Eine Rückschau auf das Hölderlinjahr

Monotheismus der Vernunft, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst.

Über das Verhältnis von Poesie und Geld vor dem Hintergrund der Lebensumstände, denen Friedrich Hölderlin zwischen 1795 und 1798 in Frankfurt am Main ausgesetzt war, ist bislang nur wenig publiziert worden. Umso notwendiger sei es deshalb, sagt der Autor der biografischen Erzählung, endlich einmal über das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Banker aus unterschiedlichen Perspektiven zu fabulieren. Vorausgesetzt, es gibt ausreichende Quellen, um über die drei Jahre währenden Begegnungen zwischen dem Hauslehrer Hölderlin und Jacob Gontard, einem angesehenen Geschäftsmann mit französischen Vorfahren, dessen Ehefrau Susette und deren Sohn Henry ausgiebig erzählen zu können. Reichen denn die Belege über die Darlegung eines geschäftlichen Verhältnisses zwischen Protagonisten, deren Berufe sich so fundamental unterscheiden? Mit gewissen Bedenken, würde da wohl ein professioneller Biograf sagen, obwohl es ja einen gut recherchierten Briefwechsel zwischen Hölderlin und seinem Bruder, der Mutter und seinen Freunden gäbe. Nicht zu vergessen die 17 Liebesbriefe, die Susette „ihrem“ Friedrich nach dessen unfreiwilligen Rückzug aus dem Hause des Bankiers geschickt hat. Und wie löst der Autor nun diese Aufgabe? Er will eine alternative biografische Methodik umsetzen, denn „wer alles ausschließlich und streng auf belegbare Fakten herunterbrechen möchte, handelt legitim, ist aber nicht der Leser, der sich von diesem Buch größten Gewinn versprechen sollte.“ (S. 9)

Ein gewagtes Unternehmen also, wenn es nicht die strenge, biografisch aufgelistete Aufteilung des Erzählstoffes in sieben Kapiteln mit sorgfältig nach Jahren und Monaten aufgeschlüsselten Zeitangaben gäbe. Außerdem  ein ausführliches Nachwort, eine kommentierte Auswahlbibliografie und eine Fülle von Anmerkungen. Zudem sind die einzelnen Kapitel mit Zwischenüberschriften versehen, die auf Namen, Orte, Stimmungen, Zeitungsausschnitte, gesellschaftliche Ereignisse, Titel von Gedichten verweisen. Ein wohldosierter Lesestoff also, den ein Wir-Erzähler mithilfe von biografisch verbürgten Ereignissen, hypothetischen Vermutungen, dokumentarisch belegten Aussagen und erfundenen Dialogen vor uns ausbreitet. Besonders reizvoll erweist sich dabei der Wechsel der Zeitebenen, innerhalb derer der Erzähler zwischen dokumentarisch nachgewiesenen Ereignissen in der historisierten Vergangenheit, den Zwiegesprächen der Protagonisten in einer fingierten Gegenwart und den Vermutungen über „tatsächliche“ Abläufe im Futur pendelt. 

Wie geschickt der kommentierende Erzähler dabei agiert, verdeutlicht die Präsentation des jüdischen Bankiers Mayer Amschel Rothschild, der über die Frankfurter Zeil geht. „Der Mann war bereits weit gekommen, von einem bescheidenen Leben in der Judengasse hatte er es unter Frankfurter Händler und Bankiers gebracht“, sagt der Erzähler und fügt hinzu: „Aber niemand, auch Hölderlin nicht, kam auf die Idee, dass dieser Mayer Amschel Rothschild der Erste einer Dynastie war, die die mächtigste Gelddynastie des kommenden Jahrhunderts werden würde…“ (S. 109). Und während der Erzähler über diesen wagemutigen Mann berichtet, der beim Bankier Gontard in die Lehre gegangen war, bezieht er Hölderlin in seine Überlegungen zum Verhältnis von Poesie und Geld zurück: „Hölderlin hätte beim Anblick Rothschilds spüren können, welche Wagnisse ein Handelsmann und mehr noch ein Bankier eingehen muss. Er hätte sehen können, wie offen das Dach war, unter dem die Bankiers ihre Geschäfte trieben, wie schutzlos sie dem Geschick ausgeliefert waren, …“ Doch der ahnungslose Dichter Hölderlin spürte es nicht. Stattdessen schreibt er an dem Gedicht „Palingenesie“ und der Erzähler kommentiert es: „das ist in der stoischen Kosmologie die Wiederherstellung der Welt nach der Apokalypse.“ (S. 112)

