Ulysses · Revisited

Dublin in Bloomtime

Diese wilden Gesichter
über dem still liegenden Fluß.
Nun verschwindet die Meute
mit dem geklauten Hut.
Dümpelnd zum Meer
bewegen sich grüne Flaschen hin.
Nachts mit gelb gewordenen Photos
kommt die Zeit mit Bloom.

Jürgen Becker

No battle is ever won

Jeder lese was, wann und wie er will. Natürlich. Was denn sonst? Wer in erster Linie aus Gründen der Zerstreuung liest, der liest aus Gründen der Zerstreuung und wird seine Gründe dafür haben. Oder auch nicht. Warum nicht ›einfach so‹ lesen? Einfach so. Einmal einfach so lesen, einfach so leben. Für wen das Buch Zuflucht bedeutet, für den bedeutet es Zuflucht. Ich erlebe Lesen, meine Art des Buchstabierens der Welt, als notwendige Form des Daseins und lese Dein Kerker bist du selbst // Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt, / Die dich in dir mit dir so stark gefangen hält. (Angelus Silesius) Ich empfinde Lesen als schönste vorstellbare Arbeit, auch als Kampf, zermürbenden lebenslänglichen Kampf – um was?, lese in William Faulkners The Sound and the Fury … no battle is ever won … not even fought … the field only reveals to man his own folly and despair … and victory is an illusion of philosophers and fools, nie als Zerstreuung, aber (auch) als Zuflucht. 1959 hatte ich auf dem Speicher ein in Spinnweben eingehülltes winzigkleines Köfferchen mit sehr alten Büchern entdeckt, ich danke noch heute der Mutter, die mich als Dreijährigen mit an diesen abenteuerlichen Ort noch oberhalb der Schlafräume genommen hatte und mich gewähren ließ, als ich das Köfferchen nicht mehr aus der Hand gab – übrigens jahrelang nicht, fast vier Jahre lang (bis es vom Schulranzen abgelöst wurde und ich plötzlich von der gewohnten linken zur rechten Schreibhand zu wechseln hatte): Ich hatte eine Welt gefunden. (Der Koffer ist längst verschwunden.) Ich beneide den Menschen, der gern Müßiggänger ist. Diese Lebensform wünsche ich mir bisweilen. Ich tue zum einen nichts lieber als arbeiten, und wenn ich nicht arbeiten kann, dann gnade mir Gott.

Ein Tag!! Zwei Tage!

Trotzdem stelle ich mir gern vor, müßig zu gehen und dabei zufrieden zu sein. Bin ich aber nicht. Tief in die Seele greifenden Streß erlebe ich, wenn ich nicht in der Lage bin zu arbeiten. Seit 2007 ermüden mich solche Phasen oft über Wochen, im Sommer über Monate. August, September, Oktober und November sind zu den verläßlichsten Monaten geworden, der Rest ist Glücksache, abhängig auch vom Wetter: Denn ebenfalls seit 2007 bin ich zum Rainman mutiert, so daß der nasse Sommer 2011 nicht der schlechteste für mich gewesen ist. Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus, schreibt Friederike Mayröcker. Ein Tag!! Zwei Tage! Ach, könnte ich doch immer mal zwei Tage bloß nicht schreiben. Das wäre der Himmel auf Erden. Zwei Tage. Herrlich. Aber wenn ich ein, zwei Tage nicht lesen kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus. In den letzten Jahren fürchte ich immer wieder, es sei – aus. Irgendwie geht es immer weiter.

… and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes

In der Zeit werden nur die Dinge bestehen,
die nicht von der Zeit sind.
Jorge Luis Borges

Meine Zeit mit (good old) Bloom, der 1922 in Paris (Auflage: 1.000) das Licht der Welt erblickt, beginnt am 16. Juni 1978 mit der bei Penguin erschienenen Taschenbuchausgabe von Ulysses. Wie oft habe ich den ersten Satz gelesen: Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay crossed. (Hunderte Mal.) Wie oft den ersten Absatz, die erste Seite, das erste Kapitel? Bis April 2011 komme ich nie über die ersten 100 Seiten hinaus.

