Transmediale Erzählformen

Das Labyrinth ist die Heimat des Zögernden.

Walter Benjamin

Erinnerungstexte fangen immer mit einem Damals an; der hier nicht. Von der radikal künstlerischen Geisteshaltung dieser Artisten ist vor allem die Kompromisslosigkeit, das Unbedingte dieser Kunst geblieben. Die Anfänge des transmedialen Erzählens gegen Ende der 1980-er Jahre bezeichneten eine Strategie, einem artifiziellen Inhalt, den die Artisten über mehrere Medien hinweg durchdeklinieren. Bei transmedialen Projekten legt sich avancierte Literatur seit 1989 nicht mehr auf das Medium Buch fest. In der Steinzeit der „Neuen Medien“ rissen Marion Haberstroh, Kai Mönnich, Frank Michaelis, A.J. Weigoni und Peter Meilchen die Gattungsgrenzen zwischen den Künsten vehement nieder. Sie formulierten ein großes narratives Konstrukt, aus der Erkenntnis, daß ein einziges Medium zur umfassenden Rezeption nicht mehr genügte. Erzählformen wurde von diesen Artisten jeweils an systemimmanente Eigenheiten der unterschiedlichen Medien sinnfällig angepasst.

Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung.

Simon Reynolds

Coverphoto: Anja Roth

In der Landeshauptstadt NRWs der ausgehenden 1970er und frühern 1980er Jahre betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis im Kunstakademie-Umfeld mit der Literatur eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, dokumentiert durch die Kassette the vera strange tapes. Unter zuhilfenahme eines Vier-Spur-Kassettenrekorders bemächtigten sich die Künstler rigoros der Produktionsmittel. Dieses analoge Medium brachte für diese widerständige Kultur einen Emanzipationsschub mit sich, ein Zugewinn an künstlerischen Mitteln, der mit der Digitalisierung fast in Vergessenheit geriet, weil sich ein noch einschneidenderer Fortschritt vollzog. Die Kassettenkünstler nutzten dies als Möglichkeit, Musik unabhängig zu produzieren. Tonmeister Tom Täger hat das 1989 produzierte Tape the last pop-songs (vom DAT) digital remastered. Frank Michaelis und A.J. Weigoni haben die Energie und die Einfachheit von Pop genutzt, um komplexere Emotionen auszudrücken. Es ist beeindruckend, wie unbekümmert sie Stile, Genres und Ausdrucksmittel mischen. So entsteht eine intermediale Literatur, Poetry slams und Songtexte werden als künstlerische Artefakte wahrgenommen, die es mit ‚klassischer‘ Literatur aufnehmen kann. Sie hören ein Denkspiel über Pop, das selbst Pop ist, weil es Pop als körperverwandelndes Medium versteht und Popgeschichte als Mediengeschichte. MetaPhon präsentiert in der Reihe Revisited einen Rückblick auf „The Best Of Jugendsünden“.

Wenn es Videoclips gibt, muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.

A.J. Weigoni

Frank Michaelis

1991 legen der Sprechsteller A. J. Weigoni und der Musiker und Komponist Frank Michaelis in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Marion Haberstroh und dem Schauspieler Kai Mönnich die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips beim Dortmunder Independent-Label Constrictor auf dem neuen Medium der Compact Disc (kurz CD, englisch für kompakte Scheibe) vor. Eine grundlegende Ambivalenz und Reserve der Fachöffentlichkeit war kein Zufall. Die Titelgebung Literaturclips ist selbstverständlich reinste Camouflage, gleichzeitig markieren jedoch die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der sogenannten Pop-Literatur.

 

Der Akt des Sehens und der Akt des Filmens, für Peter Meilchen gab es da nie einen Unterschied.

Digitally remastered im Tonstudio an der Ruhr

Exemplarisch läßt sich Peter Meilchens und A.J. Weigonis Arbeit an einem Multimediaprojekt verdeutlichen. Schland ist der Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Photografie ist für Meilchen kein Ablichten oder Ausschneiden von Realität. Nicht Imitation von Wirklichkeit strebt der Künstler aus, sondern meine Interpretation von ihr. Diese multimediale Arbeit beschreibt einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: „Man sieht es und sieht doch hindurch“) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. In seinem Spiel mit den unterschiedlichen Oberflächen und Texturen, in der Kontrastierung der scheinbar unvermittelten Landschaft bei Herdringen, den mehrfach gebrochenen Ausblicken auf das Sauerland sind diese Fotos – nicht nur im ironischen Kommentar des zusammengekniffenen Photografenauges,  immer auch Reflexionen über das Medium. Diese visuelle Kunst spielt mit den jeweils eigenen technischen Möglichkeiten der Repräsentation und der Verschleierung ebenso wie Literatur.

Pop als distinktiver intellektueller Selbstentwurf

Das frühzeitige Erkennen, daß in der Kürze der einzelnen Beiträge der Erfolg zum langen Atem liegt – beim Produzenten vielleicht, beim Zuhörer gewiss – ist sehr hoch anzurechnen. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare. Sie hören ein Denkspiel über Pop, das selbst Pop ist, weil es Pop als körperverwandelndes Medium versteht und Popgeschichte als Mediengeschichte. Anschaulich zu betrachten in einem Video. Beinahe verschwörerisch rezitiert Weigoni den Schwebebahn-LiteraturClip. Michaelis bläst ein Saxophon, dessen bewußt blecherne Schwüle leicht eine ganze New Yorker U-Bahn-Station unterhalten könnte. Wahrscheinlich haben sich die Artisten deshalb beim Dreh zwischen Vohwinkel und Barmen so heimisch gefühlt.

Weigoni und  Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.

Dr. Christiane Schlüter, Buecher-Wiki

„Was heute noch wie ein Märchen klingt…“

1995 begann die Zusammenarbeit mit A.J. Weigoni, der sich seit langem mit Trivialmythen beschäftigt, die sich in Groschenheften, in der Schlagermusik, im Kino und in Fernsehserien manifestierten. Als Medienautor ist A. J. Weigoni ein Spieler, den die technischen Entwicklungen der Medien faszinieren, weil sie schier unendliche Möglichkeiten der Neuordnung von Formen und Zeichen eröffnen. Tom Täger hat gleichfalls ein Faible für Trivialmythen. Seine vielgestaltige Arbeit als Musiker und Produzent im Tonstudio an der Ruhr läßt sich exemplarisch an der Produktion RaumbredouilleReplica darstellen. „Was heute noch wie ein Märchen klingt…“ – so haben sich die Deutschen in den 60–er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zukunft vorgestellt, als militärischen Staat, in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der sich als Vorläufer des Raps hören läßt.

Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien.

Die RaumbredouilleReplica berücksichtigt die Anforderung des klassischen Sience-Fictions (Bedrohung der Erde, Rettung derselbigen) und ergänzt sie um Chiffren der Popkultur. Was für „Raumschiff Enterprise“ die Klingonen, waren die Frogs für „Raumpatrouille Orion“, der deutschen Science-Fiction-Serie mit Kultstatus und Heimwerkerappeal: Bügeleisen dienten dem hochtechnisierten Raumschiff als Schaltgeräte, und brennende Tennisbälle flogen durch die wolkenlose Weite des Himmels. Legendär auch das Raumfahrerkasino, in dem nach geglückter Mission zukunftsweisend Rücken an Rücken getanzt wurde. Die neu aufbereitete Tonspur dieses Straßenfegers hält ein weiteres ungeahntes Abenteuer mit Wolfgang Völz, Claus Holm, Charlotte Kerr u.v.a. bereit. Wie meinte Dietmar Schönherr nach bestandenem Abenteuer: „Rücksturz zur Erde“. Bei der Hörspielcollage RaumbredouilleReplica geht es in einer Invasion der Geistesgegenwart um alles: Die Bedrohung der Erde. Einen gesteuerten Schnellläufer. Eine Invasion und natürlich: Die Rettung der Erde. Selbstverständlich mit einem Humor, der Lichtjahre von der Spaß- und Eventkultur dieser Tage entfernt ist.

stream–of–consciousness

Aus der Reihe: UnderCover

Die Produktion “Señora Nada” (auf dem Hörbuch »1/4 Fund«) provoziert mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu “Señora Nada” ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo– und Decrescendo–Verläufe schaffen fiebrig–erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte– und Fortissimo–Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.

Wenn sich gegen Ende von »Señora Nada«, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo-Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Tägers unermüdlicher Forschergeist

