Werden Sie ruhig ein bißchen wahnsinnig …

Vom Lesen in Versnetze_fünf

Unbeugsam scheint der Überlesenswille des urigen Lyrikvölkchens im bildwild zerklüfteten deut­schen Sprachraum angesichts der weiterhin ansteigenden Buchflut zu sein, in der sich Millionen Versfüße tummeln. Ach Gott, schon wieder Gedichte, hör ich Peer Quer, den feinen kleinen Freund, Mrs Columbo ins Öhrchen flüstern, als er Versnetze_fünf auf dem Tisch liegen sieht. Aber, aber, meine Dame, mein Herr: ›Gedicht‹ und ›Gott‹, das geht doch, glaube ich, immer schon ganz gut zusammen, oder – etwa – nicht: ogottogott, wußte schon Ernst Jandl mit dramati­schen Pfunden zu schummeln.

Und, schwups, lese ich bei Lutz Rathenow: Darf Gott göttlich sein? Tja, ich weiß nicht, was, Gott, hilf mir, soll es bedeuten, wer lacht hier / hat gelacht? Jedenfalls habe ich Lunte gerochen und folge, heiß auf Er­kenntnis, schwindlings der Schweißspur, that is blowing in the wind (bin nicht bloß Lyrik-, nein, auch Krimi­naltango-Fan), und lese, die Nase millimeternah am Blatt (was, in erster Linie, wohl mit der sieben Jahre alten – kei­neswegs rosaroten – Brille zu tun hat) weiter und stolpre, mich flott bei Caroline Hartge einha­kend, über verdammt gottverlassene straßen, wo ir­gendwo ein erwogenes gottes geschenk – einfach so (oder ›so‹) etwa? – herumliegt.

Sieh da, sieh da, gerad erst hab ich mich, von der launischen Stimmung des Augenblicks be­zirzt (»Eigentlich könnte jedes Gedicht / den Titel ›Augenblick‹ tragen« ∙ Wisława Szymborska), auf die ›göttliche‹ Wortspielspannung eingelassen, schon werd ich von Versen weiter gegängelt, treff nochmals auf das Wörtchen ›gott­ver­lassen‹ – bei Chris­toph Leisten ist es dieser eine gottverlas­sene clochard, der sich, kommt durch­aus un/ge­legen, verwegen in den Kontext schlängelt, und folglich alles bestens mithin.

Schaun wir, wie es vorwärts – Stückwerk? weltwärts? (Halt!) – geht, ach, seht, dort steht schon bald Marianne Ullmann hilfsbereit am Wegrand (win­kend): Vom Himmel aus Landschaftstextur / als Lesart von Gott – ja, Menschen, die Gedichte schrei­ben, sind stets und immer Alteregoisten, lassen drum die Leser nie bedröppelt klamm im Regen stehn: Gott sei Dank – schreibt jedenfalls Gisela Noy.

Was hör ich? Gott redet mit dir dauernd im Park (Francisca Ricinski), und ist das nun gottes gnaden­willkür, wie Karl Rovers in den Raum stellt? (Mit gottesdienstlicher erneuerung hat es jedenfalls rein gar nix zu tun, wie ein paar Verse weiter zu lesen ist.) Ich laß die letzte/n Frage/n hier einfach mal: offen, rufe, mit Scardanelli: »Komm! ins Offene, Freund!«

Jetzt aber, du lieber mein Gott noch: darf es ein wenig / ohne Gott sein, wirft Elke Böhm, ziemlich hinterforschig, ein, was mich ein bißchen doch verstört (oder hab ich mich – verhört?), hatte mich doch gerade so gut ›eingerichtet‹ im Versnetze-Leben, nix scheint einem heutzutag vergönnt, was sind das, o Gott, für Zeiten, sprecht! (»Keine hört mich, alles stille. Also ist es Götterwille«, hör ich Papageno jammern.) Also weiter, im­mer weiter, ach, um gotteswillen, schnapp ich bei Wolf­gang Haenle auf, denn das Gottver­trauen, das noch immer entzifferbar ist (Fritz Deppert) in diesen Ver­sen, führt mich schnur und stracks zu Richard Dove, der mir zeigt, wo Gott hockt: Südlich der Stadt, / wo Gott einst studierte.

Wer hätte das gedacht, aber so sind’s halt, die Gedichte, immer für die eine und auch schon mal die andere Überraschung gut (in einem las ich vor ein paar Jahren, wie nicht die Titanic, nein, nein, der Eisberg unterging, und wenn das nun keine gottgewollte Fügung ist, dann glaub ich, wohl wahr, an gar nichts mehr), jedenfalls: Keiner weiß nie, wie sie denn wo aus- oder untergehn, und so sind auch die Lyrik-Sammelbände fabelvolle Flunder- … Wunder- … Zundertüten – knallprallvoll mit Götterduft und Nabelschau (liegt hier ein Spötter in der Luft?), die Seit um Seite, Blatt um Blatt … am besten, Sie lesen selbst.

Joseph Buhl aus Gottmannshofen besingt den Abend des Goldtons, was, bei rechtem Lichte be­trachtet, unvergleichlich göttlich klingt, wann wird man je verstehn? Hoppla, du hast einen gott / übersprungen, neckt Hartwig Mauritz (sein Wort in Gottes Ohr?), ich blättre zurück, finde: nichts, ist das eine lyrische Finte? (Steck ich in der Tinte?) Will Autor mich auf Reimspur locken? Geht das nicht: ›Gedichte ro­cken‹? Kann auch als Leser ich mich verzocken?

Ich laß das mal, um Gottes Himmels willen, dahingestellt sein (einmal muß es vorbei sein), werd jetzt, überhitzt, auf Wiedersehn rufend, einfach ein bißchen chillen gehn – in Maximilian Zanders Lichtspieltheater (Sperrsitz zwischen Jim Carrey und Morgan Freeman):

Nur ein bißchen Kino
 
Die meisten Esser lassen ihren Nachtisch stehen.
Die älteren Männer sehen entschlossen aus,
aber nicht zu­versichtlich.
Die Hände der Frauen streichen jetzt ständig
über Kinder­scheitel. Plötzlich gibt es
mehr Kin­derscheitel in der Stadt als je zuvor.
Die Physiker rechnen mit allem.
Kommissionen werden gebildet.
(Wo kommen die Schlangen her?)
Komisch, es gibt keine Staus.
 
Man ist auf Vermutungen angewiesen.
 
Bei­spiel: Gruppen von Achtklässlern,
ausgerüstet mit nanobots,
klingeln an Haustüren;
danach sind alle Ab­falltonnen voll;
vieles sieht seltsam aus. Indizien.
 
Ja, hätte man rechtzeitig die privatrechtlichen …
und die share holder … singt der Chorführer.
Zu spät, antwortet der Chor.
 
Jeder wird sich bei jedem einklin­ken,
Mensch und Maschine werden verschmelzen …*
 
Das ist das Mindeste –
 
Werden Sie ruhig ein bißchen wahnsinnig,
sagt der Doktor, nützen wird es nichts.
 

* Zitiert nach einem Interview (1999) mit Ray Kurzweil, Erfinder, Wissenschaftler und Unternehmer.

*

Axel Kutsch (Hg.), Versnetze_fünf. Deutschsprachige Lyrik der Ge­genwart von 213 Autoren, darun­ter Andreas Altmann ∙ Konstantin Ames ∙ Melanie Arzenheimer ∙ Michael Augustin ∙ Jürgen Becker ∙ Hans Bender ∙ Werner Bucher ∙ Sa­fiye Can ∙ Uwe Claus ∙ Crauss ∙ Klaus Peter Dencker ∙ Hugo Dittberner ∙ Jutta Dornheim ∙ Ul­rike Draesner ∙ Gabriele Eckart ∙ Hans Eichhorn ∙ Manfred Enzensperger ∙ Jolanda Fäh ∙ Marcell Feldberg ∙ Ingrid Fichtner ∙ Claudia Gabler ∙ Sylvia Geist ∙ Florian Günther ∙ Manfred Peter Hein ∙ Franz Hodjak ∙ Michael Hüttenberger ∙ Gerhard Jaschke ∙ Christine Kappe ∙ Ilse Kilic ∙ Korne­lia Koepsell ∙ Günter Kunert ∙ Monika Littau ∙ Friedhelm Lövenich ∙ Marie T. Martin ∙ Virgilio Masciadri ∙ Friederike Mayröcker ∙ Erwin Messmer ∙ Jürgen Nendza ∙ Andreas Noga ∙ Hans Nogaj ∙ Irmhild Oberthür ∙ Markus Peters ∙ Silke Peters ∙ Kai Pohl ∙ Arne Rautenberg ∙ Bertram Reinecke ∙ Walle Sayer ∙ Vera Schindler-Wunderlich ∙ Nathalie Schmid ∙ Ralf Thenior ∙ Charlotte Ueckert ∙ Marianne Ullmann ∙ Beate Ünver ∙ Olaf Velte ∙ Mikael Vogel ∙ Jürgen Völkert-Marten ∙ Rainer Wedler ∙ A. J. Weigoni ∙ Fritz Widhalm ∙ Barbara Zeizinger ∙ Rosemarie Zens ∙ Annemarie Zornack, Vor­wort des Heraus­gebers, 352 Seiten, Broschur, Verlag Ralf Liebe, Wei­lerswist 2012.

 

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

* * *

Von Axel Kutsch edierte Lyrik-Anthologien1983 – 2012

1 ∙ Die frühen 80er. Lyrik und Prosa · 1983

2 ∙ Keine Zeit für Lyrik? · 1984.

3 ∙ Lebenszeichen 84. Lyrik · 1984.

4 ∙ Gegenwind. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren · 1985.

5 ∙ Ortsangaben. Lyrik · 1987.

6 ∙ Lyrik 87 · 1987.

7 ∙ Wortnetze I. Neue deutschsprachige Lyrik · mit Michael Rupprecht · 1988.

8 ∙ Wortnetze II. Neue deutschsprachige Lyrik · 1990.

9 ∙ Wortnetze III. Neue deutschsprachige Lyrik · 1991.

10 ∙ Zehn. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en · 1993.

11 ∙ Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre · 1994.

12 ∙ Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Mondlyrik vom Barock bis zur Gegenwart · 1995.

13 ∙ Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1996.

14 ∙ Orte. Ansichten. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1997.

15 ∙ Das große Buch der kleinen Gedichte. Deutschsprachige Kurzlyrik der Gegenwart · 1998.

16 ∙ Reißt die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Revolution von 1848 · 1998.

17 ∙ Der parodierte Goethe. Neue Texte zu alten Gedichten · 1999.

18 ∙ Unterwegs ins Offene. Erste Gedichte aus einem neuen Jahrtausend · mit Anton G. Leitner · 2000.

19 ∙ Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus 1100 Jahren · 2001.

20 ∙ Städte. Verse. Deutschsprachige Großstadtlyrik der Gegenwart · 2002.

21 ∙ Zeit. Wort. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2003.

22 ∙ Lunas kleine Weltrunde. Das Mondkarussell der Poesie · 2003.

23 ∙ Spurensicherung. Justiz- und Kriminalgedichte · mit Amir Shaheen · 2005.

24 ∙ 47 & 11. Echt kölnisch Lyrik · 2006.

25 ∙ Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik · 2008.

26 ∙ An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes · 2009.

27 ∙ Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2009.

28 ∙ Versnetze_drei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2010.

29 · Versnetze_vier. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2011.

30 · Versnetze_fünf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2012.