Vorsprung durch Technik

Sprengt die Digitalisierung womöglich den Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen?

Das Verb digitize taucht im englischen Sprachraum 1953 erstmals auf, weitereintwickelt in digitization im Jahr 1954. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre wird der daraus abgeleitete Begriff der Digitalisierung in Deutschland verwendet. Die Digitalisierung verändert die Lebensweise in einem Ausmaß und mit einer unumkehrbaren Radikalität, die wahrscheinlich mit der industriellen Revolution vergleichbar ist. Angesichts der in kürzester Zeit vollzogenen und sich bereits abzeichnenden technischen Entwicklungen, übertreffen die zu erwartenden und tief in unser Handeln, unser Leben, ja in unser Selbstverständnis eingreifenden technischen Veränderungen alles bisher Gekannte. Glaubwürdige Digitalisierungskritik muss präzise sein, forderte unlängst Joachim Paul. Zu den Forschungsschwerpunkten des Herausgebers Heinz-Josef Bontrup gehört die Arbeitsökonomie. Außerdem ist er Sprecher der bereits 1975 gegründeten Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, der es um die Entwicklung wirtschaftspolitischer Vorschläge und Perspektiven geht, „die sich an der Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, der Verbesserung des Lebensstandards und dem Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit für die Arbeitnehmer sowie wirksamer Umweltsicherung in der Bundesrepublik orientieren“.

Würde das bedeuten, dass der Kapitalismus, analog zu Karl Marx, an seine Grenze stößt?

Der Herausgeber von Digitalisierung und Technik setzten den Schwerpunkt anders. Viele Menschen haben Angst. Im Fokus stehen Arbeitsplätze, aber auch Datenkontrolle, zukünftiger Rohstoffverbrauch sowie der Energiezuwachs für die digitale Nutzung. Namhafte Soziologen, Ökonomen, Informatiker, Ingenieure und Naturwissenschaftler entwickeln spezifische Perspektiven einer in jedem Fall auf uns zukommenden Technikentwicklung. Im Zentrum des Buches steht deshalb die Fragestellung, was an der Digitalisierung von Produktions- und Konsumprozessen neuartig ist im Vergleich zur klassischen Produktivkraftentwicklung, die mit der Dampfmaschine ihren Anfang nahm. Über Digitalisierung nachzudenken, gibt es viele Gründe. In Zeiten des Homeoffice zumal, in denen ein anschwellendes Gerede zu vernehmen ist über die Krise und den Bedeutungsverlust des Westens, der transatlantischen Beziehungen und multilateralen Regelwerke, der demokratischen Ordnungen und Regularien. Über Jahrzehnte hinweg gehörte die Synchronisierung von Marktwirtschaft und Digitalisierung zu den unzweifelhaften Glaubenssätzen, bis sich nicht mehr leugnen liess, daß auch repressive Diktaturen, die sich keinen Deut um individuelle Freiheiten und Menschenrechte scheren, sich ökonomischer Prosperität erfreuen und technologische Innovationsdynamik entwickeln.

Oder ist Digitalisierung nur eine weitere Etappe zur Stärkung der widersprüchlichen Ordnung, die im Wesentlichen den Kapitaleignern dient?

Das sind interessante Fragestellungen, die durch die Beiträge von Gustav Bergmann, Peter Brödner, Florian Butollo, Alex Demirović, Rainer Fischbach, Joachim Paul und Rudi Schmiede in diesem Buch aufgefächert werden. Das Internet ist als das partizipativste Medium der Menschheitsgeschichte gestartet, nun beeinflussen russische Botfabriken die US–Wahlen beeinflussen, oder Autokraten festigen ihre Macht mit digitalen Überwachungstechnologien. Beleuchtet wird die dunkle Seite des Internets, das nicht nur das Potential zur aufklärerischen Herrschaft der Freien und Gleichen in sich trägt, sondern auch die Möglichkeit von Demagogie, Populismus und der Tyrannei der Mehrheit. Die Herausgeber und Autoren von Digitalisierung und Technik erläutern Genealogie, Gefährdungen und Potentiale der Digitalisierung, in einer Zeit, in der der Gleichheits- und Erlösungsfuror des Internets ausgeträumt ist.

 

 ***

Digitalisierung und Technik – Fortschritt oder Fluch? Perspektiven der Produktivkraftentwicklung im modernen Kapitalismus. Heinz-J. Bontrup / Jürgen Daub (Hg.) Paperback, 321 Seiten. PapyRossa Verlag, 2020

Weiterführend →

Lesen Sie auch einen Zwischenruf aus dem Maschinenkeller der Digitalisierung von Joachim Paul. A.J. Weigonis Cyberspasz, a real virtuality spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht Weigoni in diesen Novellen die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.