Kulturnotizen 2012 • Ich erinnere mich

bunte Punkte

Arno Kappe • Punkte

Ich erinnere mich an ein Interview mit dem Lichtkünstler Mischa Kuball, der eine geschlossene Synagoge von innen mit einem starken Licht illuminierte; so verwies er auf die Betrachter, die nicht hineinkamen und ausgeschlossen blieben, wie die Juden im 3. Reich – ein einfaches Prinzip und eine große Wirkung.

Ich erinnere mich an einen Aufsatz von Maximilian Zander über den Unterschied zwischen literarischen und wissenschaftlichen Fachzeitschriften, in dem der Satz vorkommt: Der Bruder fällt die Treppe herunter, die Zeitschrift verschwindet.

Ich erinnere mich an ein S/W-Foto in einem Beitrag von A.J. Weigoni über das Neue Hörspiel in den 60ern. Friedrike Mayröcker und Ernst Jandl sitzen dort beim Licht einer Schreibtischlampe aus den 50ern, und der dunkle, volle Bob der Mayröcker korrespondiert wunderbar mit dem schwarzen Lampenschirm.

Ich erinnere mich, wie Theo Breuer Zettels Traum von Arno Schmidt vorstellt, zwei Absätze beginnen mit ›obwohl‹, und ich bin aufs Neue begeistert, dass wir den ersten Sohn Arno genannt haben.

Ich erinnere mich, wie Herr Nipp von Haimo Hieronymus immer wieder durch das Tragwerk der Kulturnotizen wankt, mal wird er von einem Hirsch ignoriert … der einen roten Schriftzug betrachtet, mal beobachtet er eine Fliege, die in seiner Suppe das ›Seepferdchen‹ macht.

Das erinnt mich wiederum an Ilya Kabakov, der Fliegen studierte und malte und installierte, und an sein gleichnamiges Buch, in dem drei Freunde abends auf der Terasse über die Darstellung einer Fliege philosophieren.

Ich erinnere mich an Bilder von Birgit Jensen, die der Betrachter nur aus der Ferne erkennen kann. Es sind Sehenswürdigkeiten, Ansichten, die man kennt, aber hier nicht er-kennt, denn beim Herangehen lösen sie sich in verschieden dicke Pixel auf. Da ich als Rezipientin am Schreibtisch nah vorm Bildschirm sitze, muss ich aufstehen und weiter weggehen … aber mein Büro ist nicht groß genug, ich stoße an den völlig überladenen Schrank meiner Urgroßeltern, der bedenklich zu wackeln anfängt.

Ich erinnere mich an einen bissigen Beitrag von Matthias Hagedorn, der die Gemüter entzweite, dessen Kern aber soviel Wahres enthielt, dass ich sagte: »Ja, richtig, Schriftsteller sein bedeutet nicht nur zu schreiben, sondern auch die Welt poetisch wahrzunehmen.« Auch dafür sollte man einmal einen Preis verliehen bekommen.

Ich erinnere mich an die Serie Meine erste Schallplatte, in der Mischa Kuball die David-Bowie-Scheibe, die meine zweite Schallplatte war, vor sein Gesicht hält und dadurch den Kopf von David Bowie bekommt.

Ich erinnere mich an einen ungeschriebenen Beitrag zu Thomas Dillmann, in dessen Bildern eine knisternde Leere herrscht, die ganze Romane füllen könnte. In diesen fotorealistischen Bildern gibt es keine Menschen, keine Tiere, keine Fahrzeuge, keine Bewegung, nur eine Ruhe, die mich magisch anzieht, ich möchte am liebsten hineinspazieren in diese Bilder, die bei genauerer Betrachtung Fragen aufwerfen, Geheimnisse bergen.

Ich erinnere mich an einen Artikel zu Jessica Dahlke, die über die Frage: »Müssen alle Autoren bloggen?« schrieb. Und ich erinnere mich, als das Wort ›bloggen‹ gerade aufkam, wie unsymphatisch ich das fand: Es klang nach einem immer größer werdenden Haufen zusammengepressten Schrotts, eine Amerikanisierung des Wortes Block.

Ich erinnere mich an einen Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL, in dem es um Zustände, Zufälle, Zukünfte der heutigen Gesellschaft geht, und immer auch um das Schreiben von Gedichten; ich erklimme den als ein Beispiel genannten Berg Tian Shan und sehe ein Stückchen mehr von dieser Welt, ein Stückchen tiefer.

Ich erinnere mich an Theo Breuers Essay über Fritz Widhalm: Als TB dessen Buch EIN BUCH las, musste er seine Frau im eigenen Haus anrufen, um ihr eine Passage vorzulesen, laut vorzulesen, und gleichzeitig wird der Leser dieses Essays aufgefordert, diese Stelle laut zu lesen, was er zu 99% nicht tut, und jetzt, nach dem Lesen, ist es zu spät, die Wirkung, etwas zum ersten Mal zu lesen und zwar laut, wird nie mehr eintreten … Ich dachte noch lange darüber nach, über die Geschwindigkeit des Lesens, über Erfahrungen, die man durch das Lesen macht, über die Erinnerung und die Druchdringung von Lesen und Leben.

Nicht zuletzt erinnere ich mich an die Lektüre von Joe Brainards I remember.

In diesem Sinne erinnere ich mich also an ein Jahr Kulturnotizen und werde 2013 munter weiterlesen.

 

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.