Warum schreibt einer der Gedichte schreibt Gedichte?

Weil die Gesellschaft seine Gedichte nicht braucht? Weil er nichts oder wenig dafür bekommt? Ein wirklich überzeugendes Argument für sein Gedichteschreiben hat er nicht. Ein wirklich überzeugendes Argument dafür, dass er lebt, hat er nicht.

Nicolas Born

Zurück zu den Quellen. Die Unterscheidung der literarischen Gattungen Lyrik, Epik und Dramatik geht auf die griechische Antike, insbesondere auf die Poetik des Aristoteles zurück. Der Ordnungsbegriff Lyrik (in der Form lyrische Poesie) wird seit dem 18. Jahrhundert als Gattungsbezeichnung verwendet, seit dem 19. Jahrhundert wird er zudem oft synonym mit Poesie, Gedicht und (seltener) Dichtung gebraucht. Der Verfasser poetischer Texte formuliert Gefühle und Gedanken eines lyrischen Subjekts, das der Perspektive des Autors entsprechen kann, aber nicht muss. Beziehungen zwischen Subjekt und der es umgebenden Welt werden dabei oft in hohem Maße reflektiert und abstrahiert. Lyrische Texte sind in der Regel reich an rhetorischen Stilmitteln (Tropen und Figuren), rhythmisiert, manchmal gereimt und gelegentlich auch mit Musik verbunden, was auf ihren Ursprung verweist: Im antiken Griechenland wurde der Vortrag von Dichtung in der Regel von einer Lyra oder Kithara begleitet.

Nicht nur Gott, auch die Lyrik ist oft für tot erklärt worden. Von der Sporaden-Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum des 7. vorchristlichen Jahrhunderts bishin in die pannonische Landschaft des 21. Jahrhunderts hat die Lyrik diverse Überformungen erhalten.

Mit dem Begriff „Gedicht“ wurde ursprünglich alles schriftlich Abgefasste bezeichnet; in dem Wort „Dichtung“ hat sich noch etwas von dieser Bedeutung erhalten. Seit etwa dem 17. Jahrhundert wird der Begriff im heutigen Sinn nur noch für poetische Texte verwendet, die zur Gattung der Lyrik gehören. Erstmals wurde der etymologisch verwandte Begriff „geticht(e)“ von Martin Opitz in dessen 1624 veröffentlichten Buch von der Deutschen Poeterey als Texte, die durch eine Versdichtung gekennzeichnet sind, verwendet.

Ein umfangreiches (oft auch mehrteiliges) lyrisches Werk mit unter Umständen auch epischen Elementen wird als Langgedicht bezeichnet, ein zyklisch angelegtes als Gedichtzyklus. Eine historische Sonderform des Langgedichts ist das Poem.

Wer ein langes Gedicht schreibt, schafft sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen, opponiert gegen vorhandene Festgelegtheit und Kurzatmigkeit.

Walter Höllerer

Lyrische Texte unterscheiden sich sprachlich-formal von epischen und dramatischen vor allem durch ihre Kürze, ihre strengere sprachliche Form, ihre semantische Dichte (Ausdruckskraft) und sprachliche Ökonomie (Prägnanz), ihre Subjektivität und ihren Bezug auf ein lyrisches Subjekt (z. B. ein lyrisches Ich, Du oder Wir). Dazu werden in erhöhtem Maße und auf verschiedenen Ebenen rhetorische und formale Ausdrucksmittel verwendet (siehe beispielsweise Reim, rhetorische Figur, Metapher), was nicht selten zu einer vom Gewohnten abweichenden Anordnung von Wörtern, Wortgruppen und Sätzen führt. Eine besondere Rolle spielen zudem die lautlichen Qualitäten des verwendeten Sprachmaterials, von einfachen Assonanzen bis hin zu Formen der Onomatopoesie; im 20. Jahrhundert entwickelten sich zahlreiche Formen der Lautpoesie, die diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellen. Bei einzelnen Autoren der antiken und mittelalterlichen Lyrik, vor allem jedoch in der Lyrik des Barock und später in literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, etwa der konkreten Poesie, wird die graphische Gestalt des Textes zu einem eigenständigen, teilweise dominanten Formelement erhoben.

In der Regel unterscheiden sich lyrische Texte von solchen der Prosa auch durch ihre äußere Form (Vers, Versmaß, Strophenbau).

