Autor: Francisca Ricinski

Divers und divergent • Revisited

Vorbemerkung: Im Rahmen der Publikation des lyrischen Gesamtwerks des Sprechstellers A.J. Weigoni blickt Francisca Ricinski auf den Mittelteil der Trilogie Letternmusik, Schmauchspuren – eine Todeslitanei, Dichterloh – Kompositum in vier Akten zurück: Dichterloh: So heißt der in der Lyrikedition 2000…

Die Frau neben dem Truthahn

  Sie hatte wie immer vor, im Herbst die halbe Ernte für ihre Polenta und ihr süßes Maisbrot im nächsten Dorf mahlen zu lassen, während die restlichen Kolben für Leon gedacht waren, damit er nicht verhungern muß, wenn der Boden…

„Ich glaube an einen poet(h)ischen Zustand der Sprache“

Philippe Tancelin im Dialog mit Francisca Ricinski Francisca Ricinski: Sie sind ein „zoon poetikon“, authentisch und komplex: Dichter-Philosoph, Essayist, Schauspieler, Doktor der Ästhetik, Professor, Koordinator verschiedener transdisziplinärer Poetik-Workshops, Spiritus Rector des Collectif Effraction (Kollektiv „Einbruch“), Präsident der „Internationale der Dichter“,…

Magier

  Als ich nachts erzählt habe, daß Windesraunen und die winzige Ewigkeit eines Kusses, auch die heilenden Schwingungen, übertönt von Posaunen, plötzlich verstummten, erzählte ich auch von einem unaufhaltsamen Rittergalopp im Gehör.   Apokalyptisches Drehbuch. In meinem unendlich geglaubten Bildraum…

Ein anderes Ende

  Erst blickte er hinunter zum Platz. Sah sich in den endlos multiplizierten Porträts: Gewelltes Haar und sinnliche Lippen, ein Stirn wie ein Kornfeld. Sein polychromes Gesicht war umgeben von Fahnen und Schildertafeln mit gleicher Wortwahl: Es lebe unser weiser…

Alzheimer Sonate

Die Standuhr schlägt sieben: Er zuckt: Früher stand sie im Wintergarten, neben dem Flügel. Er hebt sich hoch, legt den Kopf auf die weinrote Nackenrolle, eine der wenigen Sachen aus der Wohnung, die ihm freiwillig folgten, und starrt sie und…

Entriegelung

Seit mehreren Stunden wühlte er in einer Kartonkiste, holte vergilbte Papiere und Fotos, ein Paar Steine und noch andere Sachen heraus, ließ sie wieder fallen oder legte sie wie Spielkarten auf, baute damit Türme und Wände, die er dann mit…

Als sei alles ein Spiel

Vitam continet una dies Samuel Johnson  In dieser Stunde, in der du dich krümmst und windest im Bett, antwortet dir ein Stern vom anderen Ende der Nacht. Allerdings leiser als bei deiner Geburt; er scheint in den Sog eines riesigen…

Auf eine Brottüte notiert

  Mit Nussbrot und mehreren Brezeln in der Tüte verlasse ich die Bäckerei. Am Ende der Straße sitzt ein Mann mit zwei Windhunden, die nicht umsonst so heißen. Dauernd ändern sie ihre Körperhaltung oder zumindest die Richtung ihrer Nasen und…

Aller guten Dinge

sind drei, sagt man. In den letzten drei Jahren wollte sie vier Mal sterben. An diesem Morgen hätte sie es beinahe geschafft, wäre der Heuler nicht auf der Sandbank gewesen, die sie für ihr Versinken im Meer ausgesucht hatte. Ihr…

Kein einfacher Monolog

Alles liegt viel zu tief. Wenigstens das hellfarbene, in Plastikfolie gewickelte Etwas herausziehen. Mein früherer Klavierlehrer, ein Lisztanbeter, der hatte Riesenhände, für ihn wäre es jetzt ein leichtes Spiel, an meiner Stelle da drin herumzuwühlen. Bevor ich anfing zu üben,…

Ein-Mann-Stadt

Als er uns damals sagte, er würde gerne nach Graz ziehen, wusste er selber nicht, warum er gerade dort seiner Pilgerschaft ein Ende bereiten wollte. Verwundert fragt er sich, wie er überhaupt all die Jahre glauben konnte, an ein Ziel…

Und dann verfing sich die Zeit

Der Hackbrettspieler und ich stiegen an derselben Station ein. Unsere Sitzplätze im Reisebus waren noch frei. Nebeneinander. Das Gepäck noch im Rücken, auf Knien, dann an den Füßen, untergetaucht. Wer von uns beiden hatte mehr zu Tragen im Leben?, stellte ich die Frage…

Blaue Koralle gegen grünen Bernstein

Die Rothaarige stützt sich gegen die Fensterbank, die Frau mit der struppigen Frisur sitzt auf dem Kunstlederstuhl. Eine dritte Frau in dem Nachbarbett, eine sehr junge, setzt den Kopfhörer über die Locken ihrer maisgelben Perücke und empfängt Hardrockmusik mit geschlossenen…

Die Frau neben dem Truthahn

Sie hatte wie immer vor, im Herbst die halbe Ernte für ihre Polenta und ihr süßes Maisbrot im nächsten Dorf mahlen zu lassen, während die restlichen Kolben für Leon gedacht waren, damit er nicht verhungern muß, wenn der Boden im…

