Tschandragupta

Meinem Sohn Paul

Tschandragupta ist siebenzig Jahre alt. Am frühen Morgen wird ihn sein Sohn erschlagen. So ist es Sitte im Stamm. Und vor ihren Zelten schreien die Weiber und ihre Söhne klatschen mit ihren Händen einen wilden Freudentaumel. Der neue Häuptling zerbeißt das Genick eines Elefantenkalbes, springt dreimal über seinen Stamm, der steht aufgerichtet, ein Haupt, da er trägt seines Königs Dach. Und Tschandragupta, des erschlagenen greisen Tschandraguptas Sohn, liebt des Melechs Tochter. Sie lockt ihn übers Meer. Und an einem Gebettag des Jehovavolkes nimmt der junge Häuptling heimlich sein Weib, bringt es in sein heidnisches Land. Und die Tochter des Melechs schenkt ihm einen Sohn, den nennt Tschandragupta: Tschandragupta und nach seines Weibes Vater, dem Melech. Und Tschandragupta, der Abtrünnigen Sohn, hat Sehnsucht nach den Juden. Die Heidenmädchen lieben ihn, eine opfert ihm ihr Federkleid. Er fliegt an allen Sternen vorbei zu den Juden. Und die Leute von Jericho glauben, ein Engel sitze vor dem Tor und bringen den Schlafenden auf ihren Händen in die Stadt. Gehen in das Haus des obersten Priesters und holen ihn nach dem Hügel, worauf Jehovas Tempel steht. Denn sie haben den heiligen Fremdling unter der Balsamstaude auf weichem Moos gebettet, und die Tochter des obersten Priesters wäscht seine Füße mit der Quelle. Da spaltet der Wind des Fremdlings Federkleid, – er erwacht – und die Leute sehen, daß er kein Gottgesandter ist und sie höhnen ihn. Aber ein Deuter ängstigt die Enttäuschten: Der dort ist Schaitan. Der Oberpriester nimmt den verhöhnten Gast in sein Haus. Der sehnt sich nach den Juden, beschenkt die Männer auf den Plätzen und schlichtet ihren Streit und gewinnt so der Juden Herz. Und den Frauen hilft er die Rosen pflücken. Nur Schlôme, seines gastlichen Hauses Tochter, gewahrt er nie, und doch ist sie die früheste an den Hecken. Und Tschandragupta schnitzt Räucherbecken aus Elefantenzahn für den Altar Jehovas. Aber der oberste Priester verschmäht sie sanft. Da wird Tschandragupta traurig und mit ihm Schlôme, des obersten Priesters einziges Kind. Und sie bittet ihren Vater, die fromme Gabe seines Gastes nicht zu verachten; der ehrwürdige Knecht Jehovas aber wendet sein Angesicht. Da geht Tschandragupta und fällt die Stämme der schwarzen Rosen, Jehova einen Altar zu bauen, aber der oberste Priester wehrt ihm schmerzlich. Nun weint des Häuptlings Tschandraguptas Sohn und heimlich in ihren Schleiern Schlôme, des treuen Knecht Jehovas einzige Tochter. Und sie schilt ihren Vater seines Hochmuts. In der Dämmerung besteigt sie den Hügel, auf dem der Tempel Gottes steht, entfaltet ihr Angesicht und läßt ihre Haare spielen wie Eva vor dem Schöpfer und beginnt ihrem Gotte zu schmeicheln, erinnert ihn an den Schmerz der Liebe, da er noch Zebaoth hieß und das blinde Weib im Paradies ihn hinterging, und ihre Gebete werden Liebkosungen, und so versündigt sich des obersten Priesters einziges Kind. Den Hügel herab steigt sie, stolpert über ihres Hauses Gast, der sitzt unter der Balsamstaude und sehnt sich nach den Juden. Glieder waren aus seiner Glieder Glieder gewachsen, die sich sehnsüchtig verschlungen hielten, wie die vielarmigen Götzen seiner Heimat. Seitdem Tschandragupta in der Stadt weilt, bieten alte, fratzenhafte Weibchen in den Winkeln der Straße oder in den Gruben hinter ihren Häusern heimlich verbotene Spielereien den stillen Mädchen von Jericho feil. In Urnen halten die Freundinnen Schlômes die kleinen Heidenliebesgötter gefangen und lächeln so eigen im Schlaf mit ihnen. Aber Tschandragupta sinnt, das hartherzige Herz des Priesters zu gewinnen. Mühsam gräbt er nach Gold in den Wäldern der Oase und belegt den Hügel, auf dem der ersehnte Gottestempel steht, mit seinem Fleiß. Prägt ein Stück Leben seines Nackens nach der edelsten Münze des Judenlandes und legt das atmende Gold zu dem verglommenen. Und die Leute der Stadt sehen von ihren Dächern den strahlenden Hügel. Eilen in des Oberpriesters Haus: »Die Sonne ist vom Himmel gefallen!« Aber der weiß, wer alles die Pracht gesäet, verbirgt sein Angesicht; denn er hat den Fremdling lieb. Und Schlôme hängt sich an ihres Vaters Schoß, bittet ihn, den frommen Wunsch des Jünglings zu erfüllen. Aber er sendet ungeduldig von den ehrlichen Hirten zwei zu dem Hügel, daß sie sammeln sollen das Gold in Säcken und nicht ein Stäubchen verloren gehe. Ist doch die lebendige Münze aus goldenem Fleisch und Blut schon abhanden gekommen. Da pocht der Deuter an das Haus des fürsorglichen Priesters, warnt ihn des beleidigten Volkes wegen: Der Enkel des Melechs wird dein einziges Kind töten. Aber der zuversichtliche Priester erinnert ihn an den Morgen, da er den sanften Heiden seines Hauses beschimpfte und die Leute beängstigte. Die sammeln sich auf den Plätzen in murrenden Scharen und ziehen vor ihres Oberpriesters Haus. Die Männer reißen an seinen starken Wurzeln und die Weiber springen wie Katzen um seine Balken. Und sie fordern von ihm, daß er den friedfertigen Fremdling zu Jehova führe. Beschimpfen ihren obersten Priester einen Dieb an Jehovas Gaben. Und Schlôme steht auf dem Dach, die Stadt sieht zum erstenmal ihr nacktes Angesicht. Wie eine lechzende Flamme seufzt ihre Stimme und schürt das Volk gegen ihren Vater auf. Vor seines ehrwürdigen Raumes Pforte lauscht Tschandragupta, seine Augen sind eingesunken und sein Atem hungert. Da kommt über ihn das Fieber seines Stammes nach verlorener Schlacht. Mit geöffnetem Rachen irrt der Fremdling an die Wände der Häuser vorbei. Die verscheuchten Rosen der Hecken flattern auf, sein Atem peitscht die Bäume und Sträucher um. Über die tobende Menge setzt er, »wer wagt Schaitan zu bezwingen!« Bis zu den Knien waten die bebenden Hirten heimwärts ihren Lämmern voraus, die sind von Menschensaft bespritzt. Um den Hügel, worauf der Tempel steht, kreist Tschandragupta, ein böser Stern, ihm rinnt das Blut schwarz aus den Poren. Und die Leute gedenken des Deuters und kriechen auf Knieen, auf dem Leibe kriechen sie über die Dächer und dringen so in des Oberpriesters Haus. Fordern sein Opfer, hat er doch soviel Unglück gebracht über die blühende Stadt. Und Schlôme salbt ihre Glieder wie zur Hochzeit, sie hatte des Deuters Warnung vernommen. Und sie schwingt sich herab, eine zarte Wolke von der Höhe ihres Hauses und wandelt lächelnd immer näher dem tödlichen Kuß. Es finstern die Sterne wie das Haupt des Häuptlings; das drohte ihr unzählige Male auf dem Vorhang der heiligen Gerätschaften. Über die Namen der Wildväter, die in heidnischen Zeichen und Bildern geprägt sind in Tschandraguptas Fleisch, fließt Schlômes geweihte Süßigkeit, über seine goldenen Lenden hinab, wie rosenfarbener Honigseim. Zwischen seinen Zähnen trägt er verzückt sein letztes Opfer, ihren Leib hin über Jericho. Die schmeichelnde Dunkelheit beleckt die Straßen und Plätze, die Brunnen bluten nicht mehr. Und aus des Oberpriesters Haus, in den Schleiern Schlômes tritt Tschandragupta wie die Frauen der Stadt. O und sein Wesen so liebevoll tastend, wie ein kindtragendes Weib. Zwischen den schaudernden Frauen, hinter den Gittern setzt er sich in den Tempel und seine Gebete tönen zwischen seinen Lippen, sanftes Gurren der Taube. Niemand hemmt den Wandel des Melech’s Enkel. Auch im ergrauten Feierkleid der tempelalte Knecht nicht.

 

 

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Der Prinz von Theben, ein Geschichtenbuch von Else Lasker-Schüler. Paul Cassirer, Berlin 1920

Ab 1910 wendet sich Else Lasker-Schüler allmählich von der weiblichen Erzählposition ab und lässt Jussuf – der in etwa als biblischer Joseph genommen werden kann – zu Wort kommen.Im vorliegenden ziemlich archaischen Geschichtenbuch tritt Jussuf, der titelgebende Prinz von Theben, allerdings nur in der Geschichte Abigail der Dritte auf und stirbt am Ende dieser überschaubaren Episode. Folgerichtig ist in den nachstehenden letzten drei Geschichten des Buches höchstens von dem toten Prinzen die Rede. Die erste Geschichte – Der Scheik – und die letzte – Der Kreuzfahrer – sprechen unter anderen jeweils die Sühne zwischen den Religionen an und machen somit das restliche, zumeist schaurig-schreckliche Geschehen ein klein wenig erträglicher.
„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.

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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.