Im Lauf der Gattungsgeschichte verlor dieses Kriterium allerdings an Bedeutung; so finden sich bereits in Goethes Dichtung Gedichte ohne Reim und mit freien Rhythmen, die dann im 19. Jahrhundert in Frankreich als vers libre kultiviert wurden. Mit dem weitgehenden Verzicht auf die Regeln der Metrik und der Orientierung an der lebendigen Rede nähert sich der freie Vers der Prosa an. Zentrales Distinktionsmerkmal und Formelement lyrischer Texte bleibt letztlich der Vers selbst, der durch absichtsvollen, sinnstiftenden Zeilenumbruch (u. a. in Form des Enjambements) entsteht – im Unterschied dazu sind die Zeilenumbrüche in Prosatexten rein technisch erzeugt, folgen keiner textimmanenten Logik und sind für die Konstitution der Textbedeutung irrelevant.

Aus der Sicht eher linguistisch orientierter Lyriktheorien wird ein lyrischer Text als überstrukturierter Text aufgefasst. Diese Überstrukturierung bezieht sich auf die in der Sprachwissenschaft angesetzten Ebenen jeder sprachlichen Äußerung wie Phonologie, Semantik oder Syntax. So werden Reime als phonologische Überstrukturierung aufgefasst, Metaphern als semantische usw.

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet.

Michael Gratz

Angelika Janz hat keinen Gund einen Punkt zu setzen

Poetische Texte treten in zahlreichen sprachlichen Formen auf. Auf verschiedenen Ebenen der sprachlichen Gestaltung unterscheidet man Versfuß (Anapäst, Daktylus, Jambus, Trochäus u. a.), Versmaß (Alexandriner, Blankvers, Hexameter, Pentameter u. a.), Strophenform (Odenstrophen wie Alkäische Strophe, Asklepiadeische Strophe und Sapphische Strophe, Chevy-Chase-Strophe, Distichon, Sestine, Stanze (mit Sonderformen wie Siziliane, Nonarime, Huitain, Spenserstrophe), Terzine u. a.) und – formal verschieden streng definierte – Gedichtformen (Ballade, Elegie, Epigramm, Ghasel, Haiku und Senryū, Hymne, Lied, Ode, Ritornell, Sonett, Villanelle u. a.).

Hinzu kommen poetische Texte, die sich aus dem Umgang mit Sprache als Material ergeben, etwa der sprachlichen Collage und Montage, Formen des Listengedichts und Flarf, sowie Formen, die sich aus einer bestimmten Organisation des Textes ergeben, etwa Anagramm, Lipogramm und Palindrom, Akrostichon, Bildreihengedicht, Rollengedicht und Formen des Prosagedichts.

Über den einzelnen Text hinaus geht etwa die 14 Sonette und ein „Meistersonett“ umfassende Form des Sonettenkranzes, über den einzelnen Autor z. B. das japanische Kettengedicht. Gedichte, die sich diesen und ähnlichen Bestimmungen entziehen, haben nicht selten eine explizit offene Form.

Historische, heute kaum noch verwendete Gedichtformen sind u. a. Dithyrambos, Kanzone, Madrigal und Rondeau.

Thematisch und/oder stilistisch bestimmte Genres und Subgenres von Lyrik sind u. a. Confessional Poetry, Dinggedicht, Kinderlyrik, Liebeslyrik, Naturlyrik und politische Lyrik. Hinzu kommen zahlreiche, meist auch formal bestimmte Spielarten der sog. Unsinnspoesie (z. B. Clerihew, Klapphornvers, Leberreim, Limerick, Wirtinnenvers) und der Gelegenheitsdichtung.

Schreiben ist Schreien. Klingen. Sprache muss singen

Sophie Reyer

Historische lyrische Genres sind u. a. Trobadordichtung, Minnesang, Sangspruchdichtung, Bukolik bzw. Schäferdichtung und Meistersang, sowie zahlreiche zeitgebundene Subgenres, etwa die Makkaronische Dichtung.

Genreübergreifende Formen gebundener Rede sind beispielsweise Ballade, Romanze und Haibun. Zeitgenössische Mischformen finden sich u. a. im Spoken Word. Auch Liedtexte (aller Genres) sowie Hip-Hop und Rap haben Gemeinsamkeiten mit poetischen Texten.

Mit den LiteraturClips erweiterte Weigoni nicht nur die Grenzen der Sprache, er brachte auch neue Arten der Weltbeschreibung und der Wahrnehmung hervor.

Seit 1989 interessieren sich die Frank Michaelis und Weigoni unter dem Projektitel Das Labor für eine Audio-Art, die bislang nach den herkömmlichen Marktgesetzen unerschlossen bleibt. Die Menschheit steht zu Beginn der 1990er Jahre vor einer Transformation der Sprache ins Medium der technischen Kommunikation. Die Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analog­epoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind auf KUNO diskutiert worden: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, und das Ende der Gutenberg-Galaxis.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Coverphoto: Leonard Billeke

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 mit Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Diese Titelgebung ist selbstverständlich reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. 1995 begann die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger, die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Weigoni bewegt sich auf dem Hörbuch Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung, er sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

 

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

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