Literarische Zeitdiagnostik zum Werteverfall der Gesellschaft

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Zwei Romane sind der Anlass für ein Kollegengespräch von Ulrich Bergmann und A.J. Weigoni. Mannigfach sind die Bezüge, die – der vermeintlich kleine Roman – Gionos Lächeln von Bergmann spielerisch und oft auch sprachspielerisch eröffnet:

Es ist ein Kurzroman zum Thema Tod, es geht um existenzialistische Probleme, um Jugendrausch, Rausch in der Jugend, Selbstbetrug, Drogen in geistigen Sinne, Bücher, Musik, Liebe … Selbstfindung, selbst Verlust, Verlorenheit, Sinnsuche.

Dichterische Sprache bleibt deutungsoffen, also weniger eindeutig, als uns Kritikaster suggerieren. Bei Weigonis Lokalhelden muss man unweigerlich an Albert Camus denken, der sich als Existenzialist im Rheinland wahrscheinlich nicht fremd gefühlt hätte, er hat den Aperçu geprägt:

Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können – der Humor über das, was sie sind.

Und gerade im Rheinland sind Heimat und Humor Zwillinge. Die Poesie kommt dem Leser in diesen Romanen in den besten Momenten so vielschichtig vor, wie es eine freie Gesellschaft je sein könnte.

„Als Luftveränderung kann Bonn für Stunden Wunder wirken.“

Heinrich Böll

Weigoni-Porträt, Leonard Billeke.

A.J. Weigoni: Was man heutigentags mit dem unpräzisen Sammelbegriff Migrant etikettiert, bezeichnete man früher als „Heimatvertriebene“. Was wir gemeinsam haben ist das Vertrieben-Sein. Die Familie meiner Mutter durfte auf der Flucht aus Ungarn mit ansehen, wie Dresden abgefackelt wurde, und landete dann einerseits in Aurich, Ostfriesland, sowie in Gelsenkirchen und in Essen. Drei meiner Onkel wurden Steiger. Der älteste Bruder meiner Mutter ist im wahrsten Sinne des Wortes „verschütt“ gegangen. Zwei weitere starben an Silikose (das ist der Weigoni-Beitrag zum Wiederaufbau der Bonner Republik). Sie stammen aus Halle an der Saale (und wie ich in Ihrem Roman Doppelhimmel lese, via Bochum kommend), sind also ein Imi (rheinisch nicht etwa für Imigrant, sondern für Imitiert) und sind schliesslich in Bonn sesshaft geworden. Sie waren als Lehrer u.a. am Gymnasium in Mechernich tätig. In Gionos Lächeln kommen die Gelateria in Mehlem sowie der Petersberg und der Drachenfels vor. Als Germane sind Sie im römischen Teil des Rheinlands sozialisiert worden, wie hat die so genannte Bonner Republik Ihr Schreiben geprägt?

Ulrich Bergmann: Ich bin ein Gesamtdeutscher. Ich bin kein Vertriebener. Ich war ein geteiltes Kind in Deutschland. Ich war kein Flüchtling, im Gegensatz zu meinen Großeltern, die mich nach Westdeutschland mitnahmen. Es war mein Entschluss, als meine Mutter mich fragte, ob ich zum Vater im Westen will. Ich wusste ja 1955 kaum, was der Westen war. Da war ich 10. Und ich verliebte mich sofort in Bonn am Rhein, die der Stadt an der Saale so ähnlich erschien. Dort Händel, hier Bonn. Dort die Saale, hier der Rhein. Beide Städte haben einen Petersberg in der Nähe … Ich bin jetzt Bonner, ich fühle mich in Halle, meiner Mutterstadt, nicht mehr zu Hause, die Mentalität dort im Osten ist mir fremd, aber es gibt eine kleine Restidentität, die Kindheit betreffend.

„Man stelle sich  vor, die Rheinländer hätten nach 1848 anstelle der Preußen ein Nationalbewusstsein entwickelt – wahrscheinlich wäre die Emanzipation nicht in Regression umgeschlagen.“

Laik Wörtschel

Weigoni: Um etwas auszuholen, der geographische Begriff „Rheinland“ wurde im 18. Jahrhundert noch gar nicht angewendet, entsprechend konnten die Bewohner dieser Gebiete auch keine „Rheinländer“ sein. Die Fremdenverkehrsbranche vermarktet heute den südlichen Teil des Mittelrheins von Bingen und Rüdesheim bis Koblenz daher als „Tal der Loreley“. Als „Kulturlandschaft Oberes Mittelrheintal“ wurde dieser Flussabschnitt 2002 zum UNESCO-Welterbe erklärt. – Kerngebiet des Niederrheins sind die Kreise Kleve, Wesel und Viersen sowie die Städte Krefeld und Duisburg. Des Weiteren zählen am östlichen und südlichen Rand Teile der Städte Isselburg und Oberhausen, der Rhein-Kreis Neuss, die Stadt Mönchengladbach und der Kreis Heinsberg zum Niederrhein. – Im engeren Sinne meint man also den nordrhein-westfälischen Teil, wenn vom Rheinland gesprochen wird, also der Region zwischen Bonn und Düsseldorf. Dies regte den in Düsseldorf lebenden Komponisten und Kapellmeister Robert Schumann dazu an, die Rheinische Sinfonie zu schreiben. Die euphorische Stimmung, in die der Umzug den Komponisten von Dresden nach Düsseldorf versetzt hatte, schlägt sich in der lebensfrohen Grundstimmung des Werks nieder, das häufig als ein Spiegel „rheinischer Fröhlichkeit“ interpretiert wird. Ein seltener Fall in der Musikgeschichte, eine Hymne für ein Land, das keins ist.

Bergmann: Die Komponisten sind gerecht verteilt, während wir Schumann die Rheinische verdanken, hat der Bonner Beethoven mit der „Ode an die Freude“ aus seiner Neunten Symphonie die – inzwischen offizielle – Europahymne komponiert.

Weigoni: Wo wir gerade beim Thema Musik sind, bedanke mich für die hervorragende Einspielung von Händels „Messiah“, die Sie mir zusandten und die mich an eine Aufführung in der Düsseldorfer Andreaskirche erinnerte. Nach dem Halleluja verliessen die meisten Zuschauer, fast schon erlöst, die Kirche und strömten in die Altstadt. Vor einem Drittel der Zuhörer konnte dann das Oratorium beendet werden.

Bergmann: Das Erlebnis in der Händel-Kirche muss ein Movens für den Antirheinischen Roman gewesen sein.

WEIGONI: Das Erlebnis mir dem „Messias“ in der Andreas-Kirche ist nur eines von vielen. In diesem Fall habe es nicht in den Roman einfliessen lassen, aber es sagt viel über das Kulturleben der Landeshauptstädter aus.

Bergmann: Ich teile mit den Kölnern ein gewisses rhenozentrisches Weltbild. Da beginnt rechtsrheinisch schon die DDR und nördlich von Köln Holland – mir ist vollkommen klar: das ist nicht logozentrisch, sondern egozentrisch. Nur zum Beispiel: Im rechtsrheinischen Beuel entstand die Weiberfastnacht der Waschweiber (Möhnen). Und im rechtsrheinischen Düsseldorf wurde Henri Heine geboren – so einen hat Köln nicht. Allerdings ging Heine später nach Bonn … (und dann über Göttingen nach Berlin, dann Paris …). Und Kölns Offenbach ging auch nach Paris. Wir sehen auch: Beide haben eine wunderbare westliche Leichtigkeit. Das verbindet Köln und Düsseldorf. Und Bonn hat Beethoven! Da ist doch tatsächlich Holland rheingeschwappt … Parbleu! und Beethoven zog es auch weiter – nach Südosten, nach Wien. Summa summarum sehen wir: Über das Rheinland lässt es sich weder unterkomplex reden noch ohne jede Sentimentalität.

Weigoni: Jede jeck is anders, das gilt für jede Region zwischen Rüdesheim und Xanten.

Bergmann: In einer Mail hatte ich einmal den Niederrhein und das Ruhrgebiet in einen Topf geworfen. Das tut mir leid.

Weigoni: „lechts und rinks, das kann man nicht velwechsern.“ (Jandl) Im 2. Weltkrieg wurde die Kölner Innenstadt zu 90, andere Stadtteile zu 80 Prozent zerstört, wohingegen Düsseldorf „nur“ zu 40 Prozent zerstört war und viele repräsentative Gebäude erhalten blieben. Dies und die Nähe zum Ruhrgebiet bewogen das britische Kabinett 1946, Düsseldorf zur Hauptstadt des Bindestrichlandes Nordrhein-Westfalen zu bestimmen. Das haben die Kölner bis heute nicht verwunden. Und die Bonner haben bis heute nicht verwunden, dass sie nach der so genannten Wiedervereinigung von der Hauptstadt der BRD wieder zu einer Residenzstadt (ähnlich wie Weimar) zurückgestuft wurden. Die „Bundesstadt“ Bonn und das Erzbistum Köln haben auch nicht mehr gemeinsam als den gleichen Dialekt – aber in einem ist sich die Bevölkerung einig, sie hassen die Düsseldorfer. Es ist also ein folkloristisches Schmähen und Geschmäht-Werden. Was mich irritiert ist, dass Sie als Imi von dieser lokalen Folklore nicht ganz unberührt geblieben sind und mich an den Niederrhein verbannen wollen, der ist jedoch auch linksrheinisch. Man behauptet rheinaufwärts beharrlich: „kölle is en jeföhl“, sollten wir Erwachsenen nicht wissen, dass man auch Rationalität und Pragmatismus braucht, um durchs Leben zu kommen?

Bergmann: Ich will nicht aus unlauterer Höflichkeit verhehlen, dass die Köln-Bonner Rheinpartie meinem Herzen näher ist als der Niederrhein und Ihr Ruhrgebiet samt Düsseldorf bei Köln. Natürlich ist Köln ein kulturhistorisches Superschwergewicht im Vergleich zu Düsseldorf. Die kölsche Verspottung D’dorfs ist mehr spielerisch als ernst gemeint. Und trotzdem ist so ein Spiel letztlich dumm, und Köln hätte so etwas ebenso wenig nötig wie Gelsenkirchen und Dortmund.

Weigoni: Der Vergleich ist fein gewählt, die Rivalität von S04 und dem BVB ähnelt der, der wahren B’russia und dem Eff Ceh, chapeau! – Um ins Bindestrichland zu schauen. Fühlen Sie sich als Nordrhein-Westfale, selbstverständlich mit einer Lipper Rose im Knopfloch?

Ulrich Bergmann, Photo privat

Bergmann: Ein bisschen schon, aber spätestens nördlich von Düsseldorf oder im Bergischen, auch in Aachen, verblasst dieses Gefühl. Ich empfinde viel Sympathie mit dem Rheinland um Köln und Bonn. Aber kölsche Sentimentalität und Selbstverliebtheit ist mir zu dünn, zu populistisch, oft auch dümmlich. Die Bonner Republik hat mich natürlich geprägt, vor allem im politischen Sinn. Ich erlebe seit meiner Kindheit ein kontinuierlich reifendes Klima demokratischen Bewusstseins, auch wenn dies durch Berlin, Rechtspopulismus und Parteienaufsplitterung derzeit ins Stolpern gerät. In Bonn konnte man Politikern im Alltag begegnen. Ich erlebte Wirtschaftsminister Schiller im Contra-Kreis-Theater bei der Premiere von Handkes „Kaspar“ und fragte ihn in der Pause nach seiner Meinung zum Stück. Als die Notstandsgesetze zur Zeit der ersten Großen Koalition im Bundestag beschlossen werden sollten, als die kleine FDP allein in der Opposition war, bin ich mit dem SDS und vielen Tausenden über die Kennedybrücke marschiert, um zu protestieren. Damals dachte ich einige Jahre lang marxistisch – aber es war viel Trotz im Spiel gegen die Generation unserer Väter, und ich genoss die Ästhetik des marxistischen Weltbilds (Überbau und Basis, Internationalismus und den Gedanken der Weltrevolution) ähnlich wie die christliche Theologie in den Bildern Michelangelos. Trotzdem war ich später für Berlin als Hauptstadt, der Fall der Mauer und das Ende des sowjetischen Besatzungsregimes waren für mich Heilung von den Wunden, die der Faschismus und der Weltkrieg geschlagen hatten. Die deutsche Teilung ging ja mitten durch meine Familie und spaltete auch mich selbst. Als mein für tot erklärter Vater 1954 als „Schwerkriegsverbrecher“ aus der Sowjetunion zurückkam, entließ mich meine neu verheiratete Mutter in den Westen. So kam ich nach Bonn, wo mein Vater sein 9 Jahre lang unterbrochenes Medizinstudium abschloss … Meine Antwort auf Ihre Frage, welche Rolle die Bonner Republik (1949-2000) auf mich als Schreibenden ausgeübt hat oder sogar immer noch ausübt, kann ich nicht eindeutig formulieren. Ich bin ja auch Europäer – je mehr, je länger ich lebe. Meine lokale Zugehörigkeit zu Deutschland oder zum römischen Rheinland spielt für mich als Schreibenden eine eher geringe Rolle. Meine Heimat habe ich in der (deutschen) Sprache. In den existentiellen Themen – Liebe und Tod, Realität und Dichtung. Bei meiner Frau, die aus Norddeutschland stammt. In meinen Erinnerungen, Reisen, in meinem Lehrerberuf, den ich sehr liebte – meine Heimat liegt also in mir selbst.

Bonn ist nicht Weimar

Fritz René Allemann

Weigoni: Gedanken ohne Inhalt sind – gerade auch – im Rheinland leer, Anschauungen ohne Begriffe wie den einer „geistig moralischen Wende“ führten in der Bonner Republik fast zu Erblindung. Politiker, die Heimat politisch definieren, sie vermarkten und das Volkstum pflegen und schänden den Begriff. Ich habe die Nation Deutschland noch nie als meine Heimat begriffen. Das ist mir zu abstrakt für das Gefühl. Heimat hat für mich immer mit konkreter Erinnerung zu tun. Politische Literatur ist weder eine ästhetische Form von Statement und Eingriff, noch selber eine mehr oder weniger avantgardistische Form von Propaganda – selbstverständlich für eine „gute Sache“ – sie kann beides immer nur auch sein, wenn sie es aber nur ist, dann ist sie keine Literatur mehr. Lehnen wir uns daher gelassen zurück, Papier beruhigt und der Text kommt zu seinem Recht. Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Ihre bevorzugte literarische Technik ist die Auflösung der Handlung in eine Folge von Tableaus, von denen viele nur aus einem Absatz bestehen. Das Alltägliche wird bei Ihnen zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine. Es geht bei den Lokalhelden und auch bei Gionos Lächeln um nichts Geringeres als die Wiederentdeckung des Unvergänglichen in der vergänglichen Zeit, auch wenn es sich pathetisch anhört: des Seins in der Existenz. Die Tragik des Rheinländers liegt darin, dass er versucht die Sinnlichkeit des Pragmatischen und die Notwendigkeit des Logischen in der Urteilsbildung miteinander zu verknüpfen. Als Wortarbeiter habe ich das sich auflösende Dasein der alten BRD in meinem zweiten Roman verdichtet und in Sprache verwandelt. Signore Bergmann, wie haben Sie das gemacht?

Bergmann: Sie werfen hier mehrere Fragen auf: Zum Begriff der Heimat sollte man dem neuen CSU-Bundesinnenminister Seehofer das wunderbare Plädoyer Zuckmayers in seinem Drama „Des Teufels General“ vorhalten; Zuckmayer nennt das Rheinland die große Völkermühle (da kommen Sie mit Ihren ungarischen Vorfahren auch vor) Zuckmayer nennt das Rheinland die Kelter Europas (Die ganze Passage finden Sie in Denis Ullrichs Rezensionsessay). Die Tragik des Rheinländers, der die Versöhnung der Sinnlichkeit des Pragmatischen mit der Logik sucht, ist ein globales Lebensproblem.

Weigoni: Da es einen Roman ist, geht es zuerst um Sprache. Und seinerzeit war ich vom proletarisch körpernahen des Rheinischen sehr angetan. Orientiert an Darstellungsweisen der Lyrik und den Kompositionsmitteln des Jazz, suche ich nach einzelnen Wörtern, die angehäuft und ausgekostet werden sollten. Sie schreiben in einer mail von einer „Rheinlandvernichtung“, es ist jedoch eine Liebeserklärung an das Rheinland, wenn auch eine ruppige. Ich denke nicht, dass sich das Rheinland mehr zuspitzen sollte. In der Form von Literatur ist es für mich nurmehr als fluide Stimmenkomposition denkbar. Welche Leistung kaum jemand goutiert hat ist, einen Roman zu schreiben, der keine Hauptfigur hat und nur aus Nebenfiguren besteht. Aber das kommt vielleicht noch, in der Literaturgeschichte sind ja die Wiederentdeckungen nach dem „Tod des Autors“ (Enzensberger) geradezu ein Hobby der Germanisten. Ist es auch das Problem Ihres Romanhelden?

Bergmann: Gionos Lächeln hat mit der Auflösung der alten Bonner Republik nichts zu tun, sondern mit den ewigen Mythen unseres Seins. Während die Bonner Republik erwachsen wurde, schafft es mein Held nicht. Er bleibt stecken in seinem unreifen Versuch eines Lebenskünstlertums. Der Ich-Erzähler glaubt, dass sein Leben ein Stück ist, das er selbst schreibt. Aber er tut zu wenig dafür. Und er entgeht, obwohl er noch so jung ist, nicht der Unausweichlichkeit des Todes, die ihn mental, psychisch und physisch begleitet. Wahrscheinlich redet hier der Autor. Der will dem Bewusstsein vom unausweichlichen Ende das Katastrophale nehmen. Damit der letzte Akt nicht in die Katastrophe führt, will er in dem Stück, das er mit seinem Leben schreibt, auch Regie führen. Dazu fehlt ihm (noch) die Reife, die Tatkraft. Zu sehr regieren ihn, den Helden (und den Autor?) die Träume und Parallelrealitäten. er will sich im Tod in sein Werk retten – aber wo ist das Werk?

„Berlin, ein upgrade von Bonn?“

KUNO

Weigoni: Seit Joyce Ulysses ist die Gattung Roman zu einem Esel geworden, dem man viel Packlasten aufbürden kann. Mich interessiert bei den Lokalhelden die Innenschau, der Blick hinter die morsche Fassade einer Gesellschaft, die permanent auf ihre moralische Stabilität verweist. Dieser Roman gleicht einem öffentlichen Verkehrsmittel, er bietet Platz für viele verschiedene Passagiere und funktioniert in einer offenen Struktur, ohne einen konstruierten Zusammenhang. Nichts im Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, nur Hollywood besteht darauf. Der Kategorisierungswahn hat dazu geführt, dass viele Künstler sich in eine Marke verwandelt haben, weil sie etwas verkaufen oder ihren Lebensstil erhalten wollen. Und dabei geraten die Kunst und ihre Kraft zwangsläufig aus dem Blick. Es geht um die Aufsprengung des erzählerischen Kontinuums. Ihr Roman Gionos Lächeln erinnert an ein japanisches Faltkunstwerk. Es geht darum, aus etwas sehr Einfachem, Unbeschriebenem etwas Komplexes und Schönes zu machen. Zu finden sind dort rhetorische Exerzitien, die zuweilen als humorig übersteigerte Stilübungen daherkommen. In Gionos Lächeln haben Sie einen Ton für jene zwischen Saturiertheit und Utopiesehnsucht driftenden Sinnsucher gefunden. Zu lesen als eine von Erzähllogik befreite Sphäre, die durch ineinander verschränkten Zeitebenen vorangetrieben wird, es ist eine Folge von Texten, die zwischen Essay und Erzählung, Novelle und Kurzgeschichte, Prosa und Lyrik changieren und Sie zeigen sich als Kurator der literarischen Moderne. Bei den mannigfaltigen Bezügen, auf die Sie als Komplementäranthologist anspielen, könnte man meinen, die wahre Welt geht erst durch die Kunsterfahrung auf – ist Gionos Lächeln eine als Biographie getarnte Autofiktion oder eine Traumbiographie?

Bergmann: Ja, Gionos Lächeln ist partiell autobiografisch – aber ich führe die schreibende Regie und lasse mich selbst scheitern, nicht um mich selbst, sondern das Problem des Scheiterns zu überhöhen. Am Schluss gebe ich mir, Janus, noch eine Chance, indem ich Giono lächeln lasse – aus der Gewissheit heraus, dass Scheitern zum Leben gehört und die Keimzelle ist, um sich selbst neu zu erschaffen. Wie stark da der Anteil eigener Regie ist, lasse ich offen. Vielleicht gibt es hier sogar Parallelitäten zur Bonner Republik. Daran dachte ich beim Schreiben nicht. Ich dachte auch nicht an Sisyphos wie ein guter Freund von mir. In der Tat aber bin ich von Camus in jungen Jahren geprägt worden.

Weigoni: Camus habe ich erst durch einen Song von Tuxedomoon kennengelernt. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein „Bürgerlicher“, sondern ein Prolet. Ich bin eher mit Didier Eribon verwandt und kann das von ihm beschriebene Gefühl der „Scham über die soziale Herkunft“ nachvollziehen. Immer wenn ich in meine „Heimatstadt“ in die Provinz fahre und meinen dementen Vater aufsuche, bin ich irritiert, wie es in diesem Kaff so lange aushalten konnte. Überall sind verrottete Spuren der Kleinbürgerlichkeit zu finden, Arbeiter (inzwischen Rentner) die „etwas besseres“ sein wollten, der kreditgetriebene Traum vom kleinen Aufstieg, erwies sich spätestens nach dem Untergang der Bonner Republik als Sackgasse. Die Arbeiter von damals (inzwischen Rentner) fühlen sich nach der Hartz 4-Reform von ihrer Partei verraten und wählen nun die AFD.

„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe.“

Heinrich Heine

Bergmann: Ihr Buch sieht schön aus mit dem Altbier auf dem Cover, das Titelbild ist eine Provokation für den Kölschtrinker – der ich ja nicht bin, ich bevorzuge Pils und jetzt, immer klarer, Rotwein (vom Kaiserstuhl). D’r Zoch öm de Häuser geht dann gleich weiter zu Pessoa und zu den rettenden Fremdwörtern gleich zu Erzählbeginn – falls überhaupt erzählt wird. In konventioneller Weise erzähle ich ja auch nicht. Das verbindet uns.

Weigoni: Der von mir verwendete Begriff „Obergärig“ bezieht sich auf die Brauweise. Als obergärige Hefe bezeichnet man die Stämme der Bierhefe Saccharomyces cerevisiae, die bei der Gärung Zellverbände bilden, in denen sich Bläschen von Gärungsgas ansammeln, wodurch die Hefe nach der Fermentation als so genannter Gest auf der Oberfläche des Jungbiers schwimmt. Die mit obergäriger Hefe gebrauten Biere werden auch obergärige Biere genannt. Dazu zählt auch das Kölsch. Während sich Düsseldorfer und Kölner durch den gemeinsamen Dialekt unterscheiden, ist das Bier durch den Farbton kenntlich, das Alt erinnert an das britische Ale, das Kölsch in seinem hellblonden Farbton an Pils. Das mag Ihnen marginal erscheinen, aber ebenso wie Walter Benjamin interessiere ich mich in meiner Prosa für das Randständige, Absonderliche der Existenz, auffällige Sozialcharaktere, die Eingeweide der Stadt, und für die Rehabilitierung des Nebensächlichen. Und so richtet sich mein Blick auf die Landschaften der „wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche“, um gewahr werden zu lassen, dass dort nicht „alles unter einander ins Flache gezogen ward“, wie good old Goethe es so mit seiner eigenen Ironie beschreibt. Vom „wässerigen“ dann doch lieber zurück zum obergärig gebrauten Bier, bei einer Blindverkostung wären die meisten Biertrinker wahrscheinlich nicht in der Lage den Geschmack zwischen dem obergärigen Alt und dem obergärigen Kölsch zu unterscheiden.

Bergmann: Ihr Roman Lokalhelden will erzählerisch beweisen, was auf der letzten Seite als Fazit steht: Heimat finden wir da, wo wir sie fliehen. Das klingt gut: G a, wie Voltaire Frédéric le Grand antwortete, als der ihn nach Sanssouci zum Souper einlud: G grand a petit.

Weigoni: Gionos Lächeln war für mich eine Weile lang die optimale ÖPNV-Lektüre (ÖPNV = Öffentlicher Personen Nahverkehr, die Red.). Der kurz getaktete Nahverkehr bot das richtige Zeitmaß, um die unterschiedlichen Passagen zu erschließen. Geübt darin bin ich durch die Arbeit an den Zombies, bei denen mir die Fahrgäste mancherlei Anlass zu Reflexion boten. Die Lokalhelden sind ebenso wie der Band mit den Erzählungen kein Filigran des Ästhetizismus, mein zweiter Roman ist gleichsam eine Reise durch die neun Kreise der Hölle des einfachen Volkes, das Rheinland ist so besehen ein Inferno besonderer Art: ein Panoptikum rheinischer Tragik und fataler Selbstüberschätzung. Daher hat das Geschmacksurteil des „Schönen“ nach dem Ende der alten BRD keine Geltung mehr. Das Handeln ist im neuen Deutschland wesentlich bestimmt durch das „Herstellen, Verwenden, Umbauen und Entsorgen von Modulen des Menschseins“. In meinen Novellen Cyberspasz habe ich beschrieben, wie die Beziehung zu den Gegenständen immer ungegenständlicher wird. Zurück zum ÖPNV, bei der nächsten Fahrt mit der Bahn stößt man unter der Lektüre bei Ihnen auf Sätze wie „Die Handlung läuft eigentlich schon“. Was Sie bereits beeindruckend mit Ihren Schlangegeschichten, den Arthurgeschichten und Kritische Körper betrieben haben, ist impressionistisches Nicht-Erzählen, poetische Momentaufnahmen wechseln sich ab mit Traumsequenzen. Kann sich richtige Literatur über die Wirklichkeit erheben, und trotzdem immer noch ganz nah dran sein an dem, was sie fühlt und beschreibt?

Bergmann: Ja. Denn die Poesie fliegt über jede Wirklichkeit hinaus, manchmal auch über sich selbst. Es geht auch gar nicht anders. Denn was ist Wirklichkeit? Ist der Traum nicht wirklich? Ist ein Wunsch keine Wirklichkeit? Ist nur das Nützliche wirklich? Und was ist nützlich? Natürlich muss jeder Mensch Wirklichkeiten hierarchisieren – denn er will ja in ihnen und von ihnen leben. Der schreibende Wirklichkeitserfinder wird auch einen Begriff von der Hierarchie der Wirklichkeiten haben. Aber er darf und er muss mit diesen Hierarchien spielen, denn nur so gelingt lebendiges Lesen und handelndes Leben.

Weigoni: Oft finden sich in Gionos Lächeln Abschnittseinstiege wie: „Kristallin“, eine Technik, die ich auch gern in den Lokalhelden verwende, um snapshotartig einen Einstieg zu schaffen. Bei mir kommt das aus der Arbeit fürs Radio, wo dem Hörer ein Wortbild vor das geistige Auge tritt; so entsteht auch Beschleunigung. Viel kommt auch aus der Filmsprache des 20. Jahrhunderts, da dem Leser der Schnitt und die Überblendung geläufig sind, braucht es auch keine Gewöhnung. Und durch das Eindringen des Dialekts wird der deutschen Sprache die semiotische Unschuld genommen. Man findet in Gionos Lächeln eine dichte, zwischen klugem Intellektualismus und juveniler Überhitztheit changierende Sprache. Immer wieder entdeckt man in Ihrer Prosa auch Wegbegleiter der eigenen Weltdurchdringung, beispielsweise Thomas Mann oder Jean-Paul Sartre. „Mein ganzes Leben ist die Inszenierung meines Sterbens.“, ist ein Satz, über den ich in Gionos Lächeln gestolpert bin. Inwieweit fällt dem prosaischen Flözgänger zuweilen der Lehrer Bergmann ins Wort?

Bergmann: Das weiß ich nicht so genau. Ich hoffe, dass jeder Schreiber verschiedene Rollen imaginiert, wo er sich befragt und zuweilen auch korrigiert. Mir fällt schon lange auf, dass viele Autoren Germanistik oder Literatur oder Theater und Medien studiert haben. Eine Akademisierung der Literatur wäre schlimm. Derart gebildete Bücher sind nicht deswegen schon gut, wenn sie durch und durch professionell daherkommen. Wenn aber ein Schreibender mit sich selbst wie ein guter Lehrer spricht, dann kann er sich zu großen Wagnissen ermutigen oder allzu unreife Versuche ausbremsen.

Weigoni: Butter bei die Fische!

Bergmann: In Gionos Lächeln spiele ich im Rahmen einer Gesamtidee einige Male, mal sichtbar, mal verborgener. Zu Beginn (Ichung, S. 14) steht eine poetische Beschreibung der Zellteilung. Es folgt eine (unironische) Heidegger-Parodie (S. 16f.). Die Seiten 24-30 entstanden aus der Beschäftigung und mehrfachen Abwandlung eines frühen Prosa-Texts von Helene Hegemann, den ich im Internet fand. Diese Variationen haben sich im Endergebnis von der Vorlage befreit, atmen aber noch ein wenig den Geist der Anregung. Es folgen Träume und Traumdeutungen (S. 32-34, 39, 40, 54 oder S. 43f.). Es gibt Bezüge zu frühen Prosatexten aus der Zeitschrift Akzente, die ich abwandelte. Es folgen reale Episoden aus meinem Leben, hier zugespitzt und eingewoben. Ich komponierte ‚Fortsetzungsaphorismen’ oder fortgesetzte kleine Szenen, etwa die vom Schatten. Es gibt einen größeren Traum, den ich mit Motiven aus der biblischen Apokalypse vernetzte. Träume, immer wieder Träume. Und Wirklichkeitsfetzen und ganze Episoden aus einem ganzen Leben, nicht nur Jugend. Nebenfiguren treten auf, Freunde, eine Begegnung mit dem Organisten Peter Bares (Sternblumen), Träume und Wahnvorstellungen anderer, darunter meine Mutter: Die Glut (der Koffer). Die Zikaden (S. 117) verdanke ich dem Biologen Mario Markus … Aber mehr verrate ich jetzt nicht.

„Ich bin ein Berliner.“

John F. Kennedy

Weigoni: Die dialektale Fremdheit korrespondiert mit der menschlichen Fremdheit: Man versteht die Rheinländer oft nicht. Im Rheinland sieht man Niklas Luhmanns Satz, wonach Kommunikation unwahrscheinlich ist, tagtäglich bestätigt. Das Merkmal einer besonderen Intelligenz der Rheinländer ist die Fähigkeit, konträre Ideen zur selben Zeit im eigenen Kopf zu haben und dabei immer noch zu funktionieren. Diese Typen befinden sich im freien Spiel des Erkenntnisvermögens, der Einbildungskraft und des Verstandes. Der Glaube dieser römisch-christlichen Spezis bezieht sich auf Gott, die Liebe auf ihr Handeln in der globalisierten Welt und die Hoffnung auf das Geschick ihrer Seele, also drei spezielle Themen der Metaphysik. Als Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ verkündet hatte, fehlte die anschauliche Grundlage, um wirkliche Erkenntnisse zu liefern, denn das Wissen der Rheinländer beschränkt sich auf das Gebiet der Natur, das bei der kritischen Vermessung des Umfangs und der jenseits der schäl Sick als resistent erwiesen wurde; zu dieser Natur, die dieser Population in Raum und Zeit erscheint, gehören im säkularen Zeitalter weder Gott noch die Freiheit des Handelns. Sie sind insgesamt keine Erscheinungen, also sind sie Dinge im Rheinland an sich: denkbar, aber nicht erkennbar. Nach Ihren – wenn man es so betrachtet – Stilübungen mit den Schlangegeschichten und den Arthurgeschichten scheinen Sie mit Gionos Lächeln dem poetologischen Verständnis sehr nahe gekommen. Raum und Zeit, Erinnerungen und Gegenwart werden in diesem Roman vermessen und verwirbelt, er liest sich wie ein Psychogramm der besonderen Art. Was kann Poesie sonst noch leisten, ist sie noch ein Steuerungsinstrument für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Widersprüche?

Bergmann: Sie erwähnen Fukuyama und seine These vom Ende der Geschichte. Wenn wir tatsächlich eine letzte Synthese erreichen – was ich nicht glaube -, wird die Poesie überflüssig. Hegels Traum von einer dialektisch fortschreitenden Geschichte, deren Ziel der absolute Geist Gottes ist, die also in den Friedhof der Vernunft führt, ist eine vielleicht nützliche Utopie. Ich habe vor einem Vierteljahrhundert Richard Rortys Plädoyer gelesen, Politik als eine handelnde Form von Poesie zu begreifen (Contingency, irony and solidarity), eine Idee, die schon Joseph Beuys formulierte. – Die poetische Literatur unserer Zeit sollte nicht primär eine Philosophie der Hoffnung beinhalten, aber sie darf Hoffnung kreieren durch Anregungen und Denkweisen bis hin zum Entwerfen des Unmöglichen. Belletristik wird wohl weiterhin das bleiben, was sie immer schon war: nützliche Unterhaltung, Kompensation und Trost, Hilfe zur Bewusstmachung der Welt und der Lebensverhältnisse, Kritik und Selbsterkenntnis, Anstoß zum Denken und Weiterdenken. Und das ist nicht wenig. – Ob Literatur dies leistet in einem Internet-Blog oder gedruckt in einem Buch oder geschrieben auf Papier oder in einem Brief – das ist egal. Ich bleibe optimistisch. Seit es das Internet gibt, explodieren die Literaturseiten und die Zeitschriften, auch die gedruckten. Noch nie gab es so viele Schreibende. Und wahrscheinlich gab es auch noch nie so viele verständige Leser wie heute.

Weigoni: Der rheinische Humor hat die Funktion eines Korrektivs, er fordert ein augenzwinkerndes Einverständnis mit dem ­Leser, dass man zwischen Bonn und Düsseldorf, gelegentlicher metaphysischer Entrücktheiten ungeachtet, immer noch die gleiche dialektale Sprachfärbung hat. Im Rheinland siegt die römisch-christliche Beschuldigungskultur. Der christliche Vergebungsprozess ist hier gewaltsam gegen das Ich und immer an den Klüngel, also unweigerlich an Konditionen gebunden. Es kommt diesen Hochkomikschnöseln nicht darauf an, eine menschliche Einstellung gegenüber anderen zu wagen oder Recht, Güte, Vergehen und menschliche Schwäche gegeneinander abzuwägen, sondern zu beschuldigen und ihr Projekt ins Recht zu setzen. Die Romantik hat, in sehr widersprüchlicher Weise versucht, genau dieses „Staatlichkeitsdenken“ in die neue Richtung einer religiösen Fundierung, einer gemeinschaftsstiftenden „Neuen Mythologie“ zu überwinden, und das auf der Basis einer Gerechtigkeitsreligion. Der Dialekt ist austauschbar, weil es für unser Verhalten keinen Unterschied macht, ob wir das Rheinland als eine Ansammlung von Bäumen, Büchern und Menschen verstehen oder uns diese Region als ein Aggregat von formlosen und farblosen Korrelaten vorstellen. Auch der Rhein folgt einem Flussbett und nicht den freitreibenden Wegen der Ontologie. Ähnlich wie Venedig von Thomas Mann „zur Illustration von Aschenbachs moralischem Niedergang“ genutzt wird, erkunde ich das Ende der Bonner Republik und den Bodensatz des Rheinlands zwischen dem 9. November 1989 und dem 11. September 2001. Im Rheinland klingen die Echos der Intertextualität seit der Loreley und Deutschland. Ein Wintermärchen besonders laut und vielstimmig. Der Problematik der Traditionsmächtigkeit bin ich mir bewusst, was lässt sich noch Neues über das Rheinland sagen, und wie kann man vor Heinrich Heine bestehen?

Bergmann: Das Ende der Bonner Republik ist bisher kein lautes Thema meines Schreibens. Die Welt wandelt sich, das ist wahr. Die Berliner Republik reagiert auf Veränderungen in der Welt wie die Bonner Republik. Andererseits, die ersten 50 Jahre der deutschen Nachkriegsgeschichte inklusive Mauerfall und Wiedervereinigung waren eine Zeit im Windschatten der Weltgeschichte. Der Kalte Krieg gewinnt aufgrund seiner Ruhe und Stabilität (wenn man von der Kuba-Krise 1962 absieht) romantische Sehnsuchtsaspekte, weil die Globalisierung und gewaltige Migrationen vor allem die gewohnte europäische Sicherheit irritieren und gefährden. – Ich habe zum 11.9.2001 eine Geschichte geschrieben – Das Konzert -, darin habe ich Stockhausens These verarbeitet, dass der terroristische Akt die gleiche Präzision und Unbedingtheit verlangt wie ein Kunstwerk. Weigoni schreibt einen ‚essayistischen Roman’ über das Ende einer weltgeschichtlichen Zeit am Beispiel des nördlichen Rheinlands parallel zum Ende der Bonner Republik. Das ist ein wichtiges Thema.

Weigoni: Die Vorstellung der Funktion einer eigenwilligen Literatur in Lokalhelden ist die, eine Weltenwende nach 1989 darzustellen, denken Sie an die Kopernikanische Revolution, ich habe in der sinnlichen Anschauung des Rheinlands eine Formalstruktur entdeckt, die der poetischen Erfassung zugänglich ist, die Formalstruktur von Raum und Zeit und einer apriorischen Zeitgenossenschaft auf der einen Seite und die Formalstruktur des dialektalen Denkens auf der anderen Seite; dies ergibt eine Form des Romans, der auf Hauptfiguren verzichtet und aus lauter Nebenfiguren besteht. Die Tage des Strudels der gesellschaftlichen Zerstreuungen nach dem Fall der Mauer gingen auch im Rheinland zu Ende, nicht auf ein Mal, sondern langsam, bis die Angriffe auf das Pentagon und die Twin Towers der Leichtigkeit ein Ende setzten. Die permanente Einübung des Denkens zeigt in Ihrem Roman, Gionos Lächeln, dass Wahrnehmung ohne mentale Einmischung überhaupt möglich ist. Hinzu kommt, dass die Identifikation des Lesers mit den wechselnden Gedankenvorgängen selbst, die Wahrnehmung eines klaren Bewusstseins erschweren kann. Zeilen wie „Wortgefüge und Sinnfüge“ verweisen auf etwas sehr einfaches, was eigentlich selten erwähnt wird: die Sprache. Macht die Kunst der Wiederholung aus dem Rheinland einen transzendenten Ort, und aus seinen Einwohnern somit Weltenbürger?

Bergmann: Warum nicht. Jahrzehntelang lasen wir amerikanische Romane, die in New York oder auch kleineren Städten der USA spielten. Oder in London. Schon lange gibt es eine südamerikanische Literatur von Bedeutung, es gibt türkische Romane, ägyptische, griechische, israelische, persische, indische, spanische, französische, polnische etc. Die Welt zeigt sich in nuce auch im Rheinland. Heute noch mehr als anno dazumal, wo nur Berlin, München und Hamburg weltliterarische Bedeutung erlangen konnten. Allerdings auch Danzig oder Köln. Aber das sind Nobelpreisträger-Ausnahmen.

„Berlin bleibt doch Berlin!“

Ronald Reagan

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weigoni: Wie ich bereits in meinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet schrieb, war die alte BRD verstrickt in Schuldzusammenhänge, ein mit einem bisschen Kosmetik übertünchtes Nazi-Land; auch das Bindestrichland NRW war ein durch die Alliierten installiertes Gebilde, das seine braune Ideengeschichte lange Zeit nicht los wurde. Diese „Bonner Republik“ musste sich emanzipieren, und dies nicht nur von den Nazis sondern auch von RAF. Dem Anspruch, festgefahrene Dogmen zu sprengen, wohnt in Lokalhelden ein intellektuell-vergnügliches Moment inne. Symptomatisch ist, welche Fraktionen im rheinischen Kulturkampf zwischen Bonn und Düsseldorf aufeinander treffen: es ist nicht mehr der alte Kampf zwischen Germanen vs. Römer, den Katholiken und Protestanten, es sind nun provinzialistische Gentrifizierungsgegner gegen die postkolonial orientierten Imis, denen vorgeworfen wird, das Geschäft des Neoliberalismus zu betreiben; in dieser Auseinandersetzung steckt noch viel drin, sie wird nicht offen genug geführt. – Etwas Nebensächliches, trinkt man in der Bundesstadt Bonn eigentlich noch Steffi obergärig?

Bergmann: Beim Recherchieren nach der Steffens-Brauerei stieß ich auf den Begriff der Fernseh-Biere. Neben der Dynamik der Globalisierung gibt es – leider – auch die global-kapitalistische Reduzierung auf wenige erfolgreiche Produkte. Es soll im Bonn-Siegburger Raum noch 40 Steffi-Kunden geben, so der Bonner General-Anzeiger. Mir ist in Bonn noch nie ein Steffi obergärig aufgefallen. Kölsch und Alt gibt es aber reichlich, vor allem Kölsch. Und Pils. Was mich betrifft, so bin ich immer mehr zum Weintrinker geworden. Daran ist Franz-Josef Degenhardt nicht schuld. Immerhin haben wir unweit von Bonn – am Drachenfels und in Oberdollendorf – den nördlichsten Weinanbau am Rhein. Und das unterscheidet uns dann doch ziemlich von Düsseldorf …

Weigoni: Um dem Scheidgen-Riesling beneidige ich Sie besonders;-) – Widmen wir uns zuletzt dem Spannungsfeld zwischen Provinzialität und Weltgefühl. Die dem Rheinländer stets angedichtete Leichtigkeit des Seins paart sich zuweilen mit einer gewissen Unbedarftheit der Wahrnehmung. Ich schätze ihren Anti-Establishment-Individualismus. Nach Abgeschlossenes Sammelgebiet geht es auch in den Lokalhelden um Vergessen, Verlorenheit, Heimatlosigkeit beziehungsweise um den Versuch, im Schreiben eine Heimat zu finden. Wir alle leben geistig von dem, was uns Menschen in bedeutungsvollen Stunden unseres Lebens weitergegeben haben. Steht zu hoffen, dass meine ruppige Liebeserklärung an das Rheinland so verstanden wird, wie sie angelegt ist. Als Absacker an Sie die letzte Frage: Ist Lektüre ein Textgenre?

Bergmann: Klar. Rheinisch gesehen geht das in Ordnung. Vor allem Texte, die auf den Bierdeckel passen, also die Strichliste der Bierchen, ein Liebesbriefchen oder die Steuererklärung. Zum Beispiel.

Weigoni: bedanke mich, bis dahin.

 

 

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Gionos Lächeln von Ulrich Bergmann, KID-Verlag Bonn 2017

Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto. Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein  Rezensionsessay von Denis Ullrich.