Bruchlinien der Geschichtszeit

Der Roman ist stets ein hybrides Gebilde und ein Laboratorium des Erzählens gewesen, in dem Autoren und Leser die Probe auf das Exempel der Schreibweisen und Lesarten machen konnten, die ihre Kultur und Mentalität bestimmen.

Matthias Bauer

Auf zur Expedition Heimat. Die Zeiten, in denen literarische Heimatmotive oder -gefühle unter Kitsch-Verdacht standen und „Heimatkunst“ mit völkisch-nationalen Traditionen ganz eng assoziiert war, sind seit etlichen Jahren vorbei. Die den Ausgrenzungseffekt scheinbar relativierenden Öffnungen der „Heimat“ täuschen nicht darüber hinweg, dass die impliziten Differenzbildungen des Eigenen und Fremden wirkungsmächtig bleiben und jederzeit in gesellschaftliche Selektions- bzw. Ausschlussprozesse münden können. Auf die Heimat bezogene Literatur umfasst alles von rosarotem Kitsch bis zu düsterstem Horror. A.J. Weigoni verhandelt in den Lokalhelden Themen wie Heimat, Grenze, Fremde und damit eng verknüpft die Identitätskonzepte des Rheinländers. Seine Erinnerungsarbeit besteht aus vielen kleinen alltäglichen Szenen, die dem Leser die alte Bonner Republik näherbringen, ihren Humor begreiflicher und ihr Ende melancholischer machen als jede Objektivität abzielende Darstellung.

Sein Erzählen gleicht dem Rhein, es mäandert. Wenn man alle Sätze die Weigoni über das Rheinland geschrieben hat, zu Straßen für einen Stadtplan formt, dann winden sie sich. Dieser Romancier läßt sie ansteigen, schlängeln und im wahrsten Sinne des Wortes versacken. Durch diese Prosa kann man gleichsam flanieren; es ist lesbare Topografie. Mit den Lokalhelden hat Weigoni das Unmögliche gewagt: in einem Roman, der strengsten Formgesetzen folgt, gleichzeitig das Chaos des täglichen Lebens mitzuerzählen. Man verliert sich in dieser Prosa, verweilt bei Impressionen, steigt durch Hinterhöfe, rastet auf Rheinterrassen, verlässt das Geschriebene für Augenblicke und findet sich meist in einem Brauhaus wieder.

Der Roman ist ein eigenwilliger Hybrid aus Erzählweisen. Die Lokalhelden zeichnet sich durch eine simultane Kompositionstechnik aus, welche die Anwendung von Montage forcierte und mittels Einbau der rheinischen Mythen sowie einer ungewöhnlichen Interpunktionsweise auf dem Rahmen fällt. Fulminant ist zugleich die zeitliche Reduktion der Handlung auf einen Tag im „Landeshauptdorf“, die aus den parallel zueinander verhandelten Schicksalen verschiedener Figuren das Leben in der Achsenzeit reflektierte.

Weigoni hat die Flüchtigkeit und die Volatilität des vielgestaltigen Rheinlands eingefangen und dem kontinuierlichen Kommen und Vergehen ein Schnippchen geschlagen. Alles fliesst, alles dreht sich unablässig um sich selbst. Nichts läuft auf etwas hinaus, es gibt keinen Endpunkt, kein Ziel, keine Letztbegründung, keine Grenze. Es sind die feinen Risse in der scheinbar sorglos-gemütlichen Welt zwischen dem 9. November 1989 und dem 11.09. 2001, die diese Prosa offenlegt. Weigonis hat ein feines Sensorium für soziale Wirklichkeiten, in dieser Prosa macht er gleichsam die inneren Landschaften sichtbar, sie leuchtet wie die Gaslaternen in dem Veedel, in der er lange Jahre gelebt hat.

Die festgefahrenen Lese- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser aufzumischen, ist ein Anliegen von Weigoni. Aus rein formaler Sicht erreicht der 60-Jährige das mit sprachspielerischer Leichtigkeit. Es findet sich eine stilistische Kargheit als das auffallendste künstlerische Mittel dieses Romans auch bereits in seinem Vorgänger angelegt. Der stabilitas loci des Rheinlands wird in den Lokalhelden sowohl als identitätssichernde Einbindung in beruhigend Vertrautes, als auch als Ausgeliefertsein an die Schrecken einer übermächtigen Tradition dargestellt, der das Individuum vergeblich zu entkommen sucht. Spätestens seit Ludwig Thoma gibt es in der Literatur satirische Bissigkeit gegenüber dieser Zurichtung der jeweiligen Heimat zur touristischen Traumwelt, dieser wird ernüchternder Realismus durch Beschreibung der nicht-idyllischen und nicht-idealen Seiten der jeweiligen Region entgegengesetzt. Damit schleicht sich ein Bewusstsein von Inszenierung in den Begriff Heimat ein, ein Schuss Ironie. Man erlaubt sich Heimat im Modus gesellschaftskritisch auf sie blickender Uneigentlichkeit, was beim Blick auf die Sensationen des Gewöhnlichen dazu führt, von ihren Zumutungen in Anspruch genommen zu werden.

Seit Edgar Reitz’ Filmreihe hat sich die Tendenz als „kritischer Regionalismus“ etabliert. Die Lokalhelden setzen – wenn man so will – die kritische Heimatliteratur fort wie Johannes Bobrowskis Litauische Claviere, Horst Bieneks Gleiwitzer Tetralogie oder Manfred Peter Heins Fluchtfährte, in denen die verlorene Heimat zugleich beschworen sowie als Ort der Ideologien dargestellt und daraufhin befragt wird, wie sich nationales Denken ausgebreitet hat. Mit großer Könnerschaft skizziert Weigoni das Geschehen und gewährt Einblicke in Leben und Denken der Rheinländer. Formale Akrobatik trifft in diesem Roman auf Sprachspielereien und tiefgründige Metaphern. Es ist in perfekt arrangiertes Nebeneinander von knallhartem Realismus, Beschreibungen eines gestörten Zusammenlebens und feinsinnigen inneren Monologen. Weigoni entwickelt Typen aus Bewegungsmustern, Marotten, Stereotypen und allem, was die Körper sonst noch der Erfüllung gesellschaftlicher Rollenerwartungen unbewusst entgegensetzen.

Für die Rheinländer gilt es mit Selbstbewusstsein am Vorläufigen zu arbeiten. 1989 ist zu einem Datum geworden, das janusköpfig nun das Vorher mit einem unruhigen Danach verschränkt. In einem Metanarrativ wirft Weigoni die Frage auf, in welchen erzählerischen Formen und Formaten sich rheinische Lebensläufe überhaupt sinnfällig binden lassen – ohne ihnen Unrecht oder Gewalt anzutun. Es ist eine die scharfsichtige Demaskierung des „Weiter so Deutschland“. Dieser Roman beschreibt die rheinische Seele und ihren Mikrokosmos. Eine Funktion, die der Darstellung von Emotionen dabei zukommt, besteht in der Organisation der verschiedenen Identitätsangebote für diese Figuren. Es ist, als würden der Alkohol plötzlich nicht mehr wirken und man ist gezwungen, sich mit der Fassadenhaftigkeit der Düsseldorfer Altstadt zu befassen, wie schmutzig es hinter all dem schönen Schein ist. Die unerbittliche Diagnose lautet: auch die rheinische Bourgeoisie ist nicht heilbar.

Das Heimat-Erlebnis wird ausgelöst durch Signifikanten, die Vertrautheit implizieren. Der rheinische Dialekt ist einerseits die Sehnsucht nach dem Authentischem, nach dem Ereignis, und damit Ausdruck einer Trägheit des Individuums gegenüber den vereinheitlichenden Welt- und Erklärungsmodellen; andererseits aber sind sie wiederum nur Teil eines autoreferenziellen Spiels der Zeichen, eine weitere Drehung eines Kreislaufs der Simulation. Die Ego-Zweifel, die die Rheinländer plagen, sind gleichzeitig Leid und Vergnügen, sie machen sie erst zu Menschen, zu solchen, die sich gerne Gedanken um sich selbst machen. Sie sind klug, liebevoll und liebenswert und stehen immer kurz davor zusammenzubrechen. Heimat ist in den Lokalhelden mehr als ein nur Gegebenes, Heimat ist in diesem Roman ein Konzept, das über Gegebenes gelegt wird und dort Vorstellungen von Heimat dekonstruiert. Eine große Stärke dieses Romanciers ist sein literarisches Fingerspitzengefühl für die Feinheiten, die nicht auserzählt werden oder sich erst später erschließen. Das Rheinland befindet sich in dieser Prosa in einem fortwährenden Schwebezustand. Mit diesem Roman hat Weigoni seine eigene Lebensgeschichte in die Topografie des Rheinlands eingeschrieben.

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein  Rezensionsessay von Denis Ullrich.