Eine Rückblende in die Mediengeschichte

Ich war dort oben beleidigt worden … Und so etwas muß ich erleben! … Nach der Lesung der Todesfuge.

Paul Celan

Paul Celan hieß ursprünglich Paul Antschel, später rumänisiert Ancel, woraus daa Annagramm Celan entstand.

Wie wichtig Tonaufzeichnungen sind, belegt ein Mitschnitt aus einer Lesung vor der Gruppe 47. Paul Celans in eindringlichem Pathos vorgetragene Gedichte – der Mitschnitt seiner Lesung zeugt davon – und wurden gnadenlos verrissen. Die Bedeutung von Celans Lyrik nicht erkannt zu haben (darunter auch Marcel Reich–Ranicki), darin liegt einer der gröbsten Fehlgriffe der Gruppe 47. Celan zählt zu den bedeutendsten Stimmen der europäischen Lyrik, seine Todesfuge ist ein Solitär der deutschsprachigen Lyrik, in der der 1920 in Czernowitz geborene Schriftsteller den Holocaust verarbeitet hat.

 „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚Das kann doch kaum jemand hören!‘, er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht, ‚Der liest ja wie Goebbels!‘, sagte einer. […] Die Todesfuge war ja ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit“

Milo Dor fügte den Ausspruch Richters hinzu, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge“. In einem Brief an seine Frau Gisèle kommentierte Celan, Richter sei ein „Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist“, und schloss: „Jene also, die die Poesie nicht mögen – sie waren in der Mehrzahl – lehnten sich auf.“ Trotz solcher Stimmen machte Celan mit dem Auftritt auf sich aufmerksam. Noch auf der Tagung erhielt er das Angebot für einen ersten Gedichtband in einem deutschen Verlag, und bei der abschließenden Wahl zum Preis der Gruppe erreichte er immerhin den dritten Rang. An weiteren Treffen der Gruppe 47 nahm er aber trotz wiederholter Einladungen nicht mehr teil. (Dafür weiterhin ein Großsprecher, später als SS-Mann entlarven sollte.)

Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein Gesehenes und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug und Ohr geschrieben. Aber Literatur muss gelesen werden, wenn ihre Elemente sich binden sollen.

Karl Kraus

Klänge beleuchten die Zwischenräume der Poesie. Dass moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz sowie auch die Multimedia-Artistin Laurie Anderson nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Ein Ansatz, der bei den germanistischen Fliegenschissdeutern bislang keine große Beachtung findet, weil die Rezeption von Literatur im Gegensatz zu der von bildender Kunst größtenteils im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Die Literaturtheorie sollte daher im kommenden  21. Jahrhundert zu einer dienenden Rolle zurückfinden und endlich ihre Unterwürfigkeit ablegen. Man sollte an dieses Thema jedoch nicht unvorbereitet herangehen.

Angelika Janz schneidet aus vorgefundenen Texten Textkörper heraus, der Zufall bestimmt weitgehend die Grenzen des Schnitts, Wortfragmente werden ergänzt. Es entstehen neue Texte, neue Sinnzusammenhänge, neue Bedeutungen… Ihre Fragmenttexte zeigen die Möglichkeiten, die in den Wörtern liegen, zeigen ihre Potenz.

Karl-Heinz Mauerman

Angelika Janz verwendet in ihrem Werk verschiedene künstlerische Ausdrucksformen: Lyrik und Prosa, Hörspiele, Rundfunkbeiträge und „spoken word“-Performances, interaktive Kunstaktionen, Ausstellungen, Vorträge, Kunst- und Literaturkritik, sowie die Arbeit mit Musikern. Ihr charakteristischer Stil in ihren experimentellen Texten zeichnet sich durch Metaphern, Neologismen und Gegensätze aus. Viele ihrer künstlerischen Werke lassen sich unter dem Oberbegriff Visuelle Poesie einordnen – sie ist eine der wichtigsten Vertreterinnen dieser literarischen Richtung in Deutschland.

Andere Arbeiten weisen Bildtextkorrespondenzen auf, die sich gegenseitig erweitern sollen. Angelika Janz erklärt ihre Fragmenttexte wie folgt: „Ein Textfragment wird an den Rändern mit geringstem Buchstabenaufwand sinnfällig neu ‚komplettiert‘ …“. Ihre Fragmenttexte haben als Bild einen ästhetischen Wert, wenn auch einen eher abstrakten oder autonomen. Es gibt Papierschnitte und Collagen, wo Bild und Text, Bildsprache und Wortsprache miteinander korrespondieren oder gleichsam zusammengetackert sind. Diese Text-Bild-Collagen sind Einladungen zur Lektüre. Bild und Text spielen in ihnen zusammen, die Wörter haben unterschiedliche Größe, Farbe und Schrift. Die Collagen sind sinnlich, spielerisch, sprachschöpferisch und stets inspirierend.

