mikroprosa der toleranz

 

»Herr Nipp – Guppy in Gin« enthält neue nipp-geschichten von haimo hieronymus, entstanden 2020, die mich, wie schon die früheren aus »Die Angst perfekter Schwiegersöhne – ernste Geschichte von Herrn Nipp«, 2011, »Unerhörte Möglichkeiten / Kurznovellen aus dem Nippiversum«, 2012, und »Über Heblichkeiten – Floskeln und andere Ausrutscher«, 2017, alle ebenfalls erschienen in der »Edition Das Labor«, durch die figur des herrn nipp an bertolt brechts »Geschichten vom Herrn Keuner« erinnerten.

der klappentext hinten ist die parodie eines klappentextes, die endet mit: »dass so ein Rückentext meist eben nicht gelesen wird, einfach weil jeder weiß, dass das alles gelogen ist, nur eben bei Herrn Nipp nicht!« das vorwort gibt ratschläge zur lektüre des buches: »Vorsicht! Lesen macht süchtig! In keinem Fall sollten viele der Texte nacheinander in einem Rutsch gelesen werden, es könnte sein, dass sich das Opfer in widersprüchlichen Gedankenfallstricken verheddert.« das schallwort rutsch bezeichnet eine gleitende abwärtsbewegung, einen kleinen, kurzen ausflug, eine landpartie oder spritztour, bayrisch und österreichisch rutscher, sowie oberdeutsch, künftig zunehmend aktuell und für menschen gefährlich, einen erdrutsch oder bergsturz. das auch kindersprachliche »Ri-ra-rutsch«, die fortsetzung lautete »− Wir fahren mit der Kutsch.«, stammt aus dem berlinischen.

»Denken Sie bitte nicht mit beim Lesen, das macht schon Herr Nipp für Sie, alles andere zählt sowieso nicht.« und: »Lassen Sie das Lesen besser ganz sein, es könnte Sie auf eigene Gedanken bringen und wir wissen doch nun wirklich, wohin das führen kann.« damit werden lesegewohnheiten verspottet. es gibt wirklich menschen, denen das wichtigste beim lesen ist, daß sie nicht denken müssen, und schon mehrere wochen nach der lektüre eines buches nicht mehr wissen, daß sie es überhaupt gelesen haben. sie lesen, um, wie sie sagen, »abzuschalten«, also geistesabwesend zu sein.

»Glücklicherweise liest niemand, was ich schreibe, dachte Herr Nipp, also schreibe ich weiter.« die unabhängigkeit vom publikum kann beim schreiben ein vorteil sein. herr nipp und sein autor nehmen sich gern zurück, wie im gedicht »Fenster«, das den band beendet: »Der Blick hinaus / Sich zurücknehmen / Im Dunkel / Vielleicht in das Tal / In den Garten / Anrühren lassen / In Gedanken versinken«. in einer kleinstadt, in der er lebt, findet man leichter muße und konzentration. jean paul kannte freilich auch »Phrasenkleinstädterei« und einen »Winkel-Schul-Direktor«.

»Lieber Leser, du solltest wissen, dass Herr Nipp es etwas nüchterner mag. Kein Getue, keine Übertriebenheiten, nichts Gestelztes. Er mag es ehrlich und beiläufig.« hieronymus und herr nipp mögen understatements und vermeiden allzu große übertreibungen und zuspitzungen, obwohl sie auf probleme und konflikte, paradoxes und absurdes hinweisen, das sie aber maßvoll und relativierend betrachten. er beschreibt die lebenswirklichkeit, bei aller kritik im einzelnen, insgesamt tolerant, ja nachsichtig, und sieht auch seine eigenen geschichten mit humor. für veränderungen bevorzugt er kleine schritte.

man sollte herrn nipp indes nicht mit dem autor verwechseln, obwohl er manche erfahrungen und ansichten mit ihm teilt. in der figur kann hieronymus distanz zu sich selbst schaffen und das eigene reflektieren, neben dem anderen. nipp spricht annähernd so wie menschen im alltag sprechen. theoretische, begriffliche, abwertende und vulgäre worte meidet er oder verwendet sie nur scherzhaft und parodistisch, philosophische und dichterische manchmal, spöttische öfter. slogans mißtraut er. englisch slogan = slogan, schlagwort, werbespruch geht zurück auf schottisch slog orne und gälisch sluaghgairm = jeweils feldgeschrei, schlachtruf.

meist sind die nipp-geschichten alltagsepisoden, oder basieren auf solchen, und kommentieren häufig lebensformen. der autor beschreibt ganz gewöhnliche tage des postmodernisierten kleinstadtlebens. der name nipp assoziiert nippes, das ursprünglich zur zierde aufgestellte figuren oder gegenstände meinte, abgeleitet von französisch nippes = putzsachen, schmucksachen, kleidungsstücke. seit mitte des 19. jahrhundert gibts das wort nippsachen im deutschen. einige texte schildern keine fundamentalen, aber kleine ausbrüche aus der konventionellen wohlfühlgesellschaft, die den blick beschränken sowie illusionen und vorurteile schüren kann. zudem gibt es parodien der politischen und moralischen korrektheit, wie im titeltext »Guppy in Gin«, wo herr nipp mückenlarven in einem glas mit wasserpflanzen hat und nicht weiß, ob und wie und mit welchen fischen er sie tilgen soll und darf.

indem hieronymus von erlebtem und beobachtetem erzählt, in das er mitunter informationen aus nachrichten einbezieht, manchmal auch umgekehrt, hinterfragt er herrn nipps wirklichkeit. in »Abdriften, um zum Ziel zu finden« heißt es: »Herr Nipp hatte einen Onkel, der ihm an langen Abenden auf dem Balkon diese Technik des Hinterfragens beigebracht und sie mit ihm durchexerziert hat.« hinterfragen und exerzieren sind freilich gegensätze. haimo hieronymus, bildender künstler und autor sowie lehrer für deutsch und kunst, leitet eine theatergruppe an seinem gymnasium und ist überhaupt vielfältig kulturell engagiert. doch im unterricht wird ein lehrer leider manchmal zum exerzieren gezwungen. denn nicht alle schüler lernen gern und denken mit.

im text »Die Tasche« zitiert der autor den spruch »Lehrer pflanzen Samen des Wissens.«, oder besser säen. in der brechtschen geschichte vom herrn keuner, oder herrn k., dem denkenden, der figur eines gelehrten und lehrers, einer art selbstporträt brechts, »Wenn Herr K. einen Menschen liebte« heißt es: »“Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., »der Mensch.“« heute würden sich wahrscheinlich die meisten dagegen verwahren, daß ein anderer entwürfe für ihr leben macht. brecht glaubte sicher nicht an die möglichkeit der programmatischen förderung und entwicklung aller, und damit jedes, menschen entsprechend ihrer begabungen, sondern allenfalls einzelner.

georg christoph lichtenberg bemerkte: »Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung liefert uns Zwerg-Obst.«, karl kraus, der es noch drastischer mochte: »Was die Lehrer verdauen, das essen die Schüler.« friedrich nietzsche schrieb: »Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen; niemand lernt, niemand strebt danach, niemand lehrt − die Einsamkeit ertragen.« und er wies darauf hin, daß man einen zufälligen, also ungewollten, lehrer an sich abbüßen müsse. man muß dann alles verinnerlichte falsche, das einen nicht so werden läßt wie man ist, wieder aus sich herausstoßen, also erbrechen, und meist vielfach. lichtenberg sah: »Wenn wir die Mütter bilden, das heißt die Kinder im Mutterleibe erziehen.« und »Wenn man die Menschen lehrt WIE sie denken sollen und nicht ewig hin, WAS sie denken sollen, so wird auch dem Mißverständnis vorgebeugt.« beides war weit in die zukunft vorausgedacht.

johann gottfried herder fragte: »Wer lernt nicht, indem er lehrt?« peter sloterdijk erklärte in einem gespräch unterm titel »Lernen ist Vorfreude auf sich selbst«: »Wer für die Muße lernt, übt eine freie Tätigkeit aus.«, und postulierte: »Die Rettung kognitiver Libido müßte das Kernprojekt der Schule werden.« wir müßten dort »wieder einen Lebensraum aufbauen, in dem Menschen mit ihrer eigenen Intelligenz in ein libidinöses Verhältnis treten.« auch meinte er, der gute lehrer sei jener, der sich für ablehnung zur verfügung stelle, und damit das kritische denken der denkbereiten fördert, nicht zuletzt seinen eignen argumenten gegenüber. nietzsche mahnte: »Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.« die keuner-geschichte »Das Lob« berichtet: »Als Herr K. hörte, daß er von früheren Schülern gelobt wurde, sagte er: „Nachdem die Schüler schon längst die Fehler des Meisters vergessen haben, erinnert er selbst sich noch immer daran.“«

während der achtziger jahre ließ einmal ein zeichenlehrer seine schüler schmore zeichnen und malen, was für aufsehen und diskussionen unter seinen kollegen sorgte. zuvor wurden schwein, rind, hirsch oder gans gemalt, weil es schweinebraten, rinderbraten, hirschbraten und gänsebraten gibt, und schmorbraten, den marcel proust ausgiebig beschrieb. die gemalten schmore waren alle säugetiere, doch unterschiedliche. einige wenige schüler, und das sind sicher die kreativ begabtesten gewesen, schufen mischwesen, die merkmale verschiedener tiere aufwiesen, wie wir sie etwa aus dem surrealismus des altertums kennen, der assyrischen und keltischen kunst.

in »Zur Ruhe kommen« erklärte herr nipp: »Wenn Yoga, wie ich kürzlich hörte, bewusstes Atmen ist, dann ist Herr Nipp ein praktizierender Yogi. Ohne Körperverrenkungen.« yogaübungen wurzeln in konzentrationsübungen, die vedische dichter nutzten. muslime hingegen, die beten, sind sozusagen praktizierende gymnastiker, die orthopädischen schäden vorbeugen. manche pneumatiker, also gnostiker, meinten, sie könnten mit atemübungen, indem der mikrokosmos ihres körpers auf den makrokosmos des universums einwirkt, den umlauf der gestirne ändern. wer ganzheitlich wahrnimmt, kann so etwas glauben.

der anfang von »Baumarktopfer« erinnerte mich an gustave flauberts schelmenroman »Bouvard und Pécuchet«, der in der tradition von françois rabelais und miguel de cervantes steht und wie ein vorläufertext des absurden theaters wirkt. herr nipp hat schon briefmarken, münzen, mineralien, druckgrafiken, fotos, pflanzen und pilze gesammelt, hobbys, die manche plötzlich wie eine berufung entdecken, ehe das interesse daran, da sie nur kompensationen sind, schnell versiegt, wie bei bouvard und pécuchet, die, eigentlich kopisten, größere gesellschaftliche erneuerungen im sinn haben, von der architektur bis zum gartenundlandschaftsbau, von der philosophie bis zur pädagogik, von der archäologie bis zur geologie, von der biologie bis zur medizin, von der lebensmittelkonservierung bis zur schnapsbrennerei, aber bei jedem projekt als laienhafte weltveränderer scheitern.

andere texte von hieronymus ließen mich, aufgrund ihrer ironischen und humorvollen schreibart, die sie auch entspannend macht, über zwei jahrtausende hinweg, an antike satiriker wie martial, den begründer des literarischen, und oft spöttischen, epigramms, und lukian, den ungläubigen, denken, was zeigt, wie wenig sich die menschen seither verändert haben. der glaube an mythen und götter hatte im ersten und zweiten jahrhundert deutlich nachgelassen. doch man mochte bizarre und absurde geschichten und glaubte an nichts und alles. skepsis und leichtgläubigkeit lagen dicht beieinander, fast so wie heute. wenn jemand, der in 2000 jahren lebt, den heutigen menschenpark sähe, würde er wahrscheinlich sagen, daß ihm die zweibeinigen ungefiederten und breitnageligen wesen darin seltsam bekannt und bekannt seltsam vorkommen.

»Gedränge« handelt vom beginn der corona-pandemie: »Früher ist es ihm nicht so aufgefallen, das Gedränge allerorten. Zu manchen Veranstaltungen gehört es einfach, Kirmes, Fußballstadion, Openairkonzert und wahrscheinlich vielen anderen. Es war ihm allerdings nie so bewusst wie jetzt, dass es Menschen gibt, die es auf Berührungen und körperliche Nähe anlegen. Menschen, die er nicht kennt, quetschen sich ganz konsequent an Stellen durch, die schon ohne sie voll sind. Erst seit Covid-19 sieht Herr Nipp dieses Verhalten kritisch. Worum geht es diesen Leuten? Brauchen sie den Kick, andere wildfremde Menschen anzufassen oder zu spüren? Brauchen Sie die Ungewissheit, ob sie sich anstecken?« sie wollen wohl, sofern nicht psychische defekte vorliegen, die mehr oder weniger jeder hat, natürliche, man könnte auch sagen animalische, bedürfnisse nach dem berühren und berührtwerden befriedigen und ignorieren daher verhaltensregeln, die ihnen womöglich spießerhaft scheinen, und gefahren. vermutlich werden sie in ihrem sonstigen leben zu wenig berührt.

menschen machen durch corona die erfahrungen von hunden: »Ich darf hier nicht rein!« oder »Ich muß draußen bleiben!« gibts auch schilder »Vorsicht kranker Mensch!« an hauseingängen oder vorgärtenzäunen? die ungeschützten kundgebungen folgen einem egoismus, der freiheiten mißbraucht. einige verwechseln persönliche freiheit mit verantwortungslosigkeit. zur positiven freiheit gehört verantwortung über die eigene person und gruppe hinaus, notfalls bis zum freiwilligen verzicht, und nicht der mangel an vorsicht und rücksicht. zu handeln wie wenn der kleine private vorteil, keine stoffmaske anzulegen, wichtiger sei als die gefährdung und krankheit oder gar der tod anderer menschen, entspricht einem groben mangel an empathie. die vernunft der freiheit verlangt die verantwortung des einzelnen und umgekehrt. lichtenberg wußte: »Grade das Gegenteil tun ist auch eine Nachahmung.«

lukian schrieb: »Man erzählt, einem gewissen König von Ägypten sei einst die Laune angekommen, Affen tanzen zu lehren. Die Affen, wie es ihnen leicht ist, alle menschlichen Handlungen nachzumachen, lernten auch so gut, daß sie bald imstande waren, sich mit ihrer Kunst, in Purpurröcken und mit Larven vor dem Gesichte, auf öffentlichem Schauplatz sehen zu lassen. Wie sie nun, zu großem Vergnügen aller Zuschauer, im besten Tanzen begriffen waren, fiel es einem von den letztem ein, eine Handvoll Nüsse, die er eben bei sich hatte, unter sie zu werfen. Auf einmal war der Tanz vergessen, die Affen wurden aus Kriegstänzern wieder die Affen, die sie waren, balgten und bissen sich miteinander um die Nüsse herum, und in wenig Augenblicken waren die Masken zerknickt, die Kleider zu Fetzen zerrissen, und der Affentanz, wovon so viel Aufhebens gewesen war, hatte unter großem Gelächter der Zuschauer ein Ende.« die affen benehmen sich hier wie menschen.

andererseits sind oder fühlen sich manche corona-leugner und impfgegner sozial wenig geschützt und aufgehoben und muten anderen zu, was sie selbst erleiden. sie vertrauen, allzu oft belogen und betrogen, den beteuerungen von politikern und medien nicht mehr und sagen, über corona und das impfen werde uns nicht alles gesagt, was partiell ja stimmt. sogenannte alternative fakten entstehen indes ebenfalls menschengemacht und interessengelenkt, ja öffentlich geäußerte urteile formulieren praktisch immer interessenmeinungen. der mensch ist perfekt darin, meinungen zu haben, die er für eigene hält, ohne selber nachzudenken. viele wollen irgendwo dazugehören, wo man ihre standpunkte teilt und bestätigt, und folgen dann vorurteilen, bis hin zu verschwörungstheorien. zugleich hat jede ideologie, die geldundmarktreligion inbegriffen, merkmale einer verschwörungstheorie. populisten halten der gesellschaft auch einen spiegel vor. der glaube an den guten menschen ist eine nachfolgeform des glaubens an den lieben gott.

im text »Wurst«, gesprochen wurscht, heißt es: »Es gibt Menschen, denen man schon als Kind eine Wurst um den Hals hängen muss, damit wenigstens die Hunde mit ihnen spielen. Herr Nipp hat immer wieder den Eindruck, dass gerade solche Menschen im späteren Leben Machtpositionen einzunehmen versuchen, sei es in Politik, in Unternehmen oder Behörden. Vielleicht die einzige Möglichkeit, dann doch irgendwann das Gefühl zu haben, dass es Menschen gibt, die sie mögen. Sie wissen nicht, dass das eben solche sind, denen es ebenfalls um das Ablegen der Wurst geht. Glücklicherweise sind nicht alle Mächtigen so gepolt. Herrn Nipp aber ist das alles grundsätzlich Wurst, er hat lieber echte Freunde als Macht.« macht kann einsam machen. doch die beschriebenen personen können ja weiter ihren eingeübten wiederholungszwängen folgen und notfalls, als einsame mächtige, oder halbundviertelmächtige, mit bienen und wespen spielen, wenn sie sich stark parfümieren. außerdem helfen depressionen, den glauben an die eigene grandiosität zu vertreiben.