Und das Verhältnis Hölderlins zu seinem Brotherren, dem Banker Gontard? Er habe die glücklichste Zeit seines Lebens in Frankfurt verbracht, ist auf der Rückseite des liebevoll gestalteten Hard-Cover-Einbandes zu lesen. Ist das eine stimmige Aussage oder nur eine geschickte Werbung? Der im Frühjahr 1797 urplötzlich ausbrechende Streit zwischen Gontard, Susette und dem Dichter verweist indes auf eine anwachsende Spannung zwischen den Akteuren. Über deren Ursachen äußert sich der Autor unter Bezugnahme auf unterschiedliche Quellen. Im Unterkapitel ‚Glück’ (vgl. S. 154f.) listet er sie auf: Marie Rötzer, langjährige Hausangestellte, zu der Hölderlin eine tiefe Zuneigung empfand, verläßt die Gontards, um zu heiraten. Friedrichs gequält-intimes Verhältnis zu Madame Susette löst in ihm Mattigkeit und Mutlosigkeit aus, gleichzeitig wächst seine Zuneigung zu ihr. Der ganz von seinem Banker-Metier eingenommene Gontard spürt etwas, was er noch nicht artikulieren kann. Das heißt: Geld und Poesie, die keinen Draht zueinander gefunden haben, lösen einen Streit aus, der aus Mangel an authentischen Quellen, eine kommentierende und zugleich lebendig anmutende, theatralische Darlegung findet. Und in den Entscheidungstag, den 25. September 1797 mündet, an dem nicht nur Gontard über den anmaßenden, respektlosen  Hauslehrer Hölderlin wütet, sondern auch den Dichter veranlaßt, über die Ansammlung von geistlosen Patriziern zu lästern, die ihm das Leben, Liebe, Treue, Schönheit, Vaterland stehlen würden. Woraufhin der in seiner Ehre als Bankier und vermögender Patrizier gekränkte Gontard seinen „undankbaren“ Hauslehrer auffordert, noch einmal ein Gedicht aufzusagen, um zu zeigen, „was sonst noch in seinem Kopf umgeht. Der so maßlos gekränkte Dichter verlässt noch in derselben Nacht seinen Brotgeber.

Hier könnte die biografische Erzählung enden, wenn es nicht Susette gegeben hätte, die ihrem Friedrich nur wenige Tage nach diesem Eklat den ersten Liebesbrief schreibt, die sich häufig heimlich mit ihm trifft, aus deren Briefen der Autor zitiert, wenn Henry ihn nicht flehentlich bittet, seinen Unterricht fortzusetzen. Doch der so geforderte Autor zieht sich allmählich zurück, lässt Hölderlins berühmte Elegie „Brod und Wein“ abdrucken, teilt seinen Leser/innen mit, dass die unglückliche Susette am 22. Juni 1802 an Schwindsucht verstorben sei, während ihr Friedrich noch 41 Jahre gelebt habe, davon nur drei oder vier Jahre „bei vollem Bewusstsein.“

Es zeichnet den Autor Peter Michalzik besonders aus, dass er sowohl in seinem Nachwort als auch in seiner Auswahlbibliografie fundierte quellenkritische Überlegungen anstellt, die der biografischen Erzählung eine unvergleichbare Dichte in der Darstellung eines schwierigen Sujets verleiht. Umso spannender ist es deshalb auch, weil sein kleines Meisterwerk sich auch in benachbarten Bereichen einer Biografie auskennt: dem philosophischen Essay, der literaturkritischen Plauderei, dem kommentierten Briefwechsel und vielen anderen Subgattungen. Auf diese Weise werden den kundigen Leser/innen ganz en passent zum Beispiel auch judenkritische Äußerungen von Friedrich Hegel vermittelt. Eine Lektüre also, die neugierig auf weitere Entdeckungen macht, eine Biografie, die eine historisch bedeutsame Umbruchsphase in der deutschen Geld- und Literaturgeschichte vielstimmig dokumentiert. Und ein würdiger Beitrag zum 250. Geburtstag eines genialen Dichters ist!

 

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Der Dichter und der Banker, Friedrich Hölderlin, Susette und Jacob Gontard, geschildert von Peter Michalzik, Reclam, 2020

Friedrich Hölderlin, Pastell von Franz Karl Hiemer, 1792

Weiterführend → Ulrich Bergmann hat das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht.

 Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.

 Lesen Sie auch Friedrich Hölderlins Essay Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.