wir weißen sand für unsere uhrgläser und, sagt laura, man könne auch tinte damit löschen. auf der fähre zurück war an schlaf nicht…

breton

„Die vom Gehirn befreite Hand bewegt sich, wohin die Feder sie führt; und sie führt Kraft einer erstaunlichen Behexung die Feder so, dass diese lebendig wird, aber weil die Hand jede Verbindung mit der Logik verloren hat, nimmt sie, auf…

REISEANDENKEN

  ATRANI. Die sacht ansteigende geschweifte Barocktreppe zur Kirche. Das Gitter hinter der Kirche. Die Litaneien der alten Frauen beim Ave Maria: Einschulung in die erste Sterbeklasse. Wenn man sich umwendet, grenzt dann die Kirche wie Gott selber ans Meer.…

Solidarität ist lebensnotwendig

  Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte…

Romane

  Der Roman sollte eine radikale Vergegenwärtigung darstellen.       Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung.

Abend

  Müde webt Stumpfen dämmert Beten lastet Sonne wundet Schmeichelt Du.       *** Am 1. September 1915 ist August Stramm bei Horodec östlich Kobryn, in einem sinnlosen Krieg gestorben. Seine Texte fallen auf durch ihre schlichte, reduzierte Sprache. Oft wird kein Wert…

NR. 13

Treize – j’eus un plaisir cruel de m’arrêter sur ce nombre. Marcel Proust   Le reploiement vierge du livre, encore, prête à un sacrifice dont saigna la tranche rouge des anciens tomes; l’introduction d’une arme, ou coupe-papier, pour établir la…

Der legendäre erste Satz

  Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußlandlagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. DieIsothermen und kodieren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur…

Hinterland

  »Natur ist, wo du ohne dich allein bist« – in dieser Definition steckt nicht nur Polgars ganze Sprachkunst; sie ist der archimedische Punkt, von wo aus er die Welt sieht. »Der archimedische Punkt, von wo aus er die Welt…

gut menschlich

augustsonne versucht haut kontakte locken unter dünne stoffe auf gebleichten morallisten sammeln wieder ihre apostel pluspunkte für gutmenschen büßer reiben ihre glatten blassen gesichter an öffentlichen klagemauern stehen sie nicken und geifern anstand macht ihren wahnsinn zum stolz nicht einmal…

Duett

  Opulenz und Heiterkeit haben in der Rockgeschichte selten jene Lobbyarbeit erfahren, die Askese und Finsternis für sich verbuchen konnten. Doc Hecl beendet seine Karriere, als die Gesellschaft, der er ästhetisch verpflichtet ist, zu Ende geht. Er findet den Mut…

Kunstwerke

  Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache. Theodor W. Adorno   ***…

Mitten im Schlaf

  Mitten im Schlaf fährt man auf, im Traum ist man um Jahre zurückgefallen. Die Betonmischer auf der Baustelle schweigen und tropfen, im Park fallen die Kinder von ihren Spielgeräten. Das Leben ist nur noch eine Frage von Überstunden.  …

Hemmungslose Hemmung

  Während unten die mehr oder minder begabten – meist eher minder – Musiker proben und vor allem die unglaublich versehentlich schiefen, nicht zu verwechseln mit gewollt schiefen der Könner, Töne sich den Weg durch meterdicke Mauern bahnen, die unrhythmischen…

Krisis des Romans

  Das Dasein ist im Sinne der Epik ein Meer. Es gibt nichts Epischeres als das Meer. Man kann sich natürlich zum Meer sehr verschieden verhalten. Zum Beispiel an den Strand legen, der Brandung zuhören und die Muscheln, die sie…

Frei

  Ich war mein Leben lang ‚freier‘ (das heisst auch: schlecht bezahlter) Schriftsteller, ‚freier‘ (das heisst: parteiloser) Bürger, ‚freier‘ Denker (das heisst auch: nie Freidenker): ein Mensch also, der immer so frei war, sich ohne Gewissensbisse zu widersprechen, von keiner…

Elberfeld im Wuppertal

Vorbemerkung der Redaktion. Am 01.08.1929 ist die Stadtgründung von Wuppertal im Rahmen des Gesetzes über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets erfolgt. Zu dieser Zeit wohnte die Elfenfelderin Else Lasker-Schüler bereits in Berlin.   Wir wohnten am Fuße des Hügels. Steilauf…

Raoul Richter

  Zu Ende Juli abends gewahrte ich in der Andrianschen Villa, die sonst verschlossen war, ein offenes Fenster und sah einen jungen Mann sitzen, der, sich selber am Klavier begleitend, ohne Noten leidenschaftlich in die Dämmerung hineinsang. Ich erkannte ihn…

Dentist

  Mittlerweile gibt es beim Zahnarzt gut gepolsterte Stühle, Hintergrund- oder Kopfhörermusik als Versuch gegen den unsäglichen Lärm in deinem Kopf. Es gibt auch eine Hand, die den Phobiepatienten hält, doch was noch fehlt in dieser modernisierten Professionalität, ist eine…

Briefe aus Paris

    Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum.     *** Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.  

HALTEPLATZ FÜR NICHT MEHR ALS 3 DROSCHKEN

  Ich stand an einer Stelle zehn Minuten und wartete auf einen Omnibus. „L’Intran … Paris-Soir … La Liberté“ rief hinter mir ununterbrochen mit unverändertem Tonfall eine Zeitungsfrau. „L’Intran … Paris-Soir … La Liberté“ –– eine Zuchthauszelle von dreieckigem Grundriß.…

Narzisstische Fallen

  Das Sonett hat zerebrale Gefahren, öffnet narzisstische Fallen, ist also eine Art didaktisches Extremum.     *** Weiterführend → Das erste Fazit von Ulrich Bergmann zur Twitteratur viel eher skeptisch aus. Er stellte KUNO seine Hypochondrische Aphorismen zur Verfügung. Zur weiteren…

Klaustrophobie

  Schwarzer Rauch. Die Leiche des Wirtschaftsbosses liegt auf der Strasse. Eine Störung unterbricht den gewohnten Ablauf. Ein Hinweisschild verschafft dem Erklärungsnotstand eine Atempause… schon läuft der Kontext: Die empörte Politikerin lehnt sich weit aus dem Fernseher. Ist sich ihrer…

Häcksel und die Bergwerkflöhe

  Häcksel war der Sohn des Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Finsterer war der Sohn des Labemann, und der war Bergmann im Annaschacht gewesen. Und Labemann war der Sohn des Flegels, und Flegel war Bergmann im…

Die Kiste VII

  Wieder und wieder hatte er die letzten Tage versucht, blind einen Zettel herauszufischen, immer wieder waren ihm die kleinen Textschnipsel entwischt, als wären sie kleine Fische im Aquarium, die nicht gefangen werden wollen. Aufzuchtstation. Herr Nipp hatte schon seit…

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wenn ein Mund dich ansieht bitteres Land Krieg Ukraine und nicht weit von hier wo ist noch wohnen *** Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch…

Oskar Maria Graf als Erzähler

  Vor zwei Jahren hat Oskar Maria Graf seine schönen Kalenderge­schichten erscheinen lassen. »Geschichten vom Land« hieß der eine, »Geschichten aus der Stadt« der andere Band, und man hat zu dieser Einteilung richtig bemerkt, daß sie seinen eigenen Werdenszwiespalt dokumentiert, »den…

Moral

  Es gibt nichts Gutes ausser: Man tut es.           Hans Fallada gelang es, das alte deutsche Sinngedicht wiederzubeleben und zumindest einige vollendete Epigramme zu schaffen, wie etwa dieses. Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung…

Die Geschichte

  Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht beweisen ließe. Paul Valéry       Zu Lebzeiten galt Paul Valéry als größter französischer Lyriker seiner Zeit. Sein…

Mitteilung

  Eine Locke eröffnete eine schmucke Boutique. Mode für alle. Mode für sie und für ihn. Zur Einweihung lockte ein Ausverkauf. Ein Meer geblümter Muster, der Meter Stoff für neunzig Cents. Die Weiber angelockt den Köder schluckten flink. Der Wissenschaftler…

Erinnerung an Christa Päffgen

  Die Hölle sieht aus wie eine zerstörte Stadt. Und sie ist wunderschön anzusehen. Nico   Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.