Die Schrift ist gegenüber dem Medium der mündlichen Sprache und Kommunikation minderwertig, da sie sich nachteilig auf das Erinnerungsvermögen auswirkt.

Platon

Mit dem Medium Hörbuch lauschen wir der Wiederannäherung der Worte an die Musik nach. Im Abspielgerät wird die Sprache selbst zum Mittel ihrer Entkörperlichung, im Lautsprecher geht die Spreche mehr und mehr in Schall auf. Mit all diesen lyrischen Formen und ihrer sinnhaften Ausweitung in den akustischen Bereich, hat sich die Redaktion im letzten Jahrzehnt beschäftigt, – die Redaktion muss dies kritisch hinterfragen – hat sich seit dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wirklich viel geändert?

Ein Blick zurück: Bereits 1991 legte dieses Duo die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips vor. Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten. Hier werden vor allem Lesungen längst bewährter Titel aus Klassik und Moderne vermarktet, die von bekannten Schauspielern vorgelesen werden, es geht um eine Mehrfachverwertung, die ästhetisch nicht weiter beachtenswert ist, wenn einmal eine Hörspielproduktion auftaucht, dann ist es die Übernahme eines öffentlich-rechtlichen Senders, Übernahmen des sogenannten „Neuen Hörspiels“ sind da eher selten. Es gibt viel verdienstvolles darunter, doch das weitaus meiste bezieht sich auf die gesicherte und bereits ausführlich referierte Literaturgeschichte. Den großen Verlagen geht es lediglich darum, eine neue Wertschöpfungskette zu erschließen. „Entfaltung der Produktivkräfte“, eine materialistische Variante der christlichen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung“, schieb Enzensberger. Welches kreative Potential wirklich im Bereich Audiobücher erschließenswert ist, bleibt auch nach über zehn Jahren weiterhin den unabhängigen Labels überlassen. Etwas anderes war eigentlich nicht zu erwarten, wir wollen darüber nicht in Kulturpessimismus verfallen und nehmen es mit einem Ohrenzwinkern wahr.

A.J. Weigoni und  Tom Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.

Dr. Christiane Schlüter, Buecher-Wiki

Photo: Thomas Suder

Das neue Gebiet der Klangbücher ist Sprach-Kunst, Arbeit am Wort, und es steht dem Umstand nichts im Wege, ihr als solcher mit Ernsthaftigkeit und vor allem Selbstverständlichkeit zu begegnen. Seit der Gründung des Labors stand das transmediale Erzählen im Vordergrund der künstlerischen Spekulationen. Im multimedialen Bienenstock lanciert die Edition Das Labor auf der Plattform vordenker.de mit MetaPhon eine Reihe, in der Facetten der multimedialen Kunst und des Hörbuchs zugänglich gemacht werden, die nach den herkömmlichen Marktgesetzen unerschlossen bleiben. Der Markt wurde durch die unabhängigen Labels entmystifiziert. Das aufgeklärte Publikum erwartet nun Künstler, Wissenschaftler, Akteure, die den Vorhang aufreißen, um in anderen Formen zu erzählen. Die Kunstakademie hatte sich in den 1970er Jahren als installativer Diskursraum auf die Ratingerstraße ausgedehnt. Als künstlerische Grenzgänger betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis mit der Literatur, in einem hocharbeitsteiligem Virtuosentum mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Es ging bei dieser Zusammenarbeit um eine Synthese, die Alchemie des Zusammenbringens, die Erweiterung der Vorstellung, was mit Literatur, Musik und Kunst möglich ist.

Das Aufnahmestudio als Klanglabor nutzten

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn gleichfalls für verrückt gehalten. Es ist im Nachhinein fast zwangsläufig, das sich diese beiden Artisten über den Weg laufen mussten. 1995 begann mit Verquarzte Tage ihre Zusammenarbeit, die in 2015 mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert.

Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre. Dieses “Nachtstück” besticht nicht nur durch seine souveränesprachliche Meisterschaft, sondern auch durch eine gedankliche Tiefe, die dichterisch facettenreich ausgelotet wird.
Axel Kutsch

Die Produktion Señora Nada provoziert mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo– und Decrescendo–Verläufe schaffen fiebrig–erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte– und Fortissimo–Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.“
Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels

Wenn sich gegen Ende von Señora Nada, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo–Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Ganz im Gegensatz zu den anderen “experimentellen” CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

Mittlerweile ist es üblich, Hörstücke auf CD zu veröffentlichen, das Subversive an Weigonis letztem Hörbuch Gedichte ist seine Konsequenz. Er verschmäht Formen kommerzieller Vermarktung sowie den Medienhype, was  wertkonservativ anmutet, ist absolute Hinwendung. Und zu der sind nur Panästheten fähig, die Kunst als Wert an sich betrachten und deren Reinheit erhalten wollen.  Für ihn zählt allein die Haltung der Kunst zu dienen. Im Zeitalter der multikommunikativen,  Massengesellschaft bedeutet das die extremste aller Gegenbewegungen, der Welt den Rücken kehren. Keine größere Unabhängigkeit ist denkbar. Das Hörbuch Gedichte verdeutlicht, welch erstaunlichen Weg er in seiner künstlerischen Arbeit zurückgelegt hat: von der Do-it-yourself-Ästhetik des Last pop songs Albums, über die düstere, durch Stimm-Experimente und Sphärenklänge geprägte Verspieltheit der Senora Nada, hin zur  Sensibilität von An der Neige. Täger braucht bei der Bühnenmusik für ein Tanztheaterstück zur Darstellung die Vielfalt seiner Instrumentalpalette. Seine Kompositionen sind nicht bloße Begleitung, sondern strukturierend und dispositiv; die Musik hat keinen illustrativen Charakter. Die Klanglandschaften sind in der Komposition An der Neige abstrakt und trotzdem von eindringlicher Bildhaftigkeit.

A.J. Weigoni stellt mit einen Hörspiel unser Zeitempfinden und unsere Vorstellung von Identität auf die Probe. Der vielfach ausgezeichnete ungarisch-deutsche Schriftsteller und  Medienpädagoge Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes  eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.

Radio Bremen

Dies zeigt sich auch beim Hörspiel Unbehaust bei dem Täger ausschließlich Papiergeräusche verwendet hat Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt. Papier fühlt sich angenehm an und riecht gut. Papierseiten entsprechen dem menschlichen Lesetempo, unserem Rhythmus. Aus diesem Rhythmus entwickelten Weigoni und Täger ein Monodram gegen den kulturellen Gedächtnisverlust.

A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Unbehaust ist ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben. Jo Chang (gespielt von Bibiana Heimes) mißtraut diesem Traum, führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Sie laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique“, erkennt die Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Als ich dieses Hörbuch hörte, war ich schlichtweg begeistert. Bei Hörbüchern und Hörspielen wird oft der Begriff “Kunst” verwendet. Ich rede eher vom “Handwerk”. Als ich Gedichte von A.J. Weigoni lauschte, war für mich sofort klar: Das ist wirkliche Kunst! Dieser Mensch ist ein wahrer Wortakrobat, ein Liebhaber der Sprache, ein Kenner des Mediums. Weit weg vom Mainstream ist Gedichte von Weigoni für Liebhaber der “Sprachkunst” und für intellektuelle Unterhaltung DER Geheimtipp. Solch eine liebevolle Inszenierung hat eine Auszeichnung verdient, deswegen: ‘Beste Lesung’.

Simeon Hrissomallis, Begründung für den Hörspielpreis Ohrkanus

Den würdigen Schlußpunkt dieser Arbeit setzt das Hörbuch Gedichte, es umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die “einfach nur genießen” wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis. Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte. Es handelt von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen dem Sprechsteller und dem Zuhörer, es bleibt im sensorischem Speicher der Hörer, wenn nötig, für die nächsten 25 Jahre.

Das Gesamtkunstwerk hat eine Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität.

Odo Marquard

Peter Meilchen (* 13. Dezember 1948 in Linz am Rhein; † 27. Oktober 2008 in Neheim) Photo: Dieter Meth

Das Buch / Katalog–Projekt 630 gibt einen konzisen Überblick über die künstlerische Arbeit von Peter Meilchen in Linz und in der Werkstattgalerie Der Bogen. Zusammengeballt werden Zeit und Licht durch seine bearbeitete Photografie, er reduziert die Wirklichkeit auf Licht und schrumpft die Zeit auf einen Augenblick, den ausdehnungslosen Moment. In der Perpetuierung des Veränderlichen ist die Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die Vergänglichkeit, das Abschnurren der Zeit, wie es in Meilchens Werk vorgeführt wird. Seine Arbeiten sind keine Momentaufnahmen von Realität, sondern komplexe Inszenierungen in einem umfassenden gesellschaftlichen Umfeld.

In seiner kombinatorischen Bildregie zapft er verschiedenste Quellen an; die Fremdheit ist in der Kunst ein kostbares Gut, das es erlaubt, die Wahrnehmung des Alltäglichen zu brechen und ihr die nötige Distanz zur Gewohnheit einzuhauchen. Meilchens Bilder haben eine spezifische Signatur und einen speziellen Ort. Vielleicht ist es die irgendwie aufgelöste Atmosphäre der untergegangenen BRD, und doch formulieren die Bilder den Einspruch, daß wir auch angesichts ihrer Melancholie gar nicht anders können, als uns den Rätseln des bösen Märchens, das man das Leben nennt, immer wieder zu stellen. Es ist diese doppelte Botschaft, die Peter Meilchens Photografien die ungeheure Spannung verleiht – zart und grimmig zugleich.

Dem Augen-Blick in seinem wörtlichen, wie auch übertragenen Sinn kommt im Schaffen Meilchens eine entscheidende Bedeutung zu. Sowohl das mit dem Sinnesorgan Auge aufgenommene Bild, als auch die kurze Dauer seiner Wahrnehmung spielen eine wichtige Rolle. Auf diese Weise erhält dieses Werk gerade durch seine Weltzugewandtheit jene Beimischung von Melancholie, die für eine wahrheitsgemässe Beschreibung der Wirklichkeit unerläßlich ist. Weil die photografischen Bilder nicht bewegt sind wie unsere unmittelbare Wahrnehmung der Welt, können Repräsentation und Mimesis nicht die angemessenen Dimensionen ihrer Beurteilung sein.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Covermotiv von Krumscheid / Meilchen

Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt Tom Täger ein 24teiliges Stück. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu den Vignetten daher. Der Klang der Fremde trifft auf den Verlust von Erinnerung. Es ist eine komplexe Musik, die auf Texturen, Atmosphären und Rhythmus aufbaut; Ambient im besten Sinne. Wir hören dronige Synthesizer-Kompositionen und abstrakte Elektrotracks, die durch ihr treibendes, rhythmisches Fundament und die melodischen Muster an den Genredefinitionen rütteln. Kontraste sind dabei für Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Wie sich der Klang an den Rändern zum Verstummen bewegt, wird das Reisen, und sei es eines in die Wüste des versehrten Ichs, zu einem Akt der Vergeblichkeit, die Kreisbewegung führt zum Verlust von Verankerung und Identität. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas.

Die Vertonung Tägers fügt – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. Es gibt bei der Hörspielkomposition von Täger immer wieder Momente und Tracks, die hervorstechen, aber erst über die gesamte Dauer zeigt sich, wie sorgfältig er bei 630 eine Dramaturgie entworfen wird, die Genredefinitionen wird überschritten und über die gesamte Spieldauer bis an die Ränder zerdehnt. Dieses Hörbuch fordert aufmerksames Hinhören und ist es ohne zum schöngeistigen Geplätscher zu verkommen, eine sinniger Teil zu diesem Gesamtkunstwerk.

Akustische Maske“ nannte Elias Canetti das Prinzip, Figuren durch ihre Sprache plastisch werden zu lassen.

Diese Poesie hat allen überflüssigen Ballast abgeworfen und kommt hochkonzentriert und komprimiert daher. A.J. Weigoni spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Rezitator verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Jedes Kapitel für sich genommen, ist ein kleines Kunststück der Verdichtung.

Die Arbeiten von Meilchen, Täger und Weigoni funktionieren nicht über Addition, sondern über Multiplikation: Am Ende steht mehr als nur die Summe einzelner Teile.

Die geschriebene Sprache ist immer eine Metapher für die gesprochene. Diese Poesie hat allen überflüssigen Ballast abgeworfen und kommt hochkonzentriert und komprimiert daher. Desto „echter“ sie klingt, desto weiter entfernt ist sie in Wahrheit von der Umgangssprache. Meilchens Bilder sind der Schlüssel zur Erinnerung, das Sinnbildliche wiederum ergibt sich, wie in Benjamins Berliner Kindheit, gleichsam von selbst. Vergleichbar dem Rhythmus der Gezeiten gehen Wellenbewegungen durch diese Novelle, es transportieren sich die Wellenbewegungen der Flüße Rhein und Nil in sinnlich geschwungene Bögen des Gesprochenen. Hier wird die Dialektik einer beschwörenden Sprachmagie sinnfällig. Bei der Umsetzung dieser Novelle möchte man jedem einzelnen Wort hinterher lauschen. Hier entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist.

 

 

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Weiterführend →

Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni die Literaturgattung der Novelle neu. Einen Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630 zu finden Sie hier. Im engeren Wortsinne versteht man Revision als Sichtung und Prüfung. A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn.