Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes

Alle Dinge sind leicht, schwer ist nur die Kunst, dahin zu gelangen, wo sie es werden.

Adolf Muschg

Photo: Ilion

Letztens brachte Weigoni eine Flasche Schumacher mit ins Sauerland. Dabei handeltes sich um eine Literflasche mit einem Bügelverschluss, der beim Öffnen ein herzhaftes Plopp von sich gibt. Von der Farbe dunkel, erinnert dieses Bier an das britische Ale. Aufgrund meiner Jahre in Siegen bevorzuge ich eher das Eichener, während Hieronymus zum Weizen neigt. Da Weigoni mit uns den obligatorischen Sack Salz verzehrt hat, konnten wir die Einladung zu einem, wie er sagte: „lecker Obergärig!“ nicht ausschlagen. Es gelang ihm, uns ein Glas Bier einzuschenken, das dem auf dem Cover der Lokalhelden nicht unähnlich war.

Während Hieronymus schnell wieder auf Weizen umstieg, mundete mir das Bier entgegen der Vorurteile, die man im Sauerland gegenüber der Landeshauptstadt hegt, ich neige fast dazu, es als dunkle Variante des Eichener zu sehen. Das hielt mich nicht davon ab, danach wieder auf das Bier aus Siegen umzusteigen, während Weigoni einem französischen Rotwein zusprach.

Unser Arbeitstrinken (KUNO-Redaktionssitzung!) gestaltete sich sehr weitläufig um den Themenkreis: Hät und Tät und Wenn und könnt. Es schwankte bedenklich zwischen Anarchie, Autokratie und Ethik der Alterität. In der Tradition von Friedrich Schlegel pflegt Weigoni eine romantische Ironie. Diese spezielle rheinische Ironie ist eine Entscheidung für Differenz, sie versucht, „wie aus den Augenwinkeln, noch das eingeschlossene Ausgeschlossene zu sehen“, erlaubt sich, mit der Möglichkeit passierbarer Grenzen zu rechnen und das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.

Für Hieronymus war bei diesem dialogischen Denken hingegen Walter Benjamin in Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen zur Ironie interessant: „Das europäische aller Güter, jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er ‚Verschlagen‘ ist, ist den Deutschen gänzlich abhanden gekommen.“

Zum Frühlingsanfang, eine Lichtdusche von Haimo Hieronymus

Wie meist an den Abenden in der Werkstattgalerie machte es Spaß den kreiselnden Denkbewegungen dieser Artisten zu folgen, von der Kunst zur Mystik, von der Anarchie zur Ethik, dem Motiv des umgekehrten Wiedererscheinens, bis hin zum Verschwinden des Subjekts und dem Rheinland als Realitätsmodell. Ein sich erneut manifestierendes Subjekt ist kein souveränes Subjekt mehr, das sich im Sinne der Hegel’schen Dialektik von Selbstnegation und neuerlicher Selbstbestimmung konstituieren würde, sondern ein der Nichtidentität weiterhin bewusstes und damit leidsensibles, verletzliches Subjekt.

Für seinen Heimatroman hat Weigoni die Folgen der Wiedervereinigung ins Rheinland verlagert, diese sind charakteristisch für Verhältnisse, können aber durchaus auch auf das Sauerland und schließlich auf außerdeutsche Verhältnisse der individuellen und gesellschaftlichen Unterdrückung und Unfreiheit übertragen werden, ohne dass diese Prosa damit an Brisanz und Aussagekraft verlieren würde.

Erfrischend ist, dass dieser Roman ohne Hauptfiguren und das Motiv der Heldenreise auskommt. Im Zeitalter der flachen Hierarchien ist jeder wichtig. Die polyphonen Erzählungen, die Weigoni eingesammelt hat, fügen sich zu einem Gesamtbild, auch wenn dies die Brüche zwischen den einzelnen Elementen jederzeit durchscheinen lässt und durchaus größere weiße Stellen aufweist, wo auch Elemente fehlen. Sichtbar wird ein Erinnerungsraum jenseits stabiler Traditionen, in dem das Unbewusste als Antriebskraft kultureller Prozesse wirkt. Das auktoriale Erzählen ist perdü, es lebe der Mut zur Lücke.

Von Walter Benjamin ist die Idee fixiert, ein ausschließlich aus Zitaten bestehendes Buch schreiben zu wollen. Seine im November 1936 in Luzern gedruckte Anthologie „Deutsche Menschen – Eine Folge von Briefen. Auswahl und Einleitungen von Detlef Holz“ ist ein  erträumtes Textmosaik bestehend aus ausschließlich fremden, zitierten Stimmen, gleichzeitig aber auch – ähnlich wie die „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ – ein „zerschlagenes Buch“, eine „Trümmer- oder Katastrophenstätte“.

Was wir an Weigoni im Sauerland zu schätzen gelernt haben, ist keine trockene Buchgelehrsamkeit, sondern die Sprachmaterialität des Textes, mit der er das pralle Leben zwischen den Buchblock bringt. Der Textraum wird in den Lokalhelden zum Erinnerungsraum. Daher erkennen wir beim Erkunden der Stadtgeografie die Sprachmuster der rheinischen Herkunft, die Formeln der Bekräftigung lauten: „Na, isses nicht so?“ oder „Das geht doch nicht, oder?“ oder „Ja, ist doch wahr!“

Zwischen katholischem Konservatismus und protestantischen Reformismus finden die Rheinländer zu ihrer eigenen Vision. Es ist seit 1848 ein Leben zwischen Festen und Manifesten. Vieles in den Lokalhelden ist, wenn nicht erfunden, so doch ein bisschen zurechtgebogen ist, damit es sich besser erzählen lässt. Die literarische Authentizität verdankt sich weniger dem Umstand, dass Weigoni niederschreibt, wie es wirklich gewesen ist, als der ästhetischen Anstrengung, es darzustellen, wie es glaubhafterweise gewesen sein könnte. Es ist kein autobiografisches Werk, es geht Weigoni um die Richtigkeit der Fakten und die Aufrichtigkeit der rheinischen Seelenerforschung.

Im Gegensatz zu uns Sauerländern bleibt das Leben der Rheinländer ein weit gespanntes Sehnen, eine irrationale Gewissheit künftigen Glücks, getragen allein von der Erinnerung an eine rauschhaft erlebte Begegnung und ein Versprechen. Um dies aushalten zu können bedarf es offensichtlich dieses Bieres, es sediert und hinterlässt in Maßen genossen auch keinen Kater.

In absehbarer Zeit wird Weigoni umziehen. Ihm bleibt ein langes Leben im Sauerland zu wünschen, einen ähnlichen Heimatroman über die Trinkgewohnheiten im Sauerland, das Brauchtum, das Schützenfest und den Charakter des Westfalen würde ich mir für das Sauerland wünschen. Und ich komme aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat.

 

 

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Zur Subscription freigegeben: Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend → Lesen Sie auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer.