Nachtragsliste zur Einbahnstraße

Die Technik der ‚Einbahnstraße‘ ist der des Spielers verwandt. Nicht zuletzt darin liegt das Schockierende des Buches.

Theodor W. Adorno

 

In diesem Jahr erinnern wir an die philosophisch-literarischen Schriften des Walter Benjamin. Besonders beeindruckt hat die Redaktion nach der Re:Lektüre die Einbahnstraße, eine Sammlung kurzer Texte, die nur rund 80 Druckseiten umfaßt und wegen ihrer vielen aphoristischen Formulierungen bekannt ist, für KUNO ist dies ein Vorläufer der neuen Literaturrichtung Twitteratur.

Voranschreiten ohne Geländer – losgelöst von Überlieferungen, Normen oder starren Systemen.

Amir Eshel

Einbahnstraße ist vor allem wegen seiner ungewöhnlichen Form bemerkenswert: Das Buch enthält über 100 kurze, mitunter fragmentarisch anmutende literarische Miniaturen, die scheinbar unzusammenhängend aufeinanderfolgen. Darunter befinden sich Traumprotokolle und Erinnerungen, Sentenzen und Apercus, Thesen, Reisebeschreibungen, Porträts, Stillleben und Skizzen. Einige Texte ähneln auch Tagebucheinträgen. Die einzelnen Beiträge lassen sich kaum unter einer literarischen Gattung zusammenfassen, wegen ihrer vielen prägnanten Formulierungen („Gaben müssen den Beschenkten so tief betreffen, dass er erschrickt“) wurde Einbahnstraße aber häufig der Aphoristik zugeordnet. Benjamin selbst prägte später den Begriff „Denkbilder“ für seine Form der literarisch-philosophischen Miniatur, in einem Beitrag in Kindlers Literatur Lexikon wurde Benjamins literarisches Verfahren darüber hinaus als allegorisierend gedeutet.

Gegliedert ist Einbahnstraße durch zahlreiche Zwischen- und Unterüberschriften, die teilweise die Sprache zeitgenössischer Flugblätter, Plakate oder Schilder aufnehmen („Diese Anpflanzungen sind dem Schutze des Publikums empfohlen“, „Achtung Stufen!“), Waren („Handschuhe“, „Normaluhr“) oder Orte des zeitgenössischen Großstadtlebens („Tankstelle“, „Frühstücksstube“, „Tiefbauarbeiten“, „Coiffeur für penible Damen“, „Briefmarkenhandlung“) bezeichnen. Die Zwischentitel stehen oft in einem – mitunter etwas rätselhaften – Spannungsverhältnis zu den Textabschnitten, die ihnen folgen. Einigen Absätzen sind Mottos bzw. Zitate anderer Autoren vorangestellt.

Eine klare Ordnung in der Abfolge der einzelnen Beiträge ist nicht erkennbar. Kindlers Neues Literaturlexikon sieht in der äußeren Form von Einbahnstraße deshalb Ähnlichkeiten zum Traktat, in der zeitgenössischen Rezeption wurde darüber hinaus die Verwandtschaft mit surrealistischen Montageverfahren bemerkt. Die Typographie und Gestaltung der ersten Ausgabe von Einbahnstraße lässt deutliche Einflüsse von Bauhaus und Konstruktivismus erkennen, die in der Zeit der Weimarer Republik als moderne Stilrichtungen galten.

Zu den Themen, die in Einbahnstraße behandelt werden, gehören das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die Folgen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, Kindheits-Erinnerungen, die deutsche Inflation und deren Folgen sowie die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Zu den bekanntesten Abschnitten von Einbahnstraße gehören Beitrage zu Literaturkritik, Poetik und der Rolle des Schriftstellers wie „Die Technik des Schriftstellers in 13 Thesen„, „Die Technik des Kritikers in 13 Thesen“ sowie das humoristische Listicle „Nr. 13„, das Bücher mit Prostituierten vergleicht.

Die erste Ausgabe von Einbahnstraße erschien 1928 nicht als Buch, sondern als Broschüre mit einem Umschlag, den der russische Fotograf Sasha Stone gestaltet hatte.

 

 

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Die Einbahnstraße ist eine entscheidende Gelenkstelle in Benjamins Gesamtwerk, in der Überlegungen des Frühwerks transformiert werden, um sie dann in späteren Arbeiten weiterzuführen. Dies veranschaulicht insbesondere die 43 Texte umfassende »Nachtragsliste zur Einbahnstraße«, die Benjamin Anfang bis Mitte der dreißiger Jahre zusammenstellte. Sie wird, neben dem Erstdruck und allen handschriftlichen Vorstufen sowie zeitgenössischen Rezensionen, in der neuen Edition erstmals als Einheit zu lesen sein. Der Kommentar und das Nachwort des Herausgebers machen zudem die Verbindung der einzelnen Texte mit dem Gesamtwerk Benjamins sichtbar und zeigen, inwiefern die Einbahnstraße die Tradition der europäischen Aphoristik aufgenommen und zugleich erneuert hat.

Weiterführend → Zu Beginn des Essayjahres machte sich Holger Benkel gedanken über das denken.

In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.

→ Gleichfalls in 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.