Reisepass für das Paradies

I Die Augen der Frau wackelten einige Male, bevor sie in die Laubblätter fielen, und die Laubblätter schauten nun mit den gelben Augen der Frau in die Augen des Windes. Im nächsten Augenblick wurde der Himmel trüb und die Zweige…

Wo ich herkomme,

  neigt man sich vor der stahlgestützten Linde eines Poeten wie vor einer Ikone und winkt der in Bronze erstarrte Ovid den Passanten zu, und wo ich herkomme, nimmt man Platz an Brancusis Schweigetisch, um Steine ins Wasser zu werfen.…

Begegnungen

Beziehungen und Literaturzeitschriften / dauern meist nur zwei Nummern lang Fabián Casas Vorbemerkung der Redaktion: Wir stellen auf KUNO hin und wieder Literaturzeitschriften von, zuletzt die Matrix. Heute stellen wir Ihnen eine Zeitschrift für Literatur vor, die seit 1981 erscheint.…

Als käme noch jemand

Nur eine Taste und zwei Knöpfe Gleich geh ich die Treppe hinunter. Auf dem Rücken trag ich das Radio, das du vor vielen Jahren gekauft hast. Der Kasten hat nur noch eine Taste und zwei Knöpfe, er singt und spricht…

„ICH BIN MIR SELBST BEGEGNET“

TheatronToKosmo im Dialog mit Werken von Anselm Kiefer Anlässlich seines 20-jährigen Bestehens bot das Ludwig Museum Koblenz eine Reihe ansprechender, breit gefächerter Kunstveranstaltungen. Der Höhepunkt des Programms im bereits vergangenen Jubiläumsjahr hieß „Memorabilia“. „Memorabilia“, weil es sich um eine geschichtsträchtige…

Der Allverwender

Zum 5. Todestag von Peter Rühmkorf erinnert KUNO an den Lyriker mit einem Gespräch, daß  Francisca Ricinski mit ihm geführt hat. Francisca Ricinski: Als Sie 75 wurden, feierte man Sie wie einen über­ragenden Leuchtturm der deutschen Dichtung, einen Leuchtturm im Sinne von…

Auch im tiefsten Dunkel noch ein Lachen

Francisca Ricinski: Die heillose Krankheit, die ein halbes Jahrhundert nach Ihrer Geburt als eine terra incognita der Medizin noch im toten Winkel der Wissen­schaft stand, nistete sich in Ihrem früh­kindlichen Bewusst­sein ein und schritt fort oder setzte nur kurzweilig aus.…

„Ich schreibe wie rastlose hoffnungen …“

„…Ich schreibe wie das frühe / frühjahr das das gemeinsame / alphabet der anemonen / der buche des veilchens und / des sauerklees schreibt // …ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter / herbst schreibt / wie rastlose hoffnungen /…

Selbstdiagnose

  Was wissen sie schon von meiner Erde dein im blauen Klitschbrei schwimmendes Stethoskop Doc und dein ResonanzmagnetkinoIch will dir mal was verraten Bin schon lange nicht mehr eineEllipse noch nicht mal ein Zelt auf vier Schildkrötenrücken einintaktes Etwas nein…

Zeit und Zeitbegriff

  Francisca Ricinski: Vor einiger Zeit lasen Sie im Arp-Museum von Rolandseck Fragmente aus Ihrem Roman „42“. Dieser Titel wurde in den Medien unterschiedlich gedeutet und mit einigen Werken in Verbindung gebracht, wo diese symbolträchtige Zahl auftaucht. Mir fällt spontan…

For a red rhapsody

  Weil über Gärten die Nebel wie schwere Euter schwebten.Und wegen einer gewissen Unentschlossenheit meines Körpers.Ich ließ mir Zeit, verspätete mich beim Loslassen.Als ich ankam, fielen noch Ziegelsteine von der Südwand. Das rote Pulver drang in den Kern des Gehirns…

„Ich schreibe wie rastlose hoffnungen …“

„…Ich schreibe wie das frühe / frühjahr das das gemeinsame / alphabet der anemonen / der buche des veilchens und / des sauerklees schreibt // …ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter / herbst schreibt / wie rastlose hoffnungen /…

Litanei

  bald wird der Briefträger dein lindgrünes Lächeln vorbeibringen und ich hab noch keinen Briefkastengehängt bald beginnen die Geburtswehen unseresLiebesgedichts und wir haben noch kein Schaukelbettgebaut bald wird’s neblig in unserer Straße und wirhaben keine Laterne an den Himmel genagelt…

Nachts

  werde ich sanft. Meine Wut ruht in der Ecke wie eine gefallene Krücke. Nachts werde ich Kind. Ein Froschführt mich bis an den Rand des Märchens. Nachts über-flutet das Meer mich. Weinberge dringen in mich ein.Nachts hab ich Zeit…

Wandlung eines Körpergedichts

für Fulvia du sollst die knittrigen Wangen meines Gedichts so lange auf den Lindenholzbrett ausrollen, bis es feinund glatt wird wie ein hausgemachter Nudelteig,dir ein Wunderland daraus formen und alles inzwischenVerlorene oder noch nie Gehabte. Zum Beispiel einsprechendes Pferd als…

Flügelfrei

  Hey Villon!, könnte ich ihn wie einen Kumpel rufen und fragen, ob wir, Schulter an Schulter, nicht mal ein Glas über den Durst trinken.   Und ob! Ich war schon vorher verloren, wackelte wie ein frisch geborenes Buckelrind ……