ALLES HAT SEINE ZEIT ist ein für mich wesentlicher Kernsatz in den letzten Jahren geworden, und auch dieser Satz ist ›natürlich‹, wie so viele Wörter und Sätze, ursprünglich nicht von mir, sondern im vorliegenden Falle aus dem Buch der Prediger (3, 1–11):

Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde. Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, und Gepflanztes ausreißen hat seine Zeit. Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit. Steine schleudern hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit; Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit. Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit. Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit; Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit. Was hat nun der, welcher solches tut, für einen Gewinn bei dem, womit er sich abmüht? Ich habe die Plage gesehen, welche Gott den Menschenkindern gegeben hat, sich damit abzuplagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er in ihr Herz gelegt, da sonst der Mensch das Werk, welches Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende herausfinden könnte.

In der Sistiger Wolfskaul hat Ulysses also seine große Zeit im Jahr 2011 ∙ als ich mir Mitte Mai den lebenslangen Wunsch erfülle ∙ das Buch – in der frisch für diesen neuerlichen Anlauf besorgten ∙ in rotes Leinen gehüllten Ausgabe des New Yorker Alfred A. Knopf Verlags von 1997 (die auf der zweiten, korrigierten und neu gesetzten Ausgabe von 1961 beruht) – zu lesen ∙ ohne die Lesereise vorzeitig zu beenden ∙ ich spüre es diesmal vom ersten Satz an: Alles hat seine Zeit ∙ und die Zeit ist offenbar reif für Ulysses ∙ und ich lese das Buch ∙ my words in her mind: cold polished stones sinking through a quagmire ∙ und ich schwimme – buchstabierend (O! O!) / – durch Silben (Aum! Hek! Wal! Ak! Lub! Mor! Ma!) ∙ Wörter ∙ Sätze ∙ Bilder ∙ Farben ∙ Gesänge ∙ Stimmen ∙ Klänge ∙ Geräusche (clapclopclap ∙ Kraaandl ∙ Rrrpr) ∙ Gedanken ∙ Ideen »usw.« ∙ poetry, even when apparently most fantastic, is always a revolt against artifice, a revolt, in a sense, against actuality – weit hinaus über ersten Satz ∙ ersten Abschnitt ∙ erste Seite ∙ no pen, no ink, no table, no room, no time, no quiet, no inclination ∙ TELEMACHIA ∙ Telemachus ∙ Nestor ∙ Proteus ∙ ODYSSEE ∙ Calypso ∙ Lotuseaters ∙ Hades ∙ Aeolus ∙ Lestrygonians ∙ Scylla and Charybdis ∙ Wandering Rocks ∙ Sirens ∙ Cyclops ∙ Nausicaa ∙ Oxen of the Sun ∙ Circe ∙ NOSTOS ∙ Eumaeus ∙ Ithaca ∙ PenelopeI fear those big words which make us so unhappy ∙ bis ich ∙ nach zehn sich zu wunder|baren Jahren aufblähenden Tagen ∙ hundert und mehr Stunden lang ∙ die Lebensreise des mit Molly verheirateten Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom und des ledigen Lehrers Stephen Daedalus ∙ am 16. Juni 1904 in Dublin ∙ in allen vorstellbaren alltäglichen Nuancen ∙ mit immer wieder wunderbar ›unerhörten‹ Momenten ∙ erlebend (sehend ∙ hörend ∙ riechend ∙ spürend ∙ schmeckend) ∙ the demand that I make of my reader is that he should devote his whole life to reading my works ∙ in diesem unendliche sprachliche Abgründe ∙ Bodenlosigkeiten ∙ Krater ∙ Schlünde auslotenden ∙ unerschöpflichsten aller Wortmeere ∙ I’ve put in so many enigmas and puzzles that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that’s the only way of insuring one’s immortality ∙ den letzten Satz ∙ das letzte Wort dieses 1078 Seiten langen Gedichts ∙ Gedichts ∙ Gedichts zu fassen kriege: and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arm around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will

Yes.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.