Original-Holzschntt von Haimo Hieronymus

Die Papier-Komposition zum Monodram »Unbehaust« handelt vom unermüdlichen Tägerschen Forschergeist, von der ewigen Suche nach unverbrauchten Ausdrucksformen. Tom Täger hat versucht, die Form des Monodrams, die Gedanken der Hauptfigur auf musikalische Verhältnisse zu übertragen und generiert mit seiner Komposition zu »Unbehaust« eine subtile Kongruenz von Wort–Ton–Bezügen. Die Anlage der Papier–Collage ist schlicht und raffiniert zugleich. Tempomäßig und im Grundcharakter stiftet sie eine Bogenform. In den Zeitdauern ist sie ansteigend, die dynamisch intensivste Stelle steht etwa in der Mitte. Die Komposition ist durchgeformt. Das Tonmaterial kombiniert mit Papiergeräuschen und Komplementärakkorden, wird stringend ausgeführt. Ein Zug des Schweifenden, des locker Gelösten ist diesem Hörstück eigen, das von Bibiana Heimes als Sprecherin gestaltet wird. Ihre gezackte Rezitation ist rasch als Parodie auf Rene Polesch Vokalstil zu verstehen. Sie gilt als Verrückte – oder mimt zumindest eine exaltiert Abgehobene. In ihren poetopathologischen Aufzeichnungen kämpft Bibiana Heimes als Patientin Jo Chang gegen das Vergessen, das Verlassenwerden, die Gesellschaft, Gott, und den Tod. Die seelischen Grenzüberschreitungen, die das lyrisches Monodram thematisiert, vollzieht es formal in der Aufhebung der Gattungsgrenzen nach. Es wird ganz ohne Psychologie erzählt, eher als Status quo eines Experiments. Sie ist auf der Suche nach ihrem Ursprung und findet Einzelteile einer versprengten Existenz. Das Langgedicht handelt nicht nur von großer Not, es ist auch selbst in Not. Mit schlankem Federstrich zeigt die asiatische Emigrantin die Neurosen und die Zerstörtheit der westlichen Warenwelt auf. Sie scheint mit den Worten zu schweben: eine Sprechmusikerin.

Tom Täger gilt zu Recht als Hörspielkomponist. Er braucht zur Darstellung seiner Klang-Farben-Vorstellungen die Vielfalt der Instrumentalpalette. Seine Kompositionen sind nicht bloße Begleitung, sondern strukturell und diskpositiv ebenso gewichtig wie die Sprecherstimmen. Der Mülheimer hat im Terrain der Musik stets die schwierigen, scheinbar unbegehbaren Routen oberhalb der Baumgrenze gewählt. Man glaubt beim Hören schrundiges Felsgestein unter den Füßen zu spüren. Erkaltete Lavaboasen und schwarzes Geröll, scharfkantige Krater und gähnende Erdspalten; er assoziiert Reliefstrukturen mit dem Rumoren des Papiers, fauchende Fumarolen mit tonlosen Anblasgeräuschen. Tägers Musik hat keinen illustrativen Charakter. Seine Klanglandschaften in Unbehaust sind abstrakt und trotzdem von eindringlicher Bildhaftigkeit.

Last but not least:

Cover: Frühlingel von Peter Meilchen

Die mit dem lime_lab ausgezeichnete Sprechpartitur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni bietet die Möglichkeit, sich Kodierungen der Nachrichten- und Informationskanäle, der Bild-, Ton- und Filmarchive in intensiver Textausdeutung zu erschliessen. Die mit der Schauspielerin Marion Haberstroh und dem Sprechsteller A.J. Weigoni umgesetzte Sprachkomposition ist von Tempo- und Harmoniewechseln durchzogen, daß beim Lesen und beim Hören keine Langeweile aufkommt. Es ist eine vitale Form der Literatur, die der Sprache auf die Finger schaut, sie zugleich ihrem eigenen Gefälle überläßt und somit entfesselt.

KUNO wird weiterhin die Facetten der multimedialen Kunst und des Hörbuchs zugänglich machen, die nach herkömmlichen Marktgesetzen unerschlossen bleiben würden. Der Markt wird auch zukünftig entmystifiziert. Das aufgeklärte Publikum erwartet auch im 21. Jahrhundert Künstler, Wissenschaftler, Akteure, die den Vorhang aufreißen, um in anderen Formen zu erzählen. 

Peter Meilchen liebte es, am Rhein entlang zu flanieren. Er fügte der Horizontale des Begehbaren meist die gedankliche Vertikale hinzu.

„Medienkombination“ nennt die Deutsche Nationalbibliothek ein Werk, das sich nicht auf den ersten Blick zuordnen läßt. Literatur findet nicht mehr im begrenzten Format eines Buches seinen Platz. Alle beteiligten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Sprechen ist immer ein Erfinden: Jeder Mensch erfindet die ganze Zeit alles, was er macht und ist, nichts daran ist authentisch oder vorgegeben. Es gehört zur Gratwanderung des Erzählens, daß der Ton getroffen wird, es müssen die Präzision der Sprache, der Rhythmus der Syntax und die Klarheit der Bilder zusammenkommen. Es ist ein Spiel. Und die Mitspieler Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni erweiterten es zum multimedialen Projekt 630.

 

Titelbild, Collage von Klaus Krumscheid, Hommage an Peter Meilchen

 

630, ein Buch/Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018

Weiterführend → Eine Würdigung des künstlerischen Lebenswerks von Peter Meilchen lesen Sie hier. Die romantische Idee des Gesamtkunstwerks überführt Enrik Lauer ins 21. Jahrhundert. Mit den Vignetten definierte A.J. Weigoni eine Literaturgattung neu. Die Novelle erscheint in der Umsetzung als Hörbuch und das Buch/Katalog-Projekt 630 zur Ausstellung von Peter Meilchen. Eine Hörprobe findet sich hier.

Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.  

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.