88 · ∞ Magische Blätter ∞ Bücher ∞ Blitze ∞
Ich habe gelesen, gelesen, gelesen, Friederike Mayröckeraktuell, nämlich, im Zusammenhang mit der Niederschrift/Montage dieses Essays, den ich während des Schreibens, naturgemäß, in fortlaufender Wechselbeziehung zum von mir im Spätsommer 2010 verfaßten Essay »ich bin 1 Bettlerin des Wortes. Notizen zu Friederike Mayröckers Werk nach 2000« erlebe, habe ich die Bücher Das Herzzerreißende der Dinge · Das Licht in der Landschaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Abschiede · Die kommunizierenden Gefäße · ich sitze nur GRAUSAM da · Letzte Dinge · Liebesgedichte · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Von den Umarmungen · Zittergaul gelesen; in dieser Zeit – Januar/Februar/März 2012 – liegen alle von mir gelesenen Bücher Friederike Mayröckers verstreut auf zwei Tischen hier und dort, harrend, hoffend, er/wartend, in die Hand, also ernst genommen, erinnert, also: vergegenwärtigt zu werden, ich nehme die Hände von Maus und Tastatur, stehe auf, gehe hinüber zu dem Tisch im Prosazimmer, schließe die Augen, greife eins der Bücher heraus, es ist Magische Blätter von 1983, schlage, wiederum ohne hinzusehen, irgendeine Seite auf (neuerlich meint der Zufallgott es gut mit mir), und ich lese ›with eyes wide as saucers‹: Ein Schreibender, der auch liest, und lesen ist eine Bedingung für das Schreiben, wird in der Lektüre auf manches stoßen, das Bezüge zur eigenen Person, zur eigenen Arbeit herstellt; und einer, der exzerpierend liest, wird auf Schritt und Tritt auf Textstellen treffen, die seine eigene Arbeit bestätigen, beleben, ausrichten, aber auch in Frage stellen oder stören können, ich klettre / klimme / steige / weiter (wieder) / abgrundtief und grenzenlos / (ad infinitum) / in die famose · formidable · Sprossenwand hinein / und so in die Wörter von
- ich sitze nur GRAUSAM da (2012)
- Von den Umarmungen (2012)
- vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumannwahnsinn (2011)
- ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk (2010)
- dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gedichte 2004 – 2009 (2009)
- Scardanelli (2009)
- Paloma (2008)
- Letzte Dinge (2008)
- Magische Blätter VI (2007)
- Liebesgedichte (2006)
- Und ich schüttelte einen Liebling (2005)
- Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003 (2004)
- Die kommunizierenden Gefäße (2003)
- Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001 (2003)
- Requiem für Ernst Jandl (2001)
- Magische Blätter I – V (2001)
- brütt oder Die seufzenden Gärten (1998)
- das zu Sehende, das zu Hörende (1997)
- Notizen auf einem Kamel · Gedichte 1991 – 1996 (1996)
- Das besessene Alter · Gedichte 1986 – 1991 (1992)
- Zittergaul (1989)
- mein Herz, mein Zimmer, mein Name (1988)
- Die Abschiede (1987)
- Winterglück · Gedichte 1981 – 1985 (1986)
- Das Herzzerreißende der Dinge (1985)
- Reise durch die Nacht (1984)
- Magische Blätter (1983)
- Das Licht in der Landschaft (1975)
- In langsamen Blitzen (1974)
- Blaue Erleuchtungen · Erste Gedichte (1973)
und denk, dermaßen beseelt, indes ich hauchartig durch diese Buchstabenwelt hindurchgehe: In diesen ersten 88 Tagen des Jahres 2012, träume von Fleisch dieser Prosa / Fleisch des Gedichts, überglänzen die Wörter – »the vulgar and the refined« (Walt Whitman) – der Friederike Mayröcker, Flocken der Syntax, einfach alles, was ich ansonsten noch an Wörtern lese (nicht gerade wenige, alles andere als ›stumpf‹ – und trotzdem), und wer sich nicht ernsthaft, sag ich zu Kraus (kann’s wieder mal nicht lassen), mit diesen Wörtern auseinandersetzt, befaßt, beschäftigt, viel besser: Wer Mayröckers Bücher nicht liest, gönn dir doch dieses Winterglück in diesen Tagen (»I am speaking about sensibility only« · Susan Sontag), weiß wenig über das Großartige in der Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum nach 2000, ich stelle einmal die minimale Rechnung auf: Lies wenigstens ein FM-Gedichtbuch (unbedingt: dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif), wenigstens ein FM-Prosabuch (beispielsweise Das Herzzerreißende der Dinge), wenigstens ein FM-Magische-Blätter-Buch (Magische Blätter I, III, VI, da beißt die Maus keinen Faden ab), anschließend können wir gern über die Bücher der Mayröcker zu sprechen, nicht: reden, nein: sprechen, du weißt selbst, es gibt nicht wenige, die reden über Autoren/Bücher, als hätten sie sie gelesen, »werch ein illtum«, und Franz Kafka war Versicherungsjurist bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung, hat nachts sein Leben gelebt, geschrieben, geschrieben, geschrieben, und in den paar Jahren, die er hatte, aber im Grunde wollte ich immer weiterschreiben, in Ewigkeit weiterschreiben, ein Werk verfaßt, das mich beim Lesen (und desgleichen beim bloßen Denken daran) ex aequo hochkurbelt wie das von Friederike Mayröcker, ach wohlgefälliges Chaos, und als ich in Prag (in Wien war ich noch nie …) im Goldenen Gäßchen vor Kafkas Häuschen stehe, wird mir auf einmal ganz anders (›wie jetzt‹: ›anders‹?), ich sage, unvermittelt, ohne mir deutlich bewußt zu sein, warum, zu Bensch, der mich begleitet, warum: Leben · Lesen · Schreiben · Schreien · Kampf · Kampf · Krampf, um immer wieder Gipfel zu erstürmen?, erzähle ihm, off the cuff, die Kleine Fabel: »Ach, sagte die Maus, die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. – Du mußt nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze und fraß sie«, und denk bei nächtlichem Gewitterschnee (in Sekundenfolge einander jagende Blitze), auf der Reise durch die Nacht, ganz un/vermittelt?, an Mückenschwärme im Herbst, in die ich im Garten · beim Grasenmähen · unter Walnuß- und Vogelbeerbäumen · gerase, die Gräser auf ihren pelzigen Pfaden, der Kopf umflügelt von Mücken, »pass through grass« (James Joyce), denk jetzt einfach, brütt, ja, ja, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht. Der alterswilde Wassertanz geht weiter · 1 pas de deux erwache auf feuchtem Kopfkissen
Der 8teilige Essay Überschwemmt, die Lust am Taumel ist im Juni 2012 in der 28. Ausgabe der Zeitschrift für Literatur und Kunst Matrix erschienen.
Die in den Text eingefügten Bilder stammen von Silke Markefka (München) und sind ebenfalls in Matrix 28 zu finden.
Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker · mit Aufzeichnungen, Bildern, Briefen, Gedichten, Gesprächen, Essays, lyrischer Prosa und anderen Beiträgen von Ilse Aichinger ∙ Dato Barbakadse ∙ Maja-Maria Becker ∙ Hans Bender ∙ Theo Breuer ∙ Andrea Brincker ∙ Peter Clar ∙ Crauss. ∙ Michael Donhauser ∙ Richard Dove ∙ Jutta Dornheim ∙ Ulrike Draesner ∙ Elke Erb ∙ Susanne Eules ∙ Christel Fallenstein ∙ Matthias Fallenstein ∙ Marcell Feldberg ∙ Ingrid Fichtner ∙ Johannes CS Frank ∙ Zsuzsanna Gahse ∙ Chana Galvagni ∙ Andrea Grill ∙ Karl-Friedrich Hacker ∙ Bernadette Haller ∙ Michael Hammerschmid ∙ Bodo Hell ∙ Friedrich Hölderlin ∙ Semier Insayif ∙ Gerhard Jaschke ∙ Katharina Kaps ∙ Udo Kawasser ∙ Odile Kennel ∙ Marie-Thérèse Kerschbaumer ∙ Ilse Kilic ∙ Claudia Klučarić ∙ Sirkka Knuuttila ∙ Simone Kornappel ∙ Axel Kutsch ∙ Augusta Laar ∙ Alma Larsen ∙ Aurélie Le Née ∙ Michael Lentz ∙ Swantje Lichtenstein ∙ Silke Markefka ∙ Friederike Mayröcker ∙ Novalis ∙ José F. A. Oliver ∙ Elisabeth Pein ∙ Kevin Perryman ∙ Peter Pessl ∙ Judith Nika Pfeifer ∙ Marion Poschmann ∙ Andreas Quirinus-Born ∙ Ilma Rakusa ∙ Sophie Reyer ∙ Francisca Ricinski ∙ Elisabeth von Samsonow ∙ Julia Schiff ∙ Matthias Schmidt ∙ Norbert Schneider ∙ Vroni Schwegler ∙ Jan Skudlarek ∙ Marion Steinfellner ∙ Ginka Steinwachs ∙ Marlene Streeruwitz ∙ Ulrich Tarlatt ∙ Yoko Tawada ∙ Liesl Ujvary ∙ Anja Utler ∙ Anatol Vitouch ∙ Mikael Vogel ∙ Nikolai Vogel ∙ Jürgen Völkert-Marten ∙ Linde Waber ∙ Peter Weibel ∙ A. J. Weigoni ∙ Fritz Widhalm ∙ Herbert J. Wimmer ∙ Gisela von Wysocki ∙ Berto Xenien-Heuer ∙ Barbara Yurtdas ∙ Christiane Zintzen
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.