»Auf Zahlen starren« beschreibt eine technokratische welt, in der man, als sei das besonders rational und logisch, an zahlen glaubt, zudem an formeln und begriffe, wie wenn diese die wirklichkeit selbst wären, und nicht bloß zeichen dafür. man präsentiert uns unablässig börsentrends, aktienkurse, lottozahlen, wetterdaten, sportergebnisse und corona-statistiken, teils sogar unmittelbar hintereinander, so als ob man alldas leicht vertauschen könnte: sportbörse, börsensport, wetteraktien, aktienwetter, wetterlotto, lottowetter, coronabörse, börsencorona, also finanzkrise. gerade die täglichen corona-zahlen werden auffallend zahlenstatistikundtabellengläubig verkündet, was bedeuten könnte, daß der glaube an zahlen insgesamt ängste und verunsicherungen verjagen, verdecken oder kompensieren soll. der mensch ist ein verdrängungsundprojektionswesen.

»Morgennachrichten« parodiert die stereotype, das heißt klischees und floskeln, der nachrichtensendungen: »Kurzarbeit, Dividenden, Anschlag, Opfer, Staatsanwalt, Pandemie, Ministerpräsident, Regime, Wirtschaftskrise, Sanktionen, Exporte, Beschreibungen, Präsident, Regierung, Kritik, Wetter« undsoweiter, wie wenn, wieder mal, schon die begriffe die ereignisse oder erfahrungen oder gar deren erklärung wären. und die bösen sind sowieso immer die andern. zahlen und begriffe ersparen manchem das nachdenken. es ist medial vieles so eingerichtet, daß man glauben und nicht denken soll. und viele wollen das auch. das bequeme leben hat ihr gehirn ebenfalls bequem gemacht.

für die fernsehnachrichten gilt, was roland barthes über die populäre kultur der massen schrieb: »Die bastardisierte Form der Massenkultur ist die schändliche Wiederholung: Man wiederholt die Inhalte, die ideologischen Schemata, das Ausradieren der Widersprüche, doch die oberflächlichen Formen werden variiert: ständig neue Bücher, Ausstellungen, Filme, immer andere Berichte, aber stets derselbe Sinn.« die nachrichtensendungen der mehrheitsmedien, die verpopartigt wurden, wirken ritualisiert wie vatikanische zeremonien, nur in ihrer abfolge deutlich schneller. da schaue ich mir lieber live-übertragungen aus der antike an, die bedächtig das heilige arrangieren, als vergängliche profane politikerfamilienserien, die man nachrichten nennt.

»Baugrund« beklagt den verlust von friedhöfen. auch im verhältnis zum tod wird der mensch in seinem wesen, und dem gerade herrschenden zeitgeist, erkennbar. weshalb finden wir friedhöfe mit gräbern schön? allein der tod heilt alle wunden. und warum werden immer mehr menschen anonym begraben? was man toten antut, geschieht stets auch lebenden. früher war jeder lebende mensch ein künftiges skelett. in zeiten perfekter entsorgung ist selbst das nicht garantiert. mit orientalischen begräbnissen verglichen sind die mitteleuropäischen volkstümliche musik.

herrn nipp hat ein ausgeprägtes gespür und bewußtsein für die natur. zu arnsberg im sauerland, wo hieronymus im stadtteil neheim wohnt, gehören biotope der renaturierten ruhr. wiederholt erscheint der kleingarten. der autor beschreibt etwa den sinn von komposthaufen. igel, die im garten nützlich sind gegen freßplagen wie schnecken, verbringen ihren winterschlaf gern in komposthaufen. else lasker-schüler nannte kastanien in der schale grüne igel. und er achtet auf ökologie. in »Aussaat« sammelt herr nipp beim gehen durch die stadt samen von mohn, akelei, ringelblumen, wicken, bienenfreund oder erbsen und sät sie an passenden stellen im stadtgebiet aus. »Akelei sind da sehr erfolgsversprechend, weil die Ameisen die Samen in ihre Nester tragen.« das erinnert an novalis: »Freunde, der Boden ist arm, wir müssen überall Samen ausstreun, das doch nur mäßige Ernten gedeihn.« aktuelle unarten in kleingärten kritisiert hieronymus, etwa schottergärten. in manchen gärten vertreibt der rasenersatz das gras, noch bevor der menschenersatz die menschen ersetzt.

manche der nipp-texte sind nur wenige zeilen lang, wie »Pflaumen«: »Gestern hatte er noch vor dem stolzen Baum gestanden und überlegt, wie er nächstes Jahr zu beschneiden sei. Jetzt hat sich das erledigt, der Hauptstamm ist gebrochen. Zu viele Pflaumen. Ja, denkt er, Hochmut kommt vor dem Fall.« oder »Gut Kirschen essen«: »Wenn er nach draußen schaut, leuchten ihm die Kirschen rot entgegen. Früher sagte man, du sollst nach den Kirschen kein Wasser trinken, das gibt Magenkrämpfe. Das lag nicht an der Kombination, soviel ist heute klar. Es kam vom Wasser, das war früher oft nicht so klar.« mir wurde von meiner oma erklärt, man solle nach dem essen von frischem obst keine getränke mit kohlensäure trinken, weil wegen der früchte die kohlensäure im magen explodieren könne. auch nicht-wissen kann die phantasie anregen.

in »Regen« beschreibt hieronymus folgen des klimawandels. kleingärtner und bauern merken, daß die versteppung mitteleuropas begonnen hat: »Wenn mehr Menschen Wasser sammeln würden, ginge es in vielen Städten im Sommer nicht so sehr an den Grundwasserspiegel.« in meiner kindheit waren dachrinnen, die in regentonnen endeten, noch üblich. doch vorsicht, man sollte in zeiten, wo mücken ihre larven haben, regentonnen besser abdecken. sonst werden sie zu mückenbrutstätten. perspektivisch könnten gärtner schon mal olivenbaum, feigenbaum, libanon-zeder und türkische tanne pflanzen. so könnte man künftig im eigenen garten szenen aus dem »Gilgamesch-Epos« spielen. demnächst kommen vielleicht malaria-mücken und heuschreckenschwärme nach mitteleuropa. und dann wirds biblisch.

in »Himmelblau« schildert er den gesang der spatzen, tauben und amseln. etliche singvögel sind inzwischen aus stadtzentren verschwunden. ich hörte schon seit jahren keinen kuckuck mehr im wohngebiet. immerhin sieht und hört man übers jahr noch amseln, meisen, stare, rotschwänze, sperlinge, grünfinken, stieglitze, tauben, milane, krähen, elstern und häher. ich wohne im krähenrevier, wo elstern ferngehalten werden. letztes jahr hörte ich den lautesten krähenschrei meines lebens. ich stand am angekippten fenster, als eine elster rasant auf mich zuflog, mit ihrem schwanz an der dachrinne vom vordach hängenblieb und es gerade so übers dach schaffte. direkt hinter ihr kam eine rabenkrähe. offenbar durch die plötzlich veränderte flugkurve der elster irritiert, krachte sie, einen meter von mir entfernt, aufs vordach und schrie laut. der aufprall muß ihr weh getan haben. sie schimpfte danach minutenlang krächzend und nannte die elster »Reittier des Teufels«, »Abfallfresser« und »Schwatzbase«. meine kommentare nähern sich der ironie und dem humor bei haimo ironiemus.

in »Am Wald« geht ein kurzsichtiger jäger zu einem hochsitz. »Bereits nach kurzer Zeit erblickt er auf der Wiese vor sich zwei Stücke Wild, prächtige Hirsche. Zwei Mal drückt er ab und trifft. Es wird sich zeigen, ob er die Rinder bergen kann.« das könnte ebenso eine kuriose zeitungsmeldung sein. aber wie kommen die rinder vor einen hochstand? sind sie von ihrer koppel geflohen? und weshalb trägt der jäger keine brille? hätte er sich in der zeit geirrt, wäre er vielleicht mit mammuts oder sauriern konfrontiert gewesen. doch wie gesagt, der autor vermeidet allzu große extreme. auch krokodile, überlebende saurier, warten bei ihm nicht in flüssen des sauerlands auf beute. in bayern ist einmal ein verheirateter regionalpolitiker von einer kamera im wald, deren aufnahmen förster für die schätzung des wildbestands nutzen, mit seiner geliebten in verschiedenen stellungen gefilmt worden. das wäre auch eine geschichte für herrn nipp.

 

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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie