BILD 1. Karibische Landschaft.

 

Das Meer im Hintergrund: von Türkis bis Indigo.

Der Himmel oben: von Ultramarin bis Kobalt.

Der Sonnenkreis in der Mitte: von Orange bis Purpurrot.

Dunkelblaue Umrisse im Vordergrund: eine Frau und ein Mann. Sie sitzen in einem Café am Strand, an einem runden Marmortisch. Perlmuttweiß.

Auf dem sandigen Boden liegen ihre Schatten. Chocolat.

Die beiden schweigen. Sie sehen sich nicht an.

Die Frau spielt mit ihrem Feuerzeug. Es ist ein außergewöhnlich aussehender Gegenstand, keiner von denen, die man am Bahnhof kaufen kann. Er hat oben eine Fassung aus Kupfer, die eine Ei-dechse darstellt. Unten steckt er in einer Umrandung aus schwarzem Holz, die eine haltende Hand darstellen soll. Drei sehr feine Ketten umschlingen deren vermeintliches Gelenk und binden es fest angespannt an das Halsband der Eidechse. Die Frau dreht das Feuerzeug in ihren Fingern, schlägt mal mit dessen oberen, mal mit dem unteren Teil regelmäßig auf den Tisch.

Wenn der obere Teil gegen die Marmorplatte stößt, gibt es ein metallisches Klirren, wenn der untere Teil es tut, ein dumpfes Klopfen. Die Frau schlägt einmal mit der langen Seitenkante auf den Stein. Der Klang der Ketten ist überraschend schal.

Sie wechselt die Reihenfolge immer wieder ab: oben, Kante, unten. Unten, oben, Kante. Kante, unten, oben. Oben, unten, Kante. Sie will nun einen rhythmisch zusammenhängenden Klang erzeugen. Unten-Kante, unten-Kante, unten-unten-unten. Oben-Kante. Unten-Kante, unten-Kante, unten-unten-unten. Oben-Kante. Tief-mittel, tief-mittel, tief-tief-tief. Hoch-mittel. Tief-mittel, tief-mittel, tief-tief-tief./ Hoch-mittel usw. Die Frau sieht eine mögliche Transkription dieses Klangmusters vor den Augen. Ihre Hand bewegt sich auf ihrer Hälfte des Tisches von links nach rechts und von unten nach oben. Ihre Augen folgen der unsichtbaren Notenzeile.

Das Transkribieren ist eine bewährte Art, Information und Botschaft zu organisieren. Eine Form der Ordnung an der Oberfläche; so darf das Chaos in der Tiefe ungestört gedeihen. Die Ordnung agiert anhand von sichtbaren Strukturen und Mustern, um Information und Botschaft erkennbar, verständlich und zugänglich zu machen. Das Chaos darf gesichert die Wurzel der Ordnung weiterhin in der Tiefe sabotieren und, ungestört, diese jedes Mal aufs Neue rücksichtslos versetzen.

– „Hör doch, bitte, auf!“ sagt der Mann, ohne den Blick von dem Meer abzuwenden.

– „Es klingt vertraut, findest du nicht?“ fragt die Frau.

– „Nein!“ antwortet der Mann.

Das konkret Erlebte erreicht bei weitem nicht die Qualität dessen, was das Denken erreichen kann, wenn es das Konkrete des Erlebten für sich beansprucht. Dieses wird zum puren Erleben. Das Geschehen wird auf das Wesentliche konzentriert. Es nimmt  die Form einer Transkription ganz und gar an.

Die Frau hat in ihrem Kopf ein ganzes Orchesterarrangement um diese Urform kreisen lassen.

– „Ich hab dir doch gesagt, du sollst damit aufhören, hörst du nicht?“ schnaubt der Mann sie an.

Sie hört auf zu klopfen und legt das Feuerzeug geräuschlos auf den Tisch. Sie steht auf, nimmt die Handtasche und geht in das Lokal hinein, vermutlich auf die Toilette, um in Ruhe zu weinen.

Der Mann nimmt das Feuerzeug in die Hand und spielt mit dem Daumen am Kopf der Eidechse herum. Klickt an, klickt aus. An, aus. Er findet den Gegenstand völlig geschmacklos.

Als er ihn vor zwei Jahren der Frau geschenkt hatte, fand er ihn witzig, weil er ihn unter witzigen Umständen erworben hatte. Auf dem Flohmarkt, an einem Stand mit skurrilen Kultobjekten.  Überwiegend Kitsch. Reproduktionen von da Vincis Abendmahl umrahmt von kleinen, bunten Glühbirnen. Holzfigurinen der indischen Mythologie mit vergoldeten verstellbaren Geschlechtsteilen. Miniaturfiguren aus dem chinesischen und griechischen Horoskop, CDs mit Tantras und esoterischer Musik. Babeltürme aus Keramikwürfeln als Baukastenspiel, ägyptische Stelen mit Reliefbildnissen von Hollywood- und Popstars. Die Verkäuferin sah den amüsierten Blick des Mannes und sprach ihn an.

Sie zeigte ihm das Feuerzeug und erklärte, dass die Eidechse ein Symbol der Seele auf der Suche nach Wärme und Licht wäre, und wenn ihm das nicht gefiele, dann könnte er darin einen Salamander sehen, das Symbol des ewigen Feuers. Und die Hand symbolisierte die herrschende, irdische Macht, oder wenn er wollte, buddhistisch gesehen, das Geheimnis der Gesten, also der Kommunikation. Und die Ketten würden die Seele an die Vernunft festbinden, oder er könnte darin die geheimnisvolle Kraft sehen, die das Feuer zähmen kann. Wie er wollte. Aber, wenn er verliebt sein sollte, wäre dies der ideale Liebestalisman, den er seiner Freundin schenken könnte. Also hat der Mann das fürchterliche Ding gekauft.

Er dreht es jetzt in den Fingern und schlägt damit rhythmisch auf die Marmorplatte. Es gab zweifelsohne Anziehung am Anfang, nun reifte sie nicht zur Verliebtheit, geschweige zur Liebe. Mittlerweile ist daraus Hass geworden. Unbegreiflich die Überflüssigkeiten des Lebens. So betrachtet, ist dieses Feuerzeug tatsächlich ein verhängnisvoller Gegenstand gewesen, nicht wahr? Eine Schnittstelle zwischen dem Voraussehbaren und dem Zufall, der schließlich allen in die Quere kommt.

Die Frau ist wieder zurück. Sie setzt sich hin und sieht dem Mann zu, während er mit dem Feuerzeug auf den Tisch schlägt. Unten-Kante-oben. Kante-oben-unten. Oben-unten-Kante. Tief-mittel-hoch. Mittel-hoch-tief. Hoch-tief-mittel. Diese Inkonsequenz stört sie. Sie nimmt das leere Glas und klopft damit vorsichtig auf den Tisch. Im Grunde genommen unterscheiden sich die Eigenschaften wenig voneinander, stellt sie fest.

Wenn man mit dem Boden des Glases klopft, ist der Klang gesättigt und tief. Auf der Kante klingt er neutral und schal, auf dem Rand hoch, klirrend. Sie schlägt mit dem Glas auf den Tisch im gleichen Rhythmus und in gleicher Reihenfolge wie der Mann mit dem Feuerzeug jetzt, nur setzt sie einen Takt später ein.

Transkription: Kanon.

Er:  tief mittel hoch       tief mittel hoch

Sie:       tief mittel hoch        tief mittel hoch

Er:             mittel hoch tief         mittel hoch tief

Sie:                    mittel hoch tief        mittel hoch tief

Er:                              hoch tief mittel       hoch tief mittel

Sie:                                    hoch tief mittel        hoch tief mittel

Die Frau und der Mann sitzen sich gegenüber am Marmortisch und schlagen mit Gegenständen auf die glatte Oberfläche.

Sie sprechen nicht und sehen sich nicht an.

Sie erzeugen ihre versetzten Rhythmen, ihre Parallelmuster an dem gemeinsam besetzten Tisch. Es gilt noch zu entscheiden, was Tiefe, was Mitte, und was Höhe für jeden von ihnen stellvertretend zu verdeutlichen hat. Über Grundsätzliches sind sich Frau und Mann am Tisch einig: Höhen, Mitten und Tiefen geben die geläufigsten Formeln der Erkenntnis im Leben wieder. Beide haben dies schon erkannt und gemeinsam oder jeder für sich erlebt: hoch ist Freud und tief ist Leid und dazwischen ist das Mittelmaßgefühl des Alltags.

An diesem karibischen Ort nehmen die Frau und der Mann von all dem Urlaub. Sie tun es, um Leid zu vergessen, Alltag zu bewältigen und Freude zu erzwingen. Sie versuchen es, weil sie im Augenblick nicht wissen, wie sie sonst der Leere zwischen ihnen entfliehen könnten. Sie versuchen es nicht nur durch Schweigen. Sie wollen es versuchen, indem sie durch Klopfen von Rhythmen und durch Erzeugen von Klangmustern nach dem Einen suchen, das beiden entspricht. Sie wollen nach dem gemeinsamen Nenner, nach der Formel suchen, der ihre parallelen Erkenntnisse entsprungen sind.

– „Ich will wissen, wie es weiter geht, was du jetzt vorhast“, sagt die Frau.

– „Wie, was ich vorhabe? Genießen, ausruhen, entspannen. Das habe ich vor“, erwidert der Mann.

– „Das meine ich nicht“, sagt die Frau. „Ich meine uns“.

– „Ich weiß, was du meinst“.

– „Und?“

– „Und was?“ verliert der Mann die Geduld.

Die Frau schweigt

– „Was willst du eigentlich?“ wiederholt der Mann. „Ist es dir hier nicht schön genug? Nicht gut genug? Was willst du denn mehr?“

– „Wir reden aneinander vorbei“, sagt sie.

Die Frau und der Mann sehen sich nicht an, sie sehen auf ihre Hände.

Sie schlagen mit ihren improvisierten Instrumenten auf den Marmortisch, umgeben von der sommerlichen Landschaft.

Das Meer rauscht im Hintergrund, die Möwen schreien. Gemurmel und Geschirrgeklirr wehen von den anderen Tischen zu ihnen hinüber. Die Kakophonie um sie herum erstellt eigene Muster. Sie umfasst viel zu viele Variationen von Höhen, Tiefen und Mitten. Zu viele Formeln der Erkenntnis und keinen einzigen vernünftigen gemeinsamen Code. Wie soll man sie deuten können? Die Transkription ist nicht in einer einzigen Notenzeile zu fassen. Die Transkription ist unmöglich. 

– „Lass uns schneller machen!“ spornt der Mann an. Er scheint mittlerweile besser gelaunt zu sein.

– „Lass uns den Rhythmus ändern“, macht die Frau mit. „Wie wäre es damit?“

Sie spielt vor und schlägt: oben-oben-oben, oben-oben-mittel, oben-mittel-mittel, oben-mittel-tief, mittel-mittel-tief, mittel-tief-tief, tief-tief-tief.

Und noch mal von vorne!

Freude-Freude-Freude, Freude-Freude-Alltag, Freude-Alltag-Alltag, Freude-Alltag-Leid, Alltag-Alltag-Leid, Alltag-Leid-Leid, Leid-Leid-Leid.

Der Mann folgt dem Schlagrhythmus ihrer Hand mit seinem Kopf, der rhythmisch nickt und schlägt den Takt. Nach einigen Takten setzt der Mann seine Hand und sein Spielzeug ein und spielt sich zögerlich aber korrekt ein.

Sie sprechen nicht und sehen sich nicht an. Sie konzentrieren sich beide ganz und gar auf ihre Muster und klopfen jetzt lauter und schneller. Lauter und schneller.

Einer von ihnen muss früher oder später als erster außer Takt kommen und den Rhythmus verlieren.

 

 

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Am Todestag von Ioona Rauschan erinnerte KